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„Mein Mann befriedigt sich beim Chatten“. Neue Konflikte durch neue Medien
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Hartwig Hansen, Hamburg:
Das Tempo in unserem Leben nimmt allerorten rasant zu. Der Druck, noch mehr in der gleichen Zeit zu schaffen, ebenfalls. Überall und jederzeit präsent, permanent ansprechbar und flexibel zu sein – das „Turboleben“ ist ganz schön anstrengend. All das hat gravierende Auswirkungen auf „Beziehungen”. Und: Die Neuen Medien schaffen neue Probleme. Meine kleine Privatstatistik „Warum kommen Paare eigentlich in die Beratung?” weist seit Jahren einen gewichtigen neuen Einzelpunkt auf. Er lautet: „Ich habe die Mails meines Mannes gelesen ...” Oder: „Die Handyrechnung meiner Frau war so hoch, da habe ich mal ihren Einzelnachweis gecheckt. Immer wieder die Nummer dieses Typen aus Süddeutschland.” Es ist nicht mehr der Ohrring unter dem Ehebett oder das Haar auf dem Jackett, heute wird andernorts geschnüffelt und nachgeschaut und der erste Teil des Wortes „Personal“ Computer bekommt eine neue Dimension. Der Streit um Privatsphäre und Grenzen in Beziehungen muss neu und anders ausgefochten werden. Und was ist mit dem Internet? Was „macht“ das in und mit der Paarkommunikation? Schauen wir doch mal rein: Ich gebe bei Google die zwei Begriffe „Internet“ + „Paare“ ein. 0,12 Sekunden später habe ich Zugriff auf „ungefähr 3.590.000 Seiten auf Deutsch“. Da geht’s in der Anzeigen–Spalte auf der ersten Seite natürlich um „Kontakte kostenlos – Nie wieder allein! Tausende Singles mit hohem weiblichem Anteil“, um „Swinger Partnertausch“ oder „one night stand – Seitensprung! Kostenlose Anzeigen“. Fremdgehen leicht gemacht. Suchmaschinen-Alltag. Die „Lovetalk“-Headline „Mein Mann befriedigt sich beim Chatten“ klicke ich an. Das Problem kommt mir bekannt vor. Aus der Beratung. „Hallo, ich bin Karin, 37 Jahre. Ich lebe seit sieben Jahren in einer festen Partnerschaft. Am Anfang hatten wir, wie wahrscheinlich die meisten Paare, viel Sex. Das ließ nach einiger Zeit nach und frustrierte mich, weil ich gerne so weiter gemacht hätte. Während einer Krise habe ich meinen Partner dabei erwischt, dass er sich Pornos im Internet anschaut. Ich war gekränkt und verletzt und habe es auf die damalige Ausnahmesituation geschoben. Als alles wieder in Ordnung war, musste ich feststellen, dass die Pornoguckerei offenbar ein fester Bestandteil seines Alltags ist. Er versichert mir, dass er mir dadurch nichts ‚wegnehmen’ würde. Er selbst sehe das als Ergänzung. Ich dachte immer, das wäre ein Ersatz, wenn einem etwas fehlt. Also, was fehlt? Oder meinen Männer das ernst mit Ergänzung? Vor kurzem habe ich dann noch zufällig herausgefunden, dass er auch im Internet chattet, also ‚heiße’ Gespräche führt und sich dabei befriedigt. In meinen Augen ist das eine Art Fremdgehen. Das ist nicht mehr ein einseitiges Hingucken, sondern jetzt wird mit irgendjemandem ‚da draußen’ aktiv kommuniziert. Mein Partner versteht nicht, warum ich damit ein Problem habe, aber ich habe eins damit. Mit Pornos kann ich ja noch leben, aber nicht mit dem Chatten.“ Ich stelle mir – vielleicht etwas naiv – vor, dass Karin es geschafft hätte, ihren Partner für eine Paarberatung zu interessieren. Dann würde sie eventuell, wie viele Paare in der ersten Sitzung, fragen: „Ja, was ist denn Ihr Eindruck – haben wir noch eine Chance?“ Statt auf diese „Sackgassen-Frage“ direkt zu antworten, erzähle ich meist von den vier Apokalyptischen Reitern und frage anschließend, wie viele dieser Reiter das Paar in seiner Beziehung schon kennt. (Siehe dazu die Rezension des Buches von John M. Gottman: „Die 7 Geheimnisse der glücklichen Ehe“ von Tom Levold am 29.9.2006 im systemagazin.) Die Apokalyptischen Reiter vergiften die Liebe in einer Partnerschaft und deuten auf eine Krise bzw. auf die nahende Trennung hin. Sie heißen: Rückzug, Verleugnung, Verletzung und Verachtung. Und alle scheinen mir in Sachen „Internet und Beziehungsprobleme” – wie von Karin beschrieben – durchs Bild zu galoppieren: Der Rückzug: „Ich mache mein Ding, ohne dich daran teilhaben zu lassen.” Die Verleugung: „Wieso? Haben wir ein Problem?“ oder: „Es wird schon irgendwie gut gehen ...” Die Verletzung: „Ich fühle mich sehr gekränkt und hintergangen durch deine Eskapaden.” Die Verachtung: „Ich verachte deine Ignoranz und dich für deine nicht nachvollziehbaren Bedürfnisse.” Karin und ihr Partner haben wohl wirklich nur noch eine Chance, wenn sie das Eis des „Wo ist das Problem?!