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Neuvorstellung zur Übersicht
07.07.2005
Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie
Luhmann Einführung Systemtheorie Hrsg. von Dirk Baecker

Carl-Auer Verlag Heidelberg

347 Seiten, 9 Abb., Kt, 2. Aufl. 2004

ISBN 3-89670-459-1

€ 24.90 / sFr 44.00
Carl-Auer-Verlag





Joachim Hinsch, Wien:

Kurt Ludewig (1992) hat wohl damit angefangen, Bökmann (2000) in seinem hoffentlich mal Klassiker über Psychosomatik, Simon (z.B. 1995), Levold (z.B. 2001), Retzer (z.B. 2004), Clement (2004)  und sehr viele andere haben es fortgesetzt, Luhmann für die Systemische Therapie nutzbar zu machen. Luhmann stand dieser Idee immer skeptisch gegenüber.
Die „Entdeckung“ Luhmanns hat die Systemische Therapie trotzdem in einem Ausmaß verändert, dass es heute kaum noch vorstellbar erscheint, die moderne Systemtheorie in der Formulierung Luhmanns aus unserem Handeln und Denken wegzudenken. Aber: gelesen wurde er (wenn gelesen wurde) nicht. Wir hatten ja Ludewig und Co, Luhmann schien zu kompliziert. Manchmal wagte man sich (ich mich) an einen Aufsatz heran, passte aber bald, das Grundlagen-Denken doch anderen überlassend. Einen Text zu lesen, der über andere Luhmann-Texte näher erklärt wird, die wiederum erst durch diesen Text verstehbar werden, dass er also voraussetzt, dass man nicht nur diesen Text, sondern auch andere Texte bereits verstanden hat, bevor man diesen liest, lässt an die Selbstreferenzialität glauben, aber gleichzeitig sein Heil in der Flucht suchen.
So etwas kommt auch im vorliegenden Buch vor („Ich gehe davon aus, dass ein System die Differenz „ist“, die Differenz zwischen System und Umwelt“) und ist ja auch gar nicht vermeidbar, wenn man mal ahnt, was Selbstreferenzialität ist. Er lässt aber erkennen, dass er weiß, was er der Zuhörerin und dem Zuhörer zumutet und verspricht Klarheit für später („Das System kommt in den Formulierungen zweimal vor. Das ist eine Merkwürdigkeit, auf die ich auf Umwegen wieder zurückkommen will.“). Es ist aber schade, einen Vordenker nur in der Aufbereitung zu kennen. Das erlaube ich mir immer noch mit Spencer Brown und leider auch vielen anderen, aber mit Luhmann?
Und dann kam dieses Buch: Vorlesungen. Um es vorweg zu sagen: Seine Studenten waren schon verdammt gut, den Text beim Hören zu verstehen, ohne ihn also schriftlich vor sich zu haben und noch mal nachzulesen. Wenn man den Vortrag nur hört, wäre es sicherlich ziemlich günstig, sich schon in dem auszukennen, was er vorträgt. Aber Luhmann ist in diesem Buch ein glänzender Erzähler höchst komplizierter Theorien. Leicht glaubt man, alles zu verstehen, weiß dann aber doch nichts. Im Buch kann ich es aber auch zwei Mal  oder öfter lesen, mich über seine Formulierungen erfreuen, und dem Gefühl des Verstehens näher kommen. Das macht bei dieser Art des Erzählens Spaß. Wenn man Lust auf Luhmann hat, braucht man sich also vor den Schwierigkeiten dieser Vorlesung in Buchform nicht zu fürchten.
Dirk Baecker hat  das Transkript der Vorlesung aus dem Wintersemester 1991/92 herausgegeben und unterscheidet im Vorwort: „Ich bin ziemlich sicher, dass Luhmann nie auf die Idee gekommen wäre, die Transkription einer seiner Vorlesungen zu veröffentlichen. Zu unfertig und zu unsicher wären ihm viele Darstellungen gewesen.“ ....Aber „ Luhmann zeichnet auch für dieses Buch als Autor verantwortlich. Immerhin hat er die hier transkribierte Vorlesung gehalten. Der Herausgeber hat jedoch zu verantworten, dass dies ein Buch ist, das Luhmann selbst nicht publiziert hätte.“ 
Das Buch nennt sich Einführung und ist eine Einführung, weil er seine Systemtheorie nicht nur erklärt, sondern auch erklärt, was ihn bewogen hat, diese seine Schritte zu machen, Unterscheidungen zu anderen Systemtheoretikern – er befasst sich zum Beispiel sehr ausführlich mit Parsons - einzuführen. Aus anderen Büchern kennt man oft dieses langweilige Zitieren anderer Autoren, bis es endlich losgeht, das ist hier aber anders, weil Luhmann immer sich als Beobachter von Theorien explizit einbringt: Offene Systeme, Zusammenhang mit Entropie, Input-Output Modell, Black Box, kommt dann zur Kybernetik und schließlich zu der Frage, wie die Differenz zwischen System und Umwelt zustande kommt, zum „System als Differenz“. Dieses Beobachten ist nicht nur ein wichtiges Thema, sondern zieht sich auch durch die ganze Vorlesungsreihe, wenn er Begriffe  immer wieder auf  ihren Ursprung  untersucht und den jeweiligen Versuch, damit eine Bezeichnung für etwas zu finden, analysiert und hinterfragt (Zum Beispiel: das Recht könnte man als „Konditionalprogramm“ bezeichnen, „da es auf bestimmte Inputs hin bestimmte Entscheidungen fabriziert. ...Nun hat sich in einer genaueren Analyse gezeigt, dass in das Recht zunehmend auch Zweckorientierungen eindringen, das heißt, das Recht ... überlegt immer auch, was die Folgen sein werden...“)  Dabei betrachtet er immer  wieder die Voraussetzung aus der Zeit und das Verständnis des jeweiligen Autors, um dann seine Überlegungen zu seinem Verwenden des Begriffs und seinen Begriffen einzubringen.
Bei seiner (teilweise humorvollen und enorm respektvollen) Beschäftigung mit George Spencer Brown ist er dann ganz bei seiner Theorie und dem beobachtenden System als Mittelpunkt des Universums und entführt den Leser in alle die Begriffe und Denkorganisationen, die so viele von uns so verändert haben.

