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Veranstaltungsbericht zur Berichtsübersicht
23.08.2009
"Neurobiologie der Psychotherapie. Beziehung und Komplexität" - Salzburg 3.-5.7.09


Andreas Manteufel, Bonn

Der Kongress

An der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg hat Günter Schiepek seit dem 1.6.2009 die Leitung des für ihn maßgeschneiderten Instituts für Synergetik und Psychotherapieforschung inne (systemagazin berichtete). Mit der Neurobiologie der Psychotherapie beschäftigt er sich schon seit vielen Jahren intensiv. Der Kongress in Salzburg war nun bereits der dritte unter diesem Titel, den er mit seinen Kollegen auf die Beine stellte. Dass diese Veranstaltung dem Besucher eine Menge an Konzentration und Durchhaltevermögen abverlangte, war nach Durchsicht des üppigen Programmhefts bereits klar. Dafür wurden die rund vierhundert Teilnehmer aber auch verwöhnt: Durch einen erstklassigen Referentenstab, hochinteressante Einblicke in ein spannendes Thema, das Ambiente einer altehrwürdigen Aula inmitten der Mozartstadt, eine jederzeit funktionierende Technik (was auch auf teuren Tagungen nicht selbstverständlich ist) und eine durch den Schattauer Verlag reibungslose und sehr freundliche Gesamtorganisation. Neben Günter Schiepek zeichneten als inhaltlich Verantwortliche Christian Schubert (Universitätsklinik Innsbruck), Christoph Stuppäck (Psychiatrische Universitätsklinik Salzburg), Michael Zaudig (Psychosomatische Klinik Windach) und Wulf Bertram vom Schattauer Verlag.

Das Thema

Das Thema der Tagung ist zu einem Renner auf dem Bücher- und Fortbildungsmarkt geworden. An der „Neurobiologie“ kommt auch kein Psychotherapeut mehr vorbei. Wer heutzutage über psychische Störungen oder über Psychotherapie schreibt, darf es sich nicht erlauben, den Bezug zur „Neurobiologie“ zu vergessen. Ausgangspunkt ist seit den frühen 90er Jahren die Möglichkeit, mit Hilfe der modernen Bildgebung des Gehirns Zusammenhänge zwischen psychischen Funktionen und Gehirnfunktionen nachweisen zu können. Mittlerweile überfluten uns viele psychiatrisch-psychotherapeutische Zeitschriften mit  unzähligen Einzelbefunden von MRT-Auffälligkeiten bei dieser oder jener psychopathologischen Erscheinung, ohne uns wirklich schlauer zu machen. Der Lokalisationismus („Schrebergärtenmentalität“, wie es der Hirnforscher Detlev Linke einmal nannte, etwa nach dem Motto: Das Limbische System ist der Ort der Gefühle) blüht wieder auf, aber meistens wird doch über nichts anderes als Korrelationen berichtet. Es tut häufig weh, zu lesen, wie aus hausbackenen korrelativen Zusammenhängen auf scheinbar neue, „biologische“ Ursachenmodelle psychischer Störungen geschlossen wird. Ganz anders ist die Entwicklung auf der Ebene der Theorienbildung über das Gehirn: Das Modell des selbstorganisierenden Systems setzt sich durch, Konzepte wie Synchronisation oder Kohärenzbildung, Zirkularität und Emergenz machen Hirnforschung zur paradigmatischen Anwendung moderner Systemtheorie. Zusammenhänge zwischen Gehirn und Psyche können, weit entfernt vom simplen Reduktionismus, neu diskutiert werden. Längst ist aus der kognitionslastigen Neuropsychologie eine „emotionale“, dann eine „soziale“ Neurowissenschaft geworden, und alte psychologische Kernbegriffe wie „Bindung“, „Beziehung“, oder „Unbewusstes“ sind plötzlich in der Neurobiologie en vogue.
Für die Psychotherapie liegen in der so skizzierten Entwicklung Chancen und Gefahren: Gute alte therapeutische Tugenden (z.B. die Bedeutung der therapeutischen Beziehung, der frühen Bindungserfahrungen, der Emotionalität und der Sozialität des Menschen) gehen gestärkt aus der Diskussion heraus. Das Modell der Allgemeinen Psychotherapie gewinnt neue Nahrung, und die Metaphern aus der Neurobiologie könnten zur allgemein akzeptierten Sprache für eine schulen- und methodenoffene Therapiepraxis werden. Manche Ansichten über psychische Krankheit werden entmystifiziert, indem sie auf eine reale, biologische Grundlage gestellt werden, denkt man an Trauma oder Dissoziation. Aber: Die Gefahr eines einseitig aufs Biologische verengten Blicks ist unübersehbar. Einerseits versichern uns die seriösen Hirnforscher, dass auch sie das Gehirn erst ansatzweise verstehen, andererseits meinen manche, auf soziale und interaktionelle Fragen bereits verzichten zu können, sobald es irgendeinen Befund aus dem Gehirnscanner gibt.