“ und damit die Sprachlosigkeit gemeinsam brechen können. Fakt ist, dass die neuen Kommunikations-Medien den Alltag erobern und so auch den Alltag der Beziehungen. Kaum eine Beratung, in der sie nicht zumindest in einer Nebenrolle zur Sprache kommen. Während der Sitzungen werden die Handys immerhin abgestellt. Doch ich ernte immer noch Blicke des erstaunten Unverständnisses, dass ich meine Handynummer nicht nennen möchte: „Aber dann könnten wir doch auch noch kurzfristig Bescheid sagen ...” Eben, bei diesem „Na, mal sehen, ob wir’s schaffen ...“ möchte ich nicht mitmachen. Die Zwänge des „Turbolebens“ werden nur selten hinterfragt. Die latente Überforderung ist Alltag. Jede technische Neuerung wird – gerade wegen dieser neuen spürbaren Überforderung – als „ganz einfach” beworben. „Ein Tastendruck ... und schon sind Sie drin.” Von wegen, nichts ist einfach, vieles komplex, und die Fülle der „Vereinfacher” zieht zudem enorme Energie. Gerade in Beziehungen machen es die neuen Kommunikations-Möglichkeiten mitunter noch komplizierter. Ein Beispiel: Frau K. entschließt sich in der Beratung zur Trennung von ihrem Mann und Vater zweier Kinder: „Er hat einfach zu hoch gepokert”, sagt sie weinend. „Er hat immer wieder damit gedroht, dass er zu seiner Mail-Bekanntschaft nach Kanada fliegt. Und er hat mir auch schon das Ticket gezeigt!” Herr K. räumt kleinlaut ein, „dass er sich einfach zu dieser Frau ‚da drüben’ hingezogen fühle.” Frau K. versteht die Welt nicht mehr: „Und er hat sich auch hinter meinem Rücken so Sachen aus Katalogen bestellt ...”, sagt sie. „Na, es hat ja keinen Zweck herumzureden”, murmelt Herr K. mit gesenktem Kopf auf seine Knie. „Ich habe eine Neigung, sexuell mit behinderten Frauen zu verkehren, ich weiß auch nicht, woher das kommt. Und jetzt hat es übers Internet endlich mal geklappt, so einen guten Kontakt aufzubauen.” Da haben die Apokalyptischen Reiter wohl die Ziellinie schon erreicht. Frau L. dagegen tritt selbstbewusst auf. Gleich in der zweiten Sitzung macht sie darauf aufmerksam, dass sie ihre Erfahrungen in der Sadomaso-Szene seit zwei Jahren in einem Internet-Tagebuch veröffentliche. Ihre Website sei in Fachkreisen schon mehrfach ausgezeichnet worden, sagt sie stolz. Auch ihr jetziger Mann habe vor einem Jahr über ihre Homepage Kontakt mit ihr aufgenommen und sich als dominanter „Traummann“ herausgestellt. Nun aber gebe es Streit mit ihm: Frau L. habe sich mittlerweile auf eine Affäre mit einer anderen Frau – die ebenfalls begeistert von der Tagebuch-Website war – eingelassen. Wieder einmal muss ich an den Leitspruch meiner Großmutter denken, die oft sagte: „Die Welt ist bunt.“ Verletzte Gefühle bleiben Sprengstoff für Beziehungen – das gilt wohl auch für „aufgeklärte Kreise” im Internetzeitalter. Oder: Herr L. (44) und Frau T. (43) haben sich nach langer Single-Zeit über ein Internetportal kennen gelernt, in dem den Beziehungswilligen kompatible Kontakt-Vorschläge gemacht werden, nachdem der Computer die Persönlichkeits-Profile optimal abgeglichen hat. So weit, so Neuzeit. Nach einem frisch verliebten halben Jahr kommen sie in die Beratung, weil es aktuell „so richtig gekracht hat“, wie Frau T. sagt. „Ich habe rausgefunden, dass mein Partner sich weiter Vorschläge über das Portal hat schicken lassen und sogar seinen Text geändert hat: ‚Suche nette, attraktive Frau bis 37 Jahre zur Gründung einer Kleinfamilie.’ Davon war bei uns noch gar nicht die Rede. Mir hat er nämlich gesagt, das Thema Kinder sei für ihn abgehakt gewesen ...“ Das Internet birgt offenbar viele neue – und doch immer wieder alte – Möglichkeiten der Kränkung. Gibt es nun aber einen Grund, einen gemeinsamen Nenner für all diese „modernen Komplikationen“, die die längst bekannten Beziehungskiller noch potenzieren? Sind wir im Innern nicht heute mit der völlig ambivalenten Forderung konfrontiert, einerseits angepasster, unauffälliger, integrierter Massenmensch zu sein, der möglichst jeden (technischen) Trend mitmacht? Und andererseits sollen wir der flexible, selbstbewusste, schöpferische Souverän der eigenen Entwicklung sein: „Du bist Deutschland!“ Ist es da ein Wunder, wenn wir ganz wuschig werden und eigentlich auch sehr erschöpft vom Laufen in diesem Hamsterrad? Die Norm „Du bist verantwortlich für dein gelingendes Leben“ erzeugt einen enormen Druck. Das Internet steht für das Motto „Anything goes!“ (Ich füge hinzu: really anything, wie oben gesehen), und wird mit seinen unübersichtlichen 3.590.000 Nennungen zur beliebigen „Spielwiese“, um dem individuell erlebten Alltags-Druck ein paar „Druckventile“ zu verschaffen. Viele Menschen gehen im Internet auf die Suche nach sich selbst, nach ihrer „Selbstverwirklichung“ – das Medium der „unbegrenzten Möglichkeiten“ scheint dafür prädestiniert. Mitunter geraten dabei aber die „Beziehungen im wirklichen Leben“ aus dem Blickfeld. Und dann wird’s eng. Selbstbefriedigung beim Chatten ist eben einfacher als die konstruktive Auseinandersetzung mit seiner Partnerin. Karin, du hast recht!
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