Copyright © 2013
levold system design Alle Rechte vorbehalten. |
|
|
Vorabdruck aus Louis Sander: Die Entwicklung des Säuglings, das Werden der Person und die Entstehung des Bewusstseins
|
|
|
Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2009 (September)
329 S., 6 Tabellen und 22 Abb., gebunden
Preis: 39,90 €
ISBN-10: 3608945253 ISBN-13: 978-3608945256
Verlagsinformation: Louis Sander gilt als der »grand old man« der modernen Säuglings- und Kleinkindforschung. Dieser Band stellt seine wichtigsten Untersuchungen aus der Frühphase bis heute zusammen, mit denen er weltweit bekannte Forscher wie Daniel Stern und T. Berry Brazelton ebenso beeinflusst hat wie die jüngere Generation um Beatrice Beebe, Karlen Lyons-Ruth und Frank Lachmann.
Über den Autor: Louis W. Sander war bis zu seiner Emeritierung Prof. für Psychiatrie an der Abteilung für Child Psychiatry der University of Colorado, dem Wirkungsort von Robert Emde und René A. Spitz, und gehört der renommierten von Daniel Stern initiierten Boston Process of Change Study Group an.
|
|
Kapitel 12:
Anders Denken. Prinzipien des Prozessverlaufs in lebenden Systemen und
die Spezifität des Erkanntwerdens*
Ein erster Blick auf
den Titel dieses Symposiums »Die Organisation von Komplexität in der
Psychoanalyse: Zur inneren Integration emergierenden Wissens über
Entwicklungsprozesse, biologische Systeme und therapeutische Prozesse«
legt die Vermutung nahe, das Ziel bestehe darin, Anregungen dafür zu
geben, wie sich »alles zusammenfüge«. Sobald wir nach der Bedeutung und
den Bedeutungsebenen dieser einzelnen Worte fragen – Organisation,
Komplexität, biologische Systeme, Entwicklungsprozess, therapeutischer
Prozess, Psychoanalyse –, sind wir mit der Notwendigkeit konfrontiert,
die Bedeutungsvielfalt von Worten und Begriffen einzuräumen oder
zumindest die vielfältigen Möglichkeiten ins Auge zu fassen, wie eine
solche Aufgabe der Integration in der Einschätzung jedes Einzelnen zu
bewerkstelligen sei. Die notwendigen Einschränkungen dieses Beitrags
erlauben mir lediglich eine skizzenhafte Vorstellung dessen, wie eine
solch schwierige Aufgabe bewältigt werden könnte. Aus meiner Sicht
muss mit dem weitest möglichen Blickwinkel begonnen werden, ein
Blickwinkel, der die genannten fünf Bereiche von Anfang an einschließt.
Die Herausforderung der Integration bestünde dann darin zu erarbeiten,
wie sich innerhalb dieser Sichtweise die einzelnen Bereiche zueinander
ins Verhältnis setzen lassen. Für mich wäre die umfassendste
Sichtweise das Leben selbst – das Leben, das wir meist für
selbstverständlich halten, aber gleichwohl ein Mysterium bleibt. Des
Weiteren sind wir, sobald wir über das Leben und den Verlauf des Lebens
nachdenken, nicht nur mit einem einzelnen Widerspruch, sondern mit
vielen Widersprüchen konfrontiert. Im Folgenden soll nach Prinzipien im
Prozess des Lebens gesucht werden, die auf eine Lösung einiger seiner
Rätsel zielen. Vorausgesetzt, dass sich ebendiese Prinzipien auf allen
der im Titel des Symposiums genannten Ebenen anwenden lassen – auf die
biologische Ebene, die Entwicklungsebene, die Ebene der
Bewusstseinsorganisation oder die Ebene des therapeutischen Prozesses –,
haben wir bereits mit dem Integrationsprogress, nach dem wir suchen,
begonnen. Es dürfte evident sein, dass wir, wenn wir die umfassendere
Perspektive von Prinzipien ins Auge fassen, die unser Leben als Prozess
steuern, die biologische Ebene als Ausgangspunkt wählen, auch wenn wir
auf derselben Ebene den Entwicklungsprozess reflektieren müssen.
Sollten wir herausfinden, dass dieselben Prinzipien ebenso auf der
psychischen Ebene wirksam sind, ist der Weg frei, die Ebene des
therapeutischen Prozesses zu integrieren. »Emergierendes Wissen« in den
im Titel dieses Symposiums genannten Bereichen könnte die notwendige
neue Bedeutung hinsichtlich dessen liefern, wie sich der Begriff der
Integration auf das Zusammenfügen jener Bereiche anwenden ließe. Das
Leben jedes Einzelnen weist ein jeweils eigenes Muster auf – einer der
Gründe, weshalb so unendlich viele Anstrengungen unternommen werden,
eine Sprache zu finden, die uns bei aller Vielfalt dennoch miteinander
kommunizieren lässt. Mein Anliegen ist es, ein wissenschaftliches
Spektrum heranzuziehen, das durchschlagende, die Übertragung
erleichternde Begriffe auszuwählen erlaubt. Zum Beispiel verwende ich
den Begriff der Kohärenz zur Beschreibung der Ganzheit in der
Organisation komplexer Einzelkomponenten, die auf hierarchischen Ebenen
im Leben der Organismen existieren und die für deren Kontinuität
wesentlich sind. Der Zustand der Kohärenz, also der Ganzheit, lässt
sich als Ziel oder als motivierende Kraft verstehen, um das zu
erreichen, was Regulierung bedeutet – auf der Ebene des individuellen
Organismus wie auf der Ebene der lebenserhaltenden ökologischen Umwelt.
Dies impliziert eine zugrunde liegende Richtung (direction) zwischen
Säugling und Umwelt, die eine größere beidseitige Verknüpfung
einräumt, während der Entwicklungsprozess seine komplexen Funktionen
erweitert. Die Spezifitätserfahrung von Interaktionsund
Bindungsverläufen auf der Stufe des Bewusstseins entspricht dem von mir
so genannten Rekognitionsprozess. Ich betrachte diesen Prozess als
Brücke, der – auf der Stufe des Menschen – Grundprinzipien des
biologischen Prozesses mit dem Entwicklungsprozess verbindet – mittels
Aushandlung einer Folge komplexer fortschreitender Anpassungsaufgaben –
des Fitting-together – zwischen Kind und fürsorgender Umwelt während
der ersten Lebensjahre. Ebendiese Sequenz stufenweiser Aushandlungen der
interaktiven Bindung zwischen Kind und Mutter konstruiert die zur Ebene
psychischer Organisation überleitende Brücke. Bei psychischer
Organisation denke ich an die Möglichkeiten des Gewahrseins unseres
Selbst innerhalb des Gewahrseins unserer Umwelt. Das aufgrund der
empirischen Bezogenheit des Kindes auf seine Welt als
selbst-initiierender Urheber unablässig sich weiter entwickelnde Gehirn
wird als eine Funktion verstanden, die neue Integrationsstufen in den
Anpassungsprozess einbringt (vgl. Freeman 1995). Als Beispiel einer
neuen Integrationsstufe könnte die fortschreitende Kohärenz der
»Selbst«-Empfindung innerhalb des lebenserhaltenden Kontextes genannt
werden. Die Reihung adaptiver Aufgaben, die wir als eine Sichtweise
des frühkindlichen Entwicklungsablaufs vorschlagen, illustriert die
graduelle Erweiterung des »Erlebens von Rekognition« (die Spezifität
des Augenblicks, in dem erkannt wird, von einem »Anderen« »erkannt« zu
sein), wenn sich das Kind allmählich in Richtung wachsender komplexer
Funktionen fortbewegt. In einer intakten Umwelt erlaubt das
expandierende Erleben von Rekognition das Auftauchen spontaner
Initiativen des Kindes, insofern die kindlichen Anpassungsstrategien bei
ihrer Verknüpfung mit der Umwelt wie mit dem signifikanten »Anderen«
eine relative Harmonie konstruieren. Gleichwohl steht in einem gesunden
Kind-Bezugsperson-System (in dem das Fitting-together zunehmend
schwieriger wird) ein Spektrum an Austauschweisen zur Verfügung, die
sich nicht nur als förderlich, sondern auch als hemmend entpuppen
mögen. Ähnlich lässt sich das Ziel des therapeutischen Prozesses
als eine Förderung fortschreitender Kohärenzgrade konzeptualisieren –
als Organisation individuellen Bewusstseins aufgrund der Erfahrung
expandierender Spezifität der Rekognition, ko-konstruiert zwischen
Patient und Therapeut, wodurch sich das individuelle Bewusstsein des
Selbst-als-Urheber innerhalb des Bewusstseins vom eigenen Tun in der
therapeutischen Interaktion und in der Außenwelt verändert.
Der Prozess des Lebens: Widersprüche
In
dem Moment, in dem wir das Leben und das Mysterium des Lebensprozesses
zu reflektieren beginnen, konfrontieren wir uns mit einer ganzen Reihe
von Widersprüchen. Zum Beispiel kommen wir, wenn wir über lebende
Organismen bis hin zur kleinsten Mikrobe reflektieren, nicht umhin, eine
Umwelt mit einzubeziehen, in der sich ebendiese Organismen in
fortwährenden Interaktionen befinden. Wenn wir also über das Leben
nachzudenken beginnen, ist der Ausgangspunkt nicht allein der
Organismus, sondern ein »System«: der Organismus und seine Umwelt.
Wählen wir nun das System als Ausgangspunkt – den Organismus im
stetigen endlosen Austausch mit seiner Umgebung –, dann betrachten wir
einen Prozess, einen kontinuierlichen Prozess mit vielen gleichzeitig
existierenden Komplexitätsstufen. Ein solcher Prozess paralleler
Komplexitätsstufen ist ein offensichtlicher Widerspruch, denn der
Lebensprozess erfordert ununterbrochene Kontinuität sowie
ununterbrochenen Wandel (…). Scheinbar stabile materielle Körper
erweisen sich als fließende Materie in stetigem Wandel und Wechsel. Die
Moleküle, die heute den Körper bilden, sind andere als jene, aus denen
dieser einen Monat zuvor bestand. Paradoxerweise müssen diese
fließenden Veränderungen die Ganzheit des Organismus bewahren, während
seine Komponenten durch Desorganisation, Aufhebung und Austausch
vorwärts treiben – all dies bei Aufrechterhaltung der vitalen Kohärenz
des Organismus, essentiell für kontinuierliches Leben. Wie kann das
gelingen? Wie können Kontinuität, Diskontinuität und Ganzheit
gemeinsam voranschreiten? Was wir bisher als permanente »Struktur« zu
denken gewohnt waren, müssen wir nun als ein fortlaufendes
Prozessgeschehen verstehen, als einen Prozess, der Komplexität
organisiert. Mit Blick auf die Chaostheorie (oder Komplexitätstheorie)
sollen diese Zusammenhänge weiter unten erneut aufgriffen werden. An
dieser Stelle gilt unsere Aufmerksamkeit zunächst noch dem Paradox:
dass wir, wenn wir das Leben als Prozess ins Auge fassen, uns einen
Organismus vorstellen müssen, der aktiv und ohne Unterlass in einer
komplexen Rangordnung an seine ökologische Umwelt gebunden ist. Anders:
wir müssen System-Funktionen reflektieren und nicht das Leben als
Eigenschaft allein des Organismus. Beginnen wir mit Websters
Definition des Begriffs System: eine Sammlung von Objekten, vereint
durch eine regelmäßige Interaktion oder Interdependenz, oder »eine
Gruppe verschiedener Einheiten, die so kombiniert sind, dass sie ein
integrales Ganzes bilden.« Soll Leben im Verlauf der Zeit von Bestand
sein, muss der Zusammenbau der mannigfachen Einheiten, die ein
integrales Ganzes bilden, im Zeitverlauf ebenso von Bestand sein.
Zerbricht eine kohärent organisierte Einheit, zerbricht das Leben.
Werden Prozesse beendet, wird das Leben beendet. Ebenso wie wir wissen,
dass Leben in lebenden Systemen abbricht, wissen wir, dass Neues in
Erscheinung tritt. Somit sind Prozesse als ein Fließen zu verstehen, ein
Strömen zwischen System-Input und -Output durch stetige,
übergreifende Organisationsprozesse, die, bei fortlaufender Interaktion
zwischen Organismus und Umgebung, trotz Diskontinuität beständig
Kontinuität erreichen. Die Kontinuität des Lebens ist nicht im Sinne
einer gegebenen Permanenz zu fassen. Auf allen Komplexitätsstufen, vom
Molekül bis hin zur Ökologie unseres Sonnensystems, sind Prozesse
genötigt, die unvorstellbare Vielheit an Einzelteilen zu halten und das
»integrale Ganze« lebender Systeme zu erhalten (1).
Allgemeine Systemtheorie: Ein Ausblick auf
das Problem von Leben
Wie bereits ausgeführt, habe ich
meine Untersuchung über Prinzipien des Prozessverlaufs in lebenden
Systemen im Zusammenhang meiner Bemühungen begonnen, die empirischen
Beobachtungsdaten von Säuglingen und Kleinkindern sowie ihren Familien
im Verlauf der ersten drei Lebensjahre einer Langzeituntersuchung über
die frühe Persönlichkeitsentwicklung zusammenzufügen (siehe Teil I).
Ich wandte mich den Schriften jenes Biologen zu, der die allgemeine
Systemtheorie vor etwa einem halben Jahrhundert vorangetrieben hat:
Ludwig v. Bertalanffy (1949). Er stellte zur Sicherung von Leben zwei
Grundprinzipien auf: »Organisation« und »primäre Aktivität«. Mit dem
Begriff der Organisation bezog er sich auf das »integrale Ganze« (nach
Websters Definition) – das Zusammenhalten oder die Kohärenz innerhalb
der komplexen Vielheit der Bestandteile, die den lebenden Organismus
bilden. Angesichts der mannigfachen Möglichkeiten, den Begriff der
Organisation zu reflektieren, habe ich diese Arbeit mit den Worten
»Anders denken« eröffnet. Die Bedeutung, die ich dem Begriff der
Organisation zuschreibe, und die Art, wie dieser auf lebende Systeme
angewandt wird, schließt Konzepte eines stetigen Prozesses ein – ein
ständiger Energiestrom, der, in einem gesunden System, die
verblüffende Komplexität der Organismen zu einer Kohärenz hinleitet,
einer Ganzheit oder Vereinheitlichung innerhalb der interagierenden
Komponenten, die von einer essentiellen Spezifität der Verbindungen
(connections) untereinander herrührt. Mit dem Begriff »primäre
Aktivität« bezog sich v. Bertalanffy auf eine innere oder endogene
Quelle des Organismus, Handlung einzuleiten, so dass die Integration
jener Komplexität erlangt und gewahrt werden kann. Eine kohärente
Organisation lebender Organismen entspringt dem Inneren, wird nicht von
Außen erzwungen. Ausnahmslos jedes lebende System – jeder Organismus –
ist somit als selbst-organisierendes, selbst-regulierendes und
selbst-korrigierendes System innerhalb seiner Umwelt zu betrachten. Ein
erster Schritt, das Biologische, die Entwicklung und das Therapeutische
zu integrieren, bestünde darin herauszufinden, auf welche Weise
biologische Grundprinzipien wie »Organisation« und »primäre Aktivität«
auf die jeweils höhere Stufe bezogen werden können. Zum Beispiel
betrachten wir die Ingangsetzung selbst-organisierender,
selbst-regulierender, selbst-korrigierender Bewegungen als Widerschein
individueller Wirkmächtigkeit. Das Erreichen eines kohärenten
Empfindens des Selbst-als-Urheber – differenziert, zuverlässig und
kompetent innerhalb des Kontextes eigener Lebenssicherung – führt uns
zum zentralen Ziel sowohl des Entwicklungsprozesses wie des
therapeutischen Prozesses. Ich gehe davon aus, dass der Prozess, ein
kohärentes Empfinden des Selbst-als-Urheber zu erlangen, ein Beispiel
dafür ist, wie »Prinzipien des Prozessablaufs in lebenden Systemen« auf
die Aufgabe der Integration biologischer, entwicklungsbedingter sowie
therapeutischer Ebenen bezogen werden können.
Das nichtlineare dynamische System
Das
lebende System wird hier als nichtlineares System beschrieben, ein von
einem Gleichgewicht weit entferntes System (in der Terminologie von
Prigogine [1997]), versehen mit Merkmalen der Empfänglichkeit
gegenüber Anfangsbedingungen, der Unsicherheit potentieller Gabelungen
sowie der Endlosigkeit seiner Bewegungsbahn. Die Blickweise
nichtlinearer dynamischer Systeme hilft uns zu verstehen, dass sowohl
das Neue und Schöpferische wie auch das Desorganisierte und Destruktive
Potentiale ein und desselben Systems darstellen. Innerhalb eines
solchen Rahmens müssen selbst-organisierende, selbst-regulierende
Prozesse auf hierarchischen Komplexitätsstufen fortdauernd sein, so
dass die grundlegende Einheit oder kohärente Ganzheit des Organismus
gewahrt bleibt, die für die Dauerhaftigkeit von Leben notwendig ist.
Selbst bis heute ist in der Biologie, wie Paul Weiss (1970) hervorhob,
nicht geklärt, wie das Prinzip der Ganzheit, der Einheit oder
Kohärenz, begrifflich gefasst als Organisation, durch
»Selbst-Organisation« vollzogen und gewahrt wird. Wie dieses Prinzip der
Ganzheit, der Kohärenz vor sich geht, bleibt im Prozess des Lebens ein
Rätsel, mit dem uns zu konfrontieren wir meist vermeiden – oder dessen
wir uns nicht bewusst werden – aus lauter Selbstverständlichkeit, erst
gar nicht darüber nachzudenken. Es ist zu hoffen, dass dieses Prinzip,
während der Plan menschlicher Genome seinen Fortgang nimmt, sich
langsam klärt und verstanden wird, wie das dauerhafte Fließen von
Austauschweisen zwischen Genen und Umwelt ebendiese grundlegende
Erfordernis allen Lebens zustande bringt. Jedoch ist dieser Parameter
auf allen Stufen komplexer lebender Systeme involviert, der, wie gezeigt
werden soll, hinsichtlich der psychischen Ebene von besonderer Relevanz
ist – jener Ebene der Bewusstseinsorganisation, auf der sich der
therapeutische Prozess bewegt. Beginnen wir mit einem Blick auf die
Organisation – das »integrale Ganze« –, beginnen wir mit der Zelle.
Kohärenz – Auf der Ebene der Zelle
Mit
seinem im Jahr 1998 eingeführten Konzept der Tensegrität (2)
beschreibt D.E. Ingber, wie es dazu kommt, dass die strukturelle
Ganzheit der Zelle selbst dann gewahrt bleibt, wenn sie dem Druck
verändernder dynamischer Kräfte ausgesetzt ist. Zwar bezog sich Ingber
auf die Architektur, die mechanische Struktur der lebenden Zelle, aber
ich schlage vor, den Begriff »Tensegrität« – gespannte Einheit – als
Metapher für die Konzeption der schwer fassbaren Kohärenz auf der
Ebene psychischer Organisation zu nutzen. Verweilen wir einen Moment bei
Ingbers Beschreibung der Tensegrität als Prinzip des Prozessablaufs in
lebenden Systemen: „Leben ist ein elementares Beispiel für
fortwährende Komplexität. Dies legt die Vermutung nahe, dass
allgemeine Regeln des Zusammenbaus durch die Wiederkehr bestimmter
Muster – von molekularen bis hin zu makroskopischen Größen –
inbegriffen sind. Solche Muster treten sowohl als Strukturen auf, die
sich von höheren regelmäßigen Kristallen bis hin zu unregelmäßigen
Proteinen erstrecken, wie auch als Organismen so verschieden wie Viren,
Plankton und Menschen. Dieses Phänomen, wonach Komponenten sich
verbinden, um größere, stabile Strukturen mit neuen Eigenschaften zu
bilden, die von den Merkmalen ihrer individuellen Bestandteile her nicht
vorausgesagt werden könnten, wird als Selbst-Zusammenbau
(self-assembly) verstanden – ein in der Natur auf vielen Stufen zu
beobachtendes Phänomen. Im menschlichen Körper zum Beispiel
organisieren große Moleküle sich selbst zu Zell-Komponenten, bekannt
als Organellen, die sich wiederum selbst zu Zellen organisieren, diese
dann zu Gewebe und letzteres schließlich zu Organen. Das Ergebnis ist
ein Körper, hierarchisch organisiert als Systemreihe innerhalb von
Systemen. Wollen wir also vollkommen verstehen, wie Lebewesen sich
formieren und wie sie funktionieren, müssen wir diese Grundprinzipien
aufdecken, die die biologische Organisation steuern. Eine
erstaunliche Zahl natürlicher Systeme, einschließlich Kohlenstoffatome,
Wassermoleküle, Proteine, Viren, Zellen, Gewebe und selbst Menschen
und andere Lebewesen, verfügt über eine Konstruktion, der zufolge alle
eine gemeinsame Architektur benutzen, bekannt als ›Tensegrität‹. Der
Begriff bezieht sich auf ein System, das sich selbst mechanisch durch
die Form stabilisiert, in der Spannungsund Komprimierungskräfte
innerhalb einer Struktur verteilt und ausgeglichen werden. Da Moleküle
und Zellen, die unser Gewebe bilden, beständig entfernt und ersetzt
werden, liegt dem, was wir Leben nennen – so meine Annahme –, eine
Aufrechterhaltung von Mustern und Bauweisen zugrunde. Strukturen der
Tensegrität sind mechanisch stabil, nicht aufgrund der Stärke
individueller Einzelteile, sondern aufgrund der Art und Weise, wie die
Struktur als Ganzes es bewerkstelligt, Stressfaktoren zu verteilen und
auszugleichen. Spannung wird ununterbrochen quer durch alle
strukturellen Teile hindurch übermittelt. Diese gegensätzlichen
Kräfte, die die Struktur durchgehend im Gleichgewicht halten, sind
dafür verantwortlich, dass sie sich selbst zu stabilisieren vermag“
(1998, S. 48–49). Ich gehe davon aus, dass die Konzeption Ingbers
eine Brücke schlägt, eine Metapher für unser Denken bereit stellt,
nämlich dass ein Prinzip des Gleichgewichts gegensätzlicher Kräfte
innerhalb der hierarchischen Komplexität psychischer Organisation
beschreibt, wie ein relativer Ordnungsoder Unordnungsgrad kohärenter
Organisation oder funktioneller Ganzheit der Persönlichkeit eines
spezifischen Individuums auf den Weg gebracht wird. Zum Beispiel (ohne
darzulegen, wie dies geschieht) ist es kein großer Schritt zu der
Annahme, dass ein Wechselspiel gegensätzlicher Kräfte notwendig ist,
damit ein kohärentes individuelles Identitätsempfinden gewahrt bleibt.
Dies träfe teilweise zu, wenn die Unvorhersagbarkeit von Konflikten
zwischen gegensätzlichen Kräften im individuellen dynamischen System
der Lebenssicherung herangezogen wird. Während Weiss (1970) seine
Aufmerksamkeit auf die Biologie richtete, müssen wir nunmehr für die
psychische Ebene definieren, wie Kohärenz in unserem
Identitätsempfinden operiert und wie sie vermittelt wird. Kohärenz
im Sinne individueller Identität leitet zum nächsten Widerspruch
über, mit dem uns der Prozessverlauf in lebenden Systemen konfrontiert.
Wie gelingt es dem einzigartigen selbst-organisierenden Individuum, vom
Anderen unterschieden zu sein und gleichzeitig mit dem Anderen zusammen
zu sein, so dass das »System« – das Leben gewährleistet – seine
unentbehrliche Kohärenz und Ganzheit aufrechterhält? (Benjamin 1995;
Seligman & Shanok 1995).
Zwei
weitere Prinzipien: Spezifität und Rhythmizität
Zwei
weitere Prinzipien biologischer Systeme – Spezifität und Rhythmizität –
geben Hinweise darauf, wie Lebensprozesse dieses schwierige Paradox
lösen: die Art und Weise, wie Komplexität, bewirkt durch die
Einzigartigkeit selbst-organisierender Individuen, dennoch die
notwendige Ganzheit oder kohärente Organisation eines größeren Systems
ermöglicht, dem jeder Einzelne als ein erreichbarer und aufrecht zu
erhaltender Bestandteil angehört.
Spezifität
Das erste dieser Prinzipien,
Spezifität, habe ich unter Rückgriff auf die Arbeiten des Biologen
Paul Weiss (1947) zu einer Zeit eingeführt, als ich mit dem Werk von
Ludwig v. Bertalanffy (1949) bekannt geworden war. Weiss betonte die
entscheidende Signifikanz dessen, was er »das Motto der Spezifität«
nannte, indem er jene Verknüpfungen begründete und bewahrte, auf denen
die rätselhafte Kohärenz oder Vereinheitlichung lebender Organisation
beruht. Er betonte, dass die determinierende Spezifität ein in der
lebenden Welt universell verwendetes Prinzip darstellt, das für
Kommunikation, Rekognition, Affinität, Selektivität etc. von
grundlegender Bedeutung ist. Als Grundprinzip erörterte Weiss (1970)
das Prinzip abgestimmter Spezifitäten – »eine Art Resonanz zwischen
zwei Systemen, die durch korrespondierende Eigenschaften aufeinander
abgestimmt sind« (S. 162) – und zeigte anhand zahlreicher Beispiele, wie
das Prinzip der Spezifität in einem lebenden System operiert,
beginnend mit der Embryologie und dem Immunsystem bis hin zu den
Funktionen von Hören und Sehen.
Das »Motto der Spezifität« – ein Beispiel
Lässt
sich erkennen, wie Spezifität bei der Verknüpfung von Komponenten
funktioniert, wenn die essentielle Kohärenz des Systems konstruiert
wird? Die rätselhafte Weise, nach der das Weiss’sche »Motto der
Spezifität« zur Konstruktion von Organisation bzw. Vereinheitlichung im
lebenden System auf der höchsten Komplexitätsstufe operiert, ist mir
vor vielen Jahren mit aller Macht nahe gelegt worden, als Daniel Stern
mir Gelegenheit gab, einige jener Filme über Neugeborene, die wir
während unser Langzeituntersuchung aufgenommen hatten, per
Einzelbild-Projektion zu prüfen. Bei der Szene handelte es sich um den
Ausschnitt aus einem dreiminütigen Film, den unser Beobachtungsteam bei
einem Hausbesuch eines unserer Neugeborenen am achten Tag nach der
Geburt aufgenommen hatte. In dieser Szene ist ein kleines Mädchen auf
dem Arm ihres Vaters zu sehen, der auf dem Rasen steht und sich mit
anderen Teammitgliedern unterhält, aufgenommen in normaler
Filmgeschwindigkeit von 30 Bildern pro Sekunde – das ist alles, was man
sieht (…). Im Laufe derselben wenigen Minuten, nun im
Einzelbild-Ablauf, sieht man den Vater, der einen kurzen Moment
hinunterblickt in das Gesicht des Babys. Seltsamerweise schaut das Baby
in demselben Bild hinauf in das Gesicht des Vaters. Dann beginnt der Arm
des Säuglings, der über den linken Arm des Vaters herunter hing, sich
aufwärts zu bewegen. Wiederum in denselben Bildern beginnt der Arm des
Vaters, der rechts seitlich herunter hing, sich aufwärts zu bewegen.
Bild für Bild bewegen sich die Hand des Babys und die Hand des Vaters
gleichzeitig nach oben. In dem Augenblick schließlich, als sich die
Hände vor dem Bauch des Babys treffen, ergreift die linke Hand des
Babys den kleinen Finger der väterlichen rechten Hand. In ebendiesem
Moment schließen sich die Augen des Babys und es schläft ein, während
der Vater sich weiter unterhält, offenbar komplett unwissend gegenüber
dem kleinen Mirakel von Spezifität in Zeit, Raum und Bewegung, das
gerade in seinen Armen stattgefunden hatte. Wie lässt sich eine
solche Spezifität der Verknüpfung zwischen Vater und Baby begründen?
Gab es im Gehirn des neugeborenen Mädchens eine »Repräsentation« des
väterlichen kleinen Fingers? Wusste es, »wo« es diesen zu greifen habe?
Als sich die Hand auf den Körper des Babys legte, spreizte der Vater
den kleinen Finger, trennte ihn von den anderen Fingern, denn sonst
hätte das Baby ihn nicht greifen können. Woher wusste er, das das Baby
den Finger greifen wollte? Wie konnten die Bewegungen von Vater und
Baby acht Tage nach der Geburt dermaßen präzise in Zeit und Raum
übereinstimmen? Betrachten wir hier ein Ganzheitsprinzip – ein Prinzip,
das auf ein darunter liegendes Spezifitätsprinzip in Zeit, Raum und
Bewegung aufbaut, das Richtungsverläufe zwischen Subsystemkomponenten
verbindet? Eine notwendige Verbindung, um die kohärente Ganzheit in
einem »System« zu konstruieren, von dem angenommen werden kann, das es
»lebt«? Könnte Tensegrität eine Illustration dieses Prinzips der
Ganzheit sein? Könnte dasselbe Prinzip, Richtungsverläufe zu
verbinden, auch dem Begriff der Abstimmung Daniel Sterns (1985), dem
Konzept der Kommunikation von Gehirn zu Gehirn Trevarthens (1979) oder
unserem zunehmend angewandten Konzept der Intersubjektivität zugrunde
liegen?
Selbst-Zusammenbau auf
psychischer Ebene
Wenn wir das Konzept der Spezifität auf
die Interaktion zweier Menschen erweitern, bauen wir eine Brücke
zwischen Prinzipien des Prozessverlaufs auf der Molekular-Ebene und
jenen Prinzipien auf individueller Ebene. Wie Menschen sich finden und
miteinander verbinden ist in der Psychoanalyse von aktuellem Interesse.
Damit können wir uns auf unserer Suche nach Prinzipien des
Prozessablaufs bei der Organisation von Kohärenz oder Einheit in
lebenden Systemen der Bewusstseinsorganisation zuwenden. In der
Arbeit »Dyadisch erweiterte Bewusstseinszustände und der Prozess des
therapeutischen Wandels« von Tronick et al. (1998), in der auch das
Still-face-Paradigma vorgestellt wird (siehe Kap. yyy), finden wir genau
jene Prinzipien wieder, die Ingber (1998) beschrieben hat. Bei Tronick
et al. (1998, S. 296) heißt es: Jedes Individuum ist als
selbst-organisierendes System zu verstehen, das seine eigenen
Bewusstseinszustände erschafft – Zustände der Organisation des Gehirns
–, die zunehmend kohärente und komplexe Zustände in Zusammenarbeit
mit einem anderen selbst-organisierenden System entwickeln. Ist die
[Spezifität der] Zusammenarbeit zwischen zwei Gehirnen erfolgreich,
vollbringt jedes einzelne systemische Prinzip die Ausdehnung seiner
Kohärenz und Komplexität – das Kind zur Handlungsperformanz im
dyadischen System befähigend, zu der es allein nicht in der Lage wäre. Tronicks
Beispiel beschreibt die Art und Weise, wie ein Verlaufsprinzip von
Prozessen in lebenden Systemen, ähnlich dem Konzept des
Selbst-Zusammenbaus von Ingber, auf der höchsten menschlichen
Komplexitätsstufe – auf der Stufe des menschlichen Bewusstseins –
bezogen werden kann. Wie wir noch sehen werden, bildet das
Spezifitätsprinzip der Verbindung, erforderlich für die
Selbst-Zusammensetzung von Komponenten zu größeren Ganzheiten auf der
Stufe des Bewusstseins, die Grundlage des von uns so genannten
Rekognitionsprozesses – ein Prozess, der zwei Bewusstseinszustände in
einem Moment der Entsprechung zusammenfügt. Gleichwohl bleibt ein
Widerspruch ungelöst. Die Spezifität der Verknüpfung muss aus einer
Aufhebung von Stressfaktoren zwischen gegenläufigen Kräften entstehen,
bewirkt durch den stetig fließenden Wandel von Zeit, Raum und Bewegung
innerhalb der Komponenten, die die hierarchischen Komplexitätsstufen
bilden. Sind vielleicht noch andere Mechanismen im Spiel, durch die
Verbindungsspezifität zustande gebracht wird? Zur Beantwortung dieser
Fragestellung könnte die Weiss’sche Fassung des Mottos der Spezifität
nützlich sein und diese erweitern. Wir nehmen an, dass die Ausdehnung
der Verbindungen durch ein zweites Prinzip erreicht: das Prinzip der
Rhythmizität. Wenden wir uns nun dem Beitrag zu, den das Thema der
Rhythmizität zur Frage der Erweiterung der Verknüpfungen zwischen
Säugling und seiner Welt zu leisten vermag.
Rhythmizität
Ein relativ
stabiler, aber elastischer Zusammenhalt von Komplexität im biologischen
System wird durch Kopplung und Synchronisierung biologischer Rhythmen
herbeigeführt. Das lebende System lässt sich als eine Symphonie
biorhythmischer Systeme innerhalb von Systemen begreifen. Eine schlichte
Metapher von Komplexität oder Chaostheorie gibt einen Überblick über
den Konstruktionsprozess von Rhythmen in einem nichtlinearen
dynamischen System: »Wenn ein Energiestrom in eine Matrix von
genügender Komplexität einfließt, die durch gewisse Parameter begrenzt
wird, tritt dieser als ein Strom wiederkehrender Muster in Erscheinung,
wobei jedes wiederkehrende Muster durch Merkmale von
Selbst-Ähnlichkeit wie auch Singularität gekennzeichnet ist.« Jedes
sich wiederholende Muster ähnelt also vorherigen Mustern und ist
gleichwohl auf seine Art einzigartig. Das kreative Potential eines
solchen Energiestroms lässt sich unter Rückgriff auf die Welt der
Mathematik anhand der wiederholten Iterationen einer simplen Formel der
fraktalen Geometrie illustrieren, die die Schönheit und Komplexität
der als Mandelbrot-Menge bekannten Darstellung konstruieren (Mandelbrot
1982). Selbst-Ähnlichkeit bei sich wiederholenden Mustern führt
unverzüglich zum Thema der Rhythmizität – und im biologischen System
zur biologischen Rhythmizität, ein Grundmerkmal lebender Systeme auf
allen Komplexitätsstufen vom Dinoflagellaten bis hin zum Menschen. Es
handelt sich um ein Merkmal der Natur, das die Lösungssuche eines dem
Leben zugrunde liegenden Widerspruchs unterstützt – die Art und Weise,
wie eine Komplexität verschiedenartiger selbstorganisierender
Komponenten aufgrund ihres Zusammenseins Kohärenz oder Einheit zu
erreichen vermag.
Expansion der
Rhythmizität
Fahren wir fort mit unserem Thema der
Rhythmizität als Bestandteil einer basalen Maschinerie des
Selbst-Zusammenbaus, durch die Kohärenz in lebenden Systemen erlangt
wird. Die Rhythmen oszillierender Systeme werden gekoppelt, wenn sie ein
Signal miteinander teilen. Kopplung vervielfältigt das Signal und
verstärkt die Inklusion sowie den Kohärenzgrad der Gemeinschaft der
Oszillatoren. Der Energiestrom wird angereichert. Deshalb lässt sich
die Konstruktion einer neuen Spezifität der Verbindung, die die
Inklusion zweier sich miteinander verbindender Bewusstseinszustände
erweitert, als motivational verstehen. Ein einfaches Beispiel ist das
nächtliche Einsetzen der Leuchtrhythmen in Gemeinschaften von
Glühwürmchen (Strogatz & Mirollo, zit. nach Peterson 1991). Die
Rhythmen gestalten sich, je tiefer die Nacht fällt, zunehmend
einheitlich, bis schließlich die ganze Gemeinschaft synchron leuchtet. Eine
faszinierende Entdeckung geht auf Young (1998) zurück, der herausfand,
dass in jeder einzelnen Komponente des Körpers einer Fruchtfliege –
Thorax, Rüssel, Fühler – biologische Uhren eingebaut sind, so dass die
Phasen-Verschiebung und Phasen-Synchronisierung von endogenen Rhythmen
sich für die Modifizierbarkeit, benötigt für ihre Anpassung, als
ebenso zentral erweisen wie für ihre Kohärenz als Fruchtfliege.
Wesentlich für die Kopplung zwischen rhythmisch oszillierenden Systemen
ist die Spezifität des geteilten Signals, mit anderen Worten: das
Timing und die Konfiguration des Kopplungssignals. Im Fall des Jet Lags
erleben wir beispielsweise einen Bruch der Kopplung mit der
Desorganisation, die mit der temporalen Fehl-Synchronisierung zwischen
unseren inneren Rhythmen und jenen unserer Umgebung einhergeht. Die
Phasen-Verschiebung von Rhythmen ist notwendig, um die
Verbindungsspezifität zu rekonstruieren, die für die Wiederherstellung
unseres Empfindens von kohärenter Organisation innerhalb des Timings
in einem neuen Umfeld benötigt wird. Innerhalb eines beide
Interaktionspartner steuernden Rhythmizitätsprinzips wird Kontinuität
aufrechterhalten, da Losgelöstsein, Abkoppeln (disengagement) nicht
Abbruch (disconnection) bedeutet. Eine nochmals provokantere
Perspektive von Rhythmizität in der biologischen Organisation bezieht
sich darauf, in welcher Form jedes Gehirn einheitliche Szenen und
Bedeutungen eigener weit verbreiteter Areale der Sinnesverarbeitung
zusammenfügt. Gray, Singer et al. (zitiert in Bower 1998) gehen von der
Annahme aus, das synchronisierte Rhythmen von Neuronenfeuern die
anatomische Verbindung und die chemischen Prozesse auslösen, die für
Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprache und gar Bewusstsein benötigt werden.
Rhythmischer elektrischer Output unter weit verstreuten neuronalen
Gruppierungen liegt im Zentrum der visuellen Wahrnehmung und
möglicherweise auch anderer Aspekte des Denkens – all dies lenkt unsere
Aufmerksamkeit hin zu einem verbindenden Schlüssel der Integration des
Biologischen, der Entwicklung und des Psychologischen: zum Gehirn.
Das Gehirn und der Prozess von Entwicklung
Eine
wichtige Brücke, die die Integration neuer Erkenntnisse über
biologische Prozesse mit neueren Perspektiven des Entwicklungsprozesses
erweitert, bildet unser verändertes Verständnis der Hirnfunktionen.
Als besonders bedeutungsvoll gilt das Zusammenspiel zwischen einer
Erfahrung des Kindes und der sich entwickelnden Morphologie des
kindlichen Gehirns. Zum Beispiel lernen wir, dass das frühe Erleben des
Babys die Morphologie seines Gehirns formt und modifiziert. Damit wird
ein Zugang zu einem neuen Verständnis langzeitlicher Auswirkungen
bestimmter negativer frühkindlicher Erfahrungen geschaffen, wie
Traumata und wiederkehrende pathogenetische Begegnungen, aber auch,
positiv betrachtet, eine vielfältigere Entwicklung des Gehirns. Gehirn
und Wahrnehmung Eines der grundlegendsten und für mich höchst
erstaunlichen Ergebnisse der letzten Jahre besteht darin, dass das
Gehirn in seiner Wahrnehmungsfunktion zuerst seinen sensorischen Input
in Einzelteile dekonstruiert, die die Wahrnehmung ausmachen. Das Gehirn
platziert jede einzelne Sinneskomponente des Input in eine Kategorie –
Linie, Farbe, Tiefe, Kontur, Bewegung –, die es dann verarbeitet, jede
Kategorie in einem unterschiedlichen Hirn-Areal. Anschließend wird die
Karte dieses weit verteilten Prozesses erneut zusammengefügt, um die
Gesamtwahrnehmung zu konstruieren, einschließlich relevanter affektiver
oder emotionaler Kategorien (die Werte des limbischen Systems, Edelman
[1992]), und anhand dieser Kategorien wird die Bedeutung der Wahrnehmung
für den Wahrnehmenden konstruiert (3). Die Integrationsfunktion des
Gehirns, das Ganze aus einer Wahrnehmung komplexer Inputs
zusammenzusetzen, ist als eine Funktion zu betrachten, die die
grundlegende Motivation bereitstellt, im Fluss unseres Bindungskontextes
alles zusammenzufügen, jeder auf seine individuelle Art und Weise.
Diese integrierende Funktion des Gehirns befähigt uns nicht nur,
idiosynkratische basale Anpassungsaufgaben auszuführen, sondern stellt
zudem eine organisierende Kraft auf den komplexesten Stufen menschlicher
Erfahrung dar. Es genügt, einen Blick auf die Bücherflut zu werfen,
die auf den Gebieten der Physik und Mathematik erscheinen, um sich ein
Bild davon zu machen, wie Wissenschaftler auch in diesen Bereichen
versuchen, durch die Integration neuer Theorien der Kosmologie, des
Chaos, der Komplexität und nichtlinearer Systeme alles zusammenzufügen
(4). Wir bereits erwähnt, findet sich ein Beispiel dafür, wie das
Gehirn einen Stufenbau von Subsystemen zwecks Formung eines integralen
Ganzen integriert, in der machtvollen, häufig ignorierten Hexerei der
»Gestaltwahrnehmung«. Verwiesen sei hier auf Heinz Pechtl (1990) und
dessen Verwendung der Gestaltfunktion (…). Die Bedeutsamkeit der
Hervorhebung ebendieser Hirnfunktionen liegt in ihrem Bezug zur Rolle
der Erwartung im Prozess des Fitting-together, also der Anpassung. Denn
lange bevor Sprache und Worte zur Verfügung stehen, werden adaptive,
interaktive und interpersonale Strategien organisiert: »Formen des
Zusammenseins« (Stern 1985b) und »implizites relationales Wissen«
(Lyons-Ruth 1999).
Anders denken
Will
man mit einer Integration auf der Ebene weitestmöglicher Perspektiven
beginnen, stellt man fest, dass in vielen Kulturen das
Rekognitionsprinzip und die Erfahrung des Erkanntseins von Anfang an als
wesentlich betrachtet wurde, wesentlich im Sinne einer Vitalisierung
individuellen Erlebens in Momenten des Zusammenseins mit einem
größeren, inklusiveren Ganzen. »Herr, du hast mich erforscht und du
kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir [...] Noch liegt
mir das Wort nicht auf der Zunge – du, Herr, kennst es bereits«, heißt
es im Psalm 139. Wenn ich die Vorstellung eines anderen Denkens zum
Ausgangspunkt nehme, frage ich gleichzeitig: »Warum nicht beginnen mit
dem zentralen Prinzip der Organisation lebender Systeme: dem Aspekt der
Einzigartigkeit?« Des Weiteren gehe ich davon aus, dass die Rekognition
von Einzigartigkeit – in einem interaktiven System – den Schlüssel zu
einem Organisationsprozess liefert, der auf der Konstruktion einer
grundlegenden Spezifität der Verbindung zwischen Komponenten basiert,
die notwendig ist, um die Kohärenz oder Ganzheit des Systems zu
erlangen, erforderlich für die Kontinuität von Leben. Dasselbe
Spezifitätsprinzip der Verbindung, wesentlich für den von Ingber
(1998) beschriebenen Selbst-Zusammenbau auf biologischer Ebene –
»Hospitalismus« in der Begrifflichkeit von Spitz (1945) –, ist eine
Beschreibung dessen, was geschieht, wenn in der frühkindlichen
Entwicklung eine solche Spezifität in Systemen fehlt. Auf der Stufe, zu