Carl-Auer-Verlag
Tom Levold, Köln
Schon vor Jahren erschienen im Carl-Auer-Verlag in der Reihe der
"Autobahn-Universität" die Vorlesungen von Niklas Luhmann zur
Einführung in die Systemtheorie" aus dem Wintersemester 1991/92 an der
Universität Bielefeld als Ton-Cassetten. Der technische Fortschritt hat
mittlerweile dieses Medium obsolet werden lassen und der Verlag bietet
nun die einzelnen Vorlesungen als Audio-Dateien im MP3-Format zum
Einzel-Download an. MP3 ist ein Kompressionsverfahren, mit Hilfe dessen
Audio-Dateien, die auf einer einer normalem CD erheblichen
Speicherplatz in Anspruch nehmen würden, auf ungefähr ein Zehntel des
Umfangs komprimiert werden können, ohne allzu große Einbußen in der
Tonqualität in Kauf nehmen zu müssen. Diese Dateien können auf jedem
marktgängigen MP3-Player abgespielt werden oder auf eine CD gebrannt
werden, auf der so alle Vorlesungen untergebracht werden können.
Mittlerweile ist auch eine von Dirk Baecker besorgte Schriftfassung der
Vorlesungen im Carl-Auer-Verlag erschienen, die sich sehr dicht am
meist frei gesprochenen Vortragstext orientiert (zur Rezension im systemagazin). Der Verlag bietet auf
diese Weise dankenswerterweise gleich zwei Möglichkeiten, Luhmann
gewissermaßen „live“ zu erleben. Lesen und Hören sind dabei nicht
einfach austauschbar.
Ich habe mir das Vergnügen gegönnt, das Buch zu
lesen und dabei parallel die Audio-Dateien zu hören. Das fiel mir nicht
immer leicht, da mein normales Leseverhalten sich nicht ohne Weiteres
der sequentiellen Abfolge des Textes unterwirft. Ich springe vor und
zurück, erfasse Sätze eher blockweise, halte inne, schweife ab,
streiche an usw., das alles in einer recht hohen Geschwindigkeit, kurz:
ich mache etwas mit dem Text, selektiere, konstruiere ihn gewissermaßen
in mein Vorverständnis hinein und mache ihn insofern zumindest
teilweise zu meinem eigenen Text. Das Hören bremst und diszipliniert
dagegen den Gedankenfluss, stellt von Gestalt-Wahrnehmung auf Sequenzialität
um, ohne dass man immer schon wissen kann, worauf die Argumentation
hinausläuft. Das Abschweifen der Gedanken wird schnell „bestraft“, weil
man nicht mehr ohne Weiteres zum Ausgangspunkt zurückfindet und u.U.
Sequenzbrüche hinnehmen muss. Allerdings gewinnt das gleichzeitige
Hören dem Leseerlebnis auch neue Akzentuierungen ab. Der Autor tritt
hinter dem Text hervor und wird als Person präsent. Die Prosodie seines
mündlichen Vortrages verschafft mir immer wieder andere „Lesarten“ des
Textes, markiert, was für ihn wichtig, zentral oder peripher ist und
ermöglicht mir auf diese Weise, mich beim Lesen und bei meiner eigenen
Rekonstruktion des Textes zu beobachten.
Ganz abgesehen davon ist es natürlich eine ganz eigene Erfahrung,
Luhmann zuzuhören. Seine öffentliche Vorträge auf systemischen Tagungen
und Kongressen galten vielen als schwierig und komplex, mit hohen
Konzentrationserfordernissen. Bei den vorliegenden Hörbüchern geht es allerdings um eine
Einführung in die Systemtheorie. Die Vorlesungen sind viel weniger
verdichtet, meist auch doppelt so lang wie manche Vorträge auf früheren
Tagungen und Kongressen. Man fühlt sich als Zuhörer einbezogen und kann
gut folgen, spürt auch den Witz und die Ironie, die kennzeichnend für
Luhmanns Vortragsstil gewesen sind.
Faszinierend ist dabei seine Stimme. Eine hohe, wenig männliche Stimme,
distanziert und distinguiert, die ihre Lüneburger Herkunft nicht
verleugnet, aber dennoch seltsam körperlos klingt. Sie reißt nicht mit,
schmeichelt nicht, deklamiert und verführt nicht. Dennoch zieht sie in
Bann. Sie ist nicht sexy, hat aber im übertragenen Sinne durchaus
erotische Anklänge. Sie vermittelt sowohl eine außerordentliche
Raffinesse als auch eine gewisse Amüsiertheit des entfernten
Beobachters. Dabei steht sie ausschließlich im Dienst des vorgebrachten
Argumentes und seiner Verfeinerung im Moment des Vortrages und bedient
keine fremden Zwecke. Luhmann spricht höchst konzentriert und benutzt
wenig Füllwörter, die entstehenden Pausen schaffen eine Spannung, die
die Aufmerksamkeit nur noch stärker an den Gedankengang binden.
