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28.05.2012
Martin Rufer: Erfasse komplex, handle einfach. Systemische Psychotherapie als Praxis der Selbstorganisation – ein Lernbuch
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Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012
271 Seiten, brosch.
Preis: 24,95 €
ISBN-10: 3525401795
ISBN-13: 978-3525401798 |
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Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
Andreas Manteufel, Bonn:
Aus der Schweizer Hauptstadt kommt ein Therapiebuch der besten Sorte! Anschauliche, pointierte Transkriptausschnitte aus Therapiegesprächen (Einzel- oder Familiensetting) gewähren uns Einblicke in die Arbeit eines systemischen Therapeuten in freier Praxis. Die Schilderungen sind lebendig und spannend. Unterbrochen und abgeschlossen werden sie durch Kontexterläuterungen, Begründungen des therapeutischen Vorgehens und theoriegeleitete Reflektionen darüber, was an ihnen „systemisch“ ist.
Den systemwissenschaftlichen Bezugspunkt findet Rufer in den Arbeiten von Günter Schiepek, der wie kein anderer die Synergetik in die Psychologie und Psychotherapie hereingeholt hat. Ausgehend von der Theorie der Selbstorganisation formuliert Schiepek in seinen neueren Arbeiten acht „generische Prinzipien“, nämlich: „1) Herstellen von Stabilitätsbedingungen, 2) Erkennen von Mustern des relevanten Systems, 3) Sinnbezug, 4) Kontrollparameter identifizieren und Energetisierungen ermöglichen, 5) Destabilisierung, Erkennen und Gestalten von Phasen der Instabilität, 6) Kairos – Passung mit psychischen und sozialen Prozessen in der Zeit, 7) Zielorientierung – Symmetriebrechung ermöglichen, 8) Restabilisierung – Etablieren neuer Strukturelemente“ (S. 37f). Natürlich sind diese generischen Prinzipien erklärungsbedürftig, und so führt uns Rufer im ersten Teil des Buches zunächst in verständlicher Sprache durch diese Begriffe aus der Welt der Selbstorganisationstheorie. Gemeint sind damit keineswegs Interventionstechniken, Heuristiken, oder irgendwelche therapeutischen Ratschläge. In der Metaphorik Rufers helfen diese Prinzipien „dem Therapeuten nicht nur bei der Fallkonzeption, sondern in der Gestaltung therapeutischer Prozesse den richtigen Ton und den passenden Rhythmus zu finden.“ (S. 35). Sie beschreiben eine Art der Wahlverwandtschaft zwischen therapeutischen Entscheidungen und der Annahme, dass ein therapeutischer Prozess den Regeln selbstorganisierender Systeme folgt. Das Modell der Selbstorganisation ist für Therapeuten insofern bestechend, als es dabei um die Bildung, Aufrechterhaltung und Veränderung von Mustern, und vor allem um die Feinanalyse der besonders kritischen Übergangsphasen bei einer relevanten Veränderung im System geht. Als therapeutische Haltung folgt aus all dem nicht, seine Instrumente noch schärfer zu spitzen oder gar aus zu wechseln. Es geht eher um eine gleichzeitig enge („dran sein“) und distanzierte (Beobachterblick) Heranführung eines therapeutischen Prozesses an die Möglichkeit einer sinnvollen Veränderung. Für die Klienten wirkt der Therapeut dann am ehesten wie ein wohlwollender Begleiter, der in seinem Engagement „nicht locker“ lässt, sehr wohl aber in seinem Drang zu intervenieren, der auch „mal lassen“ und sich zurücknehmen kann, und zum richtigen Zeitpunkt da ist, um alles zu verstärken, was eine gute Veränderung wahrscheinlicher macht. Genau diesen Eindruck gewinnt man von Rufer bei der Lektüre der Fallbeispiele (Klientenrückmeldung an ihn: „Sie selber haben ja gar nicht viel gesagt, aber unsere Herzen geöffnet“, S. 63).
Die Spannung zwischen Komplexität auf der einen und Einfachheit auf der anderen Seite, wie sie im Titel des Buches anklingt, ist ein typisches systemtheoretisches Thema. Als Stichworte dazu sei an Begriffe wie „Komplexitätsreduktion“ oder den vielbeschworenen Schmetterlingseffekt aus der Chaostheorie (kleine Ursache mit großer Wirkung) erinnert, oder auch an die Rolle, die manchmal minimale Interventionen in einer Therapie spielen. Rufer zitiert den Autor Franz Hohler, einen Landsmann, der über die Kunst der Poesie schrieb: „Das Einfache ist nicht das Simple, sondern es ist das Komplexe, das sich nichts anmerken lässt“ (S. 28). Und Rufer bemerkt zu Recht, dass unsere therapeutischen Erfolge häufig in so „einfachen“ Dingen begründet liegen wie Takt, Höflichkeit, Rücksichtnahme oder Humor. Das findet aber aus der Sorge heraus, als „banal“ abgestempelt zu werden, kaum Eingang in die Fachliteratur.