Bökmann, MBF (2000), Systemtheoretische Grundlagen der Psychosomatik und Psychotherapie, Springer, Berlin
Clement U, 2004, Systemische Sexualtherapie, Klett-Cotta, Stuttgart
Levold Tom (2001) Macht und Machtspiele aus systemischer Sicht, Systeme Jg. 15, Heft 2/01                                                                                                         
Ludewig, K(1992): Systemische Therapie, Grundlagen klinischer Theorie und Praxis, Klett-Cotta, Stuttgart
Retzer, A  (2004) 2004 Systemische Paartherapie, Klett-Cotta, Stuttgart
Simon, FB (1995) 1995: Die andere Seite der Gesundheit, Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie, Carl Auer, Heidelberg


Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:

Man muss sich das vorstellen: wie Luhmann, nur gestützt auf eine Reihe von Stichworten und Zettel mit Zitaten, in überwiegend freier Rede das Auditorium in seine Überlegungen zur Systemtheorie nicht nur einführt, sondern vermutlich geradezu fesselt. Es gibt davon auch Hörcassetten, aber auch der verschriftlichte Text strotzt geradezu vor Witz, Souveränität und einer Unbändigkeit an Wissensdurst und Denklust, dass es einen mitreißt. Der Herausgeber, Dirk Baecker, geht davon aus, dass Luhmann selbst wohl kaum auf die Idee gekommen wäre, Transskripte seiner Vorlesungen (hier aus dem Wintersemester 1991/92) in Druck zu geben und in der Tat unterscheidet sich diese Einführung deutlich von eigens für den Druck geschriebenen Texten, wie etwa „Soziale Systeme“, in denen sich die zentralen Überlegungen trockener lesen, ausführlicher, verknüpfter. Aber das ist natürlich relativ. Was sich Luhmann hier an Witz und Alltagsbezügen erlaubt, und vor seinen ZuhörerInnen „andenkt“ („ich weiß noch nicht, wohin das führt“ oder „ich bin mir selbst nicht einmal so sicher, ob das letzten Endes überzeugt“ u.ä.), hat bereits einen Grad an Durchdachtheit, Querverbindung (man möchte fast sagen: zum „Weltwissen“) und Souveränität erreicht, den nicht viele erreichen. Man beneidet die, die es erleben durften. Im Kern geht es in dieser Vorlesung um die Ableitung und Fundierung eines Systembegriffs, der auf Differenz beruht: „Ein System „ist“ die Differenz zwischen System und Umwelt“ (S.66) und um die Konsequenzen, die sich anschließen. Und was es für das Weiterdenken bedeutet, wenn man diesen Ausgangspunkt wählt und nicht einen anderen. Vieles ist mittlerweile vertraut: die These der operativen Geschlossenheit von Systemen, Autopoiesis, strukturelle Koppelung, doppelte Kontingenz als Ausgangspunkt für Kommunikation, um nur einiges zu nennen. Das soll hier nur angedeutet und zur ebenso anregenden wie vergnüglichen Rekapitulation (aber insbesondere auch zum Einsteigen) empfohlen werden. Wohl wahr: jedermanns Sache ist das nicht und Luhmann zitiert selbst die Klage, „das sei fürchterlich abstrakt“. Und er sieht auch das Bedürfnis nach etwas, woran man sich sozusagen halten kann und seufzt: „Man kann es hundertmal sagen, es ist vergeblich“ (hier: „Der Beobachter ist nicht ohne weiteres ein psychisches System“ (S.147)). Aber er sagt auch: „Leben ist eine robuste Erfindung. Kommunikation ist eine außerordentlich robuste Operation - man kann immer noch etwas sagen, wenn man in Schwierigkeiten kommt“ (S.138). Luhmann als Berater in Lebensfragen? Auszuschließen ist das nicht, man darf sich nur nicht abschrecken lassen.