Das Programm

All diese Aspekte wurden auf der Salzburger Tagung auf hohem Niveau thematisiert. Die beiden Psychoanalytikerinnen Marianne Leutzinger-Bohleber und Anna Buchheim berichteten von ihrem Herantasten an die Methoden der Gehirnforschung, nicht ohne Skepsis, aber mit großer Sorgfalt und Neugierde. „Chancen und Verführungen“, so beschrieb Leutzinger-Bohleber ihre Ambivalenz gegenüber der Neurobiologie. Sie wies nicht als einzige darauf hin, dass die Macht der Bilder, der „Zwang zur Visualisierung“ („Wir glauben nur, was wir sehen“) als Zeitströmung zur Popularität der modernen Hirnforschung beiträgt. Gleich der nächste Redner konterte mit überraschender Abgrenzungsrhetorik. Befremdlich offensiv distanzierte sich Niels Birbaumer sowohl von der Liaison zwischen Psychoanalyse und Neuroforschung als auch, in einer Randbemerkung, von seinem eigenen ursprünglichen Psychologenberuf. Seine Ansprüche sind nicht gering: Gedanken im Gehirnscanner sichtbar machen, Neurofeedback analog zum Biofeedback, Kommunikation mit Wachkomapatienten über die Ebene der gedanklichen Vorstellung, „Neuro-Prothesen“ für Gelähmte. Grundlage ist die Tatsache, dass auch Vorstellungen von Bewegungen dieselben Neuronen aktivieren können, die bei der tatsächlichen Bewegung aktiv sind. Aufmerksamkeitsgestörte Kinder, so berichtete Birbaumer, können lernen, über Neurofeedback langsame Hirnpotenziale und damit Aufmerksamkeitsprozesse zu verbessern. Gelähmte können kraft ihrer Vorstellung Prothesen steuern und damit gezielte Bewegungen ausführen. Das ist alles jahrelanges zähes Ringen um Teilerfolge, aber schon die heutigen Möglichkeiten sind erstaunlich. Peter Tass vom Forschungszentrum Jülich wartete mit spektakulären Umsetzungen synergetischer Theorienanwendung im Bereich der Neuromodulation auf. Krankhaft rigide Synchronisierung neuronaler Aktivität wie beim Tremor des Morbus Parkinson kann über De-Synchronisierung von außen „normalisiert“ werden. Dafür müssen kleine batteriebetriebene Chips implantiert und per Fernbedienung (das ist hier mehr als eine Metapher) aktiviert werden. Limitierende Faktoren waren bisher vor allem erhebliche Nebenwirkungen und die zeitlich begrenzte Dauer erfolgreicher „Symptomabschaltung“. Nun, so erfuhr man, wird sehr konkret daran gearbeitet, mit deutlich weniger Aufwand und Beeinträchtigungen für die Patienten zu stimulieren, vor allem aber, das dauerhafte „Verlernen“ pathologischer Rhythmisierung jenseits der initialen Stimulierung zu erreichen.
Der Philosoph und Hirnforscher Georg Nordhoff gab Einblicke in die schwierige Aufgabe, philosophische Begriffe auf neurobiologische Grundlage zu stellen. Am Beispiel des Begriffs des „Selbst“ verdeutlichte er die Komplexität der Übersetzung von Begriffen der Geisteswissenschaft in die Neurowissenschaft und umgekehrt. Die Idee von geistigen „Zentren“ im Gehirn wird abgelöst vom Modell der Netzwerke und der dynamischen Natur geistiger Prozesse. Das „Selbst“ beschrieb Nordhoff als eine sich ständig neu formende Erfahrung, gebildet als Netzwerk und Synchronisierung von sehr verschiedenen Neuronengruppen. Noch stärker als man bisher annahm ist das Selbst affektiv gefärbt, sprich: limbisch vernetzt.  
Christian Schubert warb in der Podiumsdiskussion, die unter Zeitmangel und einem zu großen Rednerkreis litt, sehr offensiv für „Beziehungsforschung“ in der Neurobiologie. Die gängigen „menschenverachtenden“ (O-Ton Schubert) Forschungsdesigns müssten sich ändern, wolle man die Beziehungsrealität der Menschen abbilden. Dann müssten vor allem qualitative Methoden und Einzelfalldesigns an Stellenwert gewinnen. Erstaunlicherweise ließen ihn die Kollegen ziemlich im Regen stehen. Die einen sahen diese Forderungen bereits realisiert, andere distanzierten sich mit dem überflüssigen Hinweis, subjektive Größen bräuchten Operationalisierung (als ob dies in einer qualitativen Forschungstradition anders wäre). Am ärgerlichsten ist es, leider war auch das zu hören, wenn jemand seine Ignoranz als „notwendige Komplexitätsreduktion“ kaschiert.
Beeindruckend war der Vortrag von Wolf Singer. Er verfolgte neben Schiepek am konsequentesten die Frage, wie die Selbstorganisation des Gehirns modelliert werden kann. Seine Vorstellung raum-zeitlicher Synchronisierung von Neuronenaktivitäten über das gesamte Gehirn verteilt klang, soweit der Laie dies alles im Detail bei arg hohem Vortragstempo nachvollziehen konnte, plausibel und höchst anregend.
Ein besonderes Lob sei den Workshops, die ich besuchte, ausgesprochen. Sie alle wurden mit viel Engagement durchgeführt, egal wie klein der Zuhörerkreis war. Die methodische Einführung in die funktionelle Kernspintomographie (Windischberger) war didaktisch hervorragend aufbereitet. Die praktischen Tücken der Methode, die auch vorhandenen theoretischen Erklärungslücken und die vielen Fehlerquellen in der Durchführung wurden klar angesprochen. Mein Respekt vor den gewaltigen Magnetfeldern, mit denen da gearbeitet wird, wurde noch größer, der vor der Unumstößlichkeit der Ergebnisse eher geringer. Der Workshop zur Neurobiologie der Posttraumatischen Belastungsstörung (Flatten) versprühte Praxisbezug. Spannend war, was die Arbeitsgruppe um Günter Schiepek über die Anwendung des synergetischen Navigators in der stationären Psychotherapie berichtete. Schiepeks Ansatz stößt neue Dimension der Psychotherapieforschung auf. Wissenschaftliche Auswertung verschmilzt geradezu mit der Therapie, beispielsweise demonstriert an den Rückmeldegesprächen zwischen Patient und Forschungsleiter (Schiepek). In seinem Vortrag äußerte sich Schiepek zurückhaltend bezüglich der Frage nach dem psychotherapeutischen Praxisbezug der Hirnforschung. Auf der einen Seite stünden die „Neurotechniken“, über die berichtet wurde, die aber wenig mit Psychotherapie zu tun haben. Die Folgerungen, die von Autoren wie z.B. Klaus Grawe aus der Neuroforschung für die therapeutische Gesprächsführung formuliert werden, klingen in  Schiepeks Ohren aber eher nach therapeutischen Basics, die sich auch ohne Gehirnforschung aufdrängen. Sein Interesse gehört ohnehin der Frage, wie die Selbstorganisationsforschung psychologisch sinnvoll umgesetzt werden kann, sei es für eine angemessene Modellbildung des menschlichen Gehirns, sei es für Fragen der Psychotherapiepraxis. Ein Ziel ist dabei etwa die Zusammenführung von Komplexitätsübergängen in der Hirndynamik auf der einen und in psychologischen Dynamiken auf der anderen Seite. Solchen Fragen wird in seiner Forschungsgruppe am Paradigma der Zwangsstörung nach gegangen. Vorsichtig wies Schiepek auf erste Ergebnisse hin, um gleich deren Vorläufigkeit und den zweifellos noch vorhandenen Entwicklungsbedarf in den nichtlinearen Methoden der Hirnforschung zu betonen.

Fragen am Ende

Ist die Neurobiologie der Psychotherapie eine Mode, die wieder verschwinden wird? Wird es sich Psychotherapie in Zukunft gefallen lassen müssen, ihre Effektivität über den Nachweis einer signifikanten neurobiologischen Veränderung in einem bildgebenden Verfahren zu dokumentieren? Eine solche Zukunftsperspektive wird gefordert, zitiert wurden in diesem Sinne keine geringeren als Eric Kandel und Klaus Grawe. Mich überraschte es, dass dies von niemandem aus dem Referenten- oder Zuhörerkreis in Frage gestellt wurde.
Wird die Neurobiologie der Psychotherapie die Abschaffung der Schulenstreits in der Therapielandschaft vorantreiben oder werden nun erst die Grabenkämpfe darüber vom Zaune gebrochen, welche Therapie das Hirn besser verändert als die anderen?
Werden wir Psychotherapeuten neuronengläubig und noch mehr als es bereits geschieht die sozial- und geisteswissenschaftliche Dimension vernachlässigen? Oder wird über die systemwissenschaftliche Zugangsweise der noch sehr lebendige simple Reduktionismus in der Gehirnforschung weiterhin zurückgedrängt werden, Denken in Komplexität und Nichtlinearität aber gefördert werden?
Der Salzburger Kongress war zwar keine wirkliche Diskussionsveranstaltung, aber besser und breiter wird man über den Stand der „Neurobiologie der Psychotherapie“ nirgends informiert. Für das eigene Weiterlesen, Weiterdenken oder Weiterforschen war der Kongress die beste Motivationsspritze.



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