Den größten Teil des Buches nehmen nun die ausführlich kommentierten Fallbeispiele ein. Der frische und ganz persönlich gehaltene Stil des Autors machen die Lektüre so angenehm. Hier wird jeweils der Bezug zu den genannten generischen Prinzipien und anderen systemischen Konzepten (z.B. Systemkompetenz) hergestellt. Es gibt bislang nur wenige Beispiele in der Literatur, die die Brücke zwischen der Schiepekschen Konzeption und der alltäglichen therapeutischen Praxis schlagen.
Wenn man, wie Rufer, seine therapeutischen Entscheidungen „ex-post“ interpretiert, wird man immer auch hören: „Hinterher ist man immer schlauer“. Man könnte anmerken, dass noch offen bleibt, wie man aus den generischen Prinzipien heraus therapeutische Entscheidungen vorausplant. Wie gehen sie in eine Fallkonzeption ein, und zwar nicht „aus dem Bauch heraus“, sondern streng theoriegeleitet?
Das ist ähnlich der wöchentlichen Taktik-Exegese im „ZDF-Sportstudio“, der sogenannten „3-D-Analyse“. Hierbei werden in Filmausschnitten von Fußball-Bundesliga-Begegnungen wie durch Zauberhand Ball und Spieler über den Bildschirm geschoben, verpasste Laufwege und Zuspiele simuliert und ständig der Blickwinkel des Zuschauers verändert, um zu beweisen, was die eine Mannschaft und ihr Trainer richtig, die anderen falsch gemacht haben. Auch hier gilt: Wenn man weiß, wie die Spielszene und das ganze Spiel ausgegangen sind, fällt es leicht, alles als richtig, oder eben auch als falsch zu bewerten. Dass die Dinge immer auch anders hätten laufen können, auch das ist ein vielbeschworener Gedanke, der im systemischen Diskurs als „Kontingenz“ behandelt wird. So bescheiden und differenziert, wie Rufer schreibt, kommt allerdings nie der Verdacht auf, er wolle uns irgendetwas als „beste“ oder „notwendige“ therapeutische Praxis verkaufen. So schreibt er am Ende einer Fallgeschichte: „Was sich hier im Speziellen aus einer kontext- und beziehungsorientierten Perspektive als hilfreich erwies, hätte sich unter Berücksichtigung allgemeiner, generischer Prinzipien durchaus auch mit anderen Interventionen gestalten lassen. Viele Wege – wenn auch nicht alle – führen nach Rom“ (S. 223).
Enttäuscht von diesem Buch kann also nur jemand sein, der eine Art Bedienungsanleitung erwartet. Ich habe die Lektüre sehr genossen und kann sie jedem wärmstens weiter empfehlen.
Vorabdruck aus Kapitel 2: Generische Prinzipien: Zur Praxis der Selbstorganisation
Das Inhaltsverzeichnis, die Geleitworte von Arnold Retzer und Franz Caspar sowie eine Leseprobe aus dem ersten Kapitel
Verlagsinformation:
Praxisliteratur wie auch Fortbildungen hinterlassen oft den Eindruck, dass Therapie eine Sache der Methode oder Technik sei. Dem stehen Erkenntnisse aus Forschung und Praxis gegenüber, die therapeutische Kompetenz an »common factors« festmachen und die Therapeuten als Prozessgestalter und Künstler des Gesprächs verstehen, angefangen bei der Wahl des passenden Settings hin zu Wortwahl, Tonfall und Gestik. In diesem an der Alltagspraxis orientierten Lernbuch stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie kann man therapeutische Prozesse verstehen und gestalten? Wer und was ist dabei wichtig? Woran liegt es, wenn es in Therapien hakt? In allen gelingenden Therapien lassen sich allgemeine Wirkfaktoren und Kriterien ausfindig machen, die helfen, Komplexität zu verstehen und zu vereinfachen. Martin Rufer unternimmt den Versuch, die generischen Prinzipien selbstorganisierender Prozesse nach Haken und Schiepek als ein systemisches Konzept für die Fallkonzeption zu konkretisieren und basierend darauf Psychotherapie im weiteren Kontext zu verstehen.
Dieses Buch ruft bewährte Werkzeuge in Erinnerung, ergänzt das Handlungsrepertoire um neue und regt dazu an, sich als Praktiker in den system- und psychotherapeutischen Diskurs einzumischen.
Über den Autor:
Lic. phil. Martin Rufer ist in eigener Praxis als Psychologe und Psychotherapeut sowie im Bereich Weiterbildung und Supervision in Bern tätig. Von 2000–2009 war er Geschäftsleiter des ZSB Bern (Zentrum für systemische Therapie und Beratung).
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