(mit freundlicher Genehmigung aus systhema")

Die Vorlesungen gibt es beim Carl-Auer-Verlag auch einzeln als Hörbucher zum Download. Eine Rezension der Hörfassung von Tom Levold gibt es hier.





Eine sehr ausführliche Besprechung von Margot Berghaus für IASL München inden Sie hier

Eine weitere Rezension von Oliver Jahraus für Medien-Observationen.de

Noch eine Besprechung von Lutz Hagestedt für literaturkritik.de





Verlagsinfo:

"Im Unterschied zu allen anderen Einführungen in die Systemtheorie führt hier der Urheber selbst in seine Theorie ein. Die Vorlesung zur Einführung in die Systemtheorie, die diesem Buch zugrunde liegt, zeigt Niklas Luhmann auf dem Höhepunkt seines souveränen Umgangs mit einer anspruchsvollen Theorie und der zu beschreibenden Gesellschaft.
Die Einführung wird ihrem Namen auch insofern gerecht, als es Luhmann darum ging, seinem studentischen Publikum ein eigenes Arbeiten mit dieser Theorie zu ermöglichen. Sie ist deshalb eine Fundgrube für einfache Ideen im Umgang mit schwierigen Fragen und bietet eine Palette von Konzepten und Theoremen, die es erlauben, Wahrnehmung, Beschreibung und Denken zu schulen  sowohl für die Beobachtung von Politik und Wirtschaft, Religion und Wissenschaft, Kunst und Erziehung, Familie und Organisation als auch für die Einschätzung aktueller Fragen der Kognitionsforschung, ökologischer Probleme und sozialer Bewegungen.
Das Buch klärt die wichtigsten Grundlagen der allgemeinen und der soziologischen Systemtheorie mithilfe präziser Begriffsvorschläge und einer Fülle von Beispielen. Darüber hinaus dokumentiert es, daß der Witz zu den wichtigsten Ressourcen ernsthafter Theoriearbeit gehört. Keiner von Luhmanns Texten ist so gut verständlich und nachvollziehbar wie dieser."

Niklas Luhmann:
Niklas Luhmann (1927-1998) zählt zu den bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts und überraschte immer wieder auch durch Stellungnahmen zu zeittypischen Phänomenen. Von 1968 bis 1992 hatte er den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Bielefeld inne.

Inhaltsverzeichnis:

I. Soziologie und Systemtheorie
1. Funktionalismus der Systemerhaltung
2. Parson

II. Allgemeine Systemtheorie
1. Theorie offener Systeme
2. Systeme als Differenz (Formanalyse)
3. Operative Geschlossenheit
4. Selbstorganisation, Autopoiese
5. Strukturelle Koppelung
6. Beobachten
7. Reentry
8. Komplexität
9. Idee der Rationalität

III. Zeit

IV. Sinn

V. Psychische und soziale Systeme
1. Probleme der "Handlungstheorie"
2. Zwei Operationsweisen der Autopoiesis

VI. Kommunikation als selbstbeobachtende Operation

VII. Doppelte Kontingenz, Struktur, Konflikt


Aus dem Vorwort:

„Eine Einführungsvorlesung zu halten bedeutete für Luhmann, wesentlich stärker als in seinem Buch den Umstand zu unterstreichen, das eine Theorie eine Konstruktionsleistung ist, die an vielen Stellen auf begriffliche Entscheidungen zurückzuführen ist, für die keine eindeutige. weder aus der Sache noch aus der Theorie abzuleitende, das heißt weder empirisch noch deduktive Maßgabe existiert. In der Vorlesung ging es Luhmann daher darum, an vielen Stellen, an denen er sich im Buch auf bestimmte Weise entschieden hatte, anders mögliche Entscheidungen zumindest offen zu halten, wenn nicht sogar nahe zu legen.…
Ich bin ziemlich sicher, dass Luhmann nie auf die Idee gekommen wäre, die Transkription einer seiner Vorlesungen zu veröffentlichen. Zu unsicher und zu unfertig wären ihm viele Darstellungen gewesen. Ich vermute jedoch, dass er sich nicht dagegen gewehrt hätte, diese Transkription als Arbeitsbuch und Materialsammlung herauszugeben.…
Meine Arbeit an dem Text beschränkt sich darauf, ihn einem im Schriftlichen üblichen Textduktus anzupassen. Man wird mithilfe des Textes, wenn man möchte, die auf den Tonbandkassetten dokumentierte Vorlesung mitlesen können, jedoch bemerken, dass ich Wörter umgestellt und manche im Mündlichen übliche Füllwörter wie ‚natürlich', ‚wirklich', ‚eigentlich', ‚überhaupt' oder ‚vor allen Dingen' ausgelassen habe“.

Das vollständige Vorwort von Dirk Baecker gibt es online hier zu lesen…

Christel Rech-Simon hat die Vorlesung in einer ersten Fassung transkribiert.



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