Zweifellos muss man sich in die Vorträge einhören, je mehr man sich
darauf einlässt, desto größer ist der intellektuelle und ästhetische
Gewinn für das Verständnis seines Werkes.
Die Vorlesungen sind in der Regel zwischen 70 und 95 Minuten lang und
können jeweils für 5,00 € von der Website des Carl-Auer-Verlages
heruntergeladen werden. Speziell für das Luhmann-Special im
systemagazin hat der Verlag Ausschnitte aus den Vorlesungen als
Hörproben zur Verfügung gestellt. Es sind jeweils die Anfänge der
Vorlesungen 1,2,3,7 und 9 zu den Themen “Soziologie und Systemtheorie”,
“Parsons”, “Theorie offener Systeme”, “Beobachten” und “Zeit”.
Wer ausprobieren möchte, Luhmann gleichzeitig zu hören und zu lesen,
kann zur ersten Audio-Datei den entsprechenden Textausschnitt aus dem
ersten Kapitel des Buches hier lesen:
Auszug aus Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, 1. Vorlesung: Soziologie und Systemtheorie
„Meine Damen und Herren, die Vorlesung Einführung in die Systemtheorie,
mit der ich heute beginne, wird an einer soziologischen Fakultät
gehalten und ist in erster Linie an ein soziologisches Publikum
adressiert. Die Frage, die wir gleich anfangs ins Auge fassen müssen,
ist jedoch, ob es so etwas wie Systemtheorie auf dem aktuellen Stand
der Forschung in der Soziologie heute überhaupt gibt. Die Soziologie
steckt in einer tiefen Theoriekrise, das kann man, glaube ich, ohne
viele Vorbehalte sagen. Wenn man Veranstaltungen über Theoriefragen in
der Soziologie besucht oder entsprechende Literatur liest, findet man
dominierend einen Rückgriff auf Klassiker, also Diskussionen über Max
Weber, Karl Marx, Georg Simmel oder Èmile Durkheim. Die heutigen
Soziologen sind durchaus nicht unkritisch gegenüber ihren klassischen
Grundlagen, aber es herrscht doch die Vorstellung vor, dass die
Konturen des Faches durch diesen klassischen Anfang bestimmt sind. Es
gibt einige middle-range-Theorien, die darüber hinausreichen und die
aus der empirischen Forschung entstanden sind, aber es gibt eigentlich
keine theoretische Beschreibung der Probleme, vor denen sich die
moderne Gesellschaft heute findet. Das gilt zum Beispiel für
Ökologiefragen. Das gilt für Probleme mit den Einzelmenschen, den
Individuen. Das gilt für den ganzen Bereich zunehmender
Therapiebedürftigkeit und vieles andere mehr.
Die eigentlich faszinierenden intellektuellen Entwicklungen finden
heute außerhalb des Faches der Soziologie statt. Das ist jedenfalls der
Eindruck, von dem ich ausgehe. Ich möchte daher zunächst einmal in
einem kurzen ersten Teil versuchen zu zeigen, wie man in der Soziologie
bisher mit systemtheoretischen Orientierungen gearbeitet hat und wie,
in welchen Formen man dabei auf Grenzen, auf Sackgassen, auf
prinzipielle Theoriekritik gestoßen ist und dann nicht weitergemacht
hat.
Darauf wird ein relativ umfangreicher Teil folgen, in dem ich versuchen
will, interdisziplinäre oder transdisziplinäre Theorieanstrengungen
durchzusehen, um herauszubekommen und vorzuführen, was daran
möglicherweise für die Soziologie interessant ist. In den
abschließenden Überlegungen werde ich versuchen, aus diesen
Theorieüberlegungen - das können mathematische, psychologische,
biologische, epistemologische, kybernetische und so weiter Quellen sein
- für die Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung Schlüsse zu
ziehen.
Die Vorlesung wird in relativ abstrakten Theoriekonzepten enden, die im
soziologischen Alltagsbetrieb erst noch auf ein forschungsfähiges
Format zugeschnitten werden müssen. Das betrifft Begriffe wie Zeit,
Sinn, Handlung, System, doppelte Kontingenz, Struktur und so weiter.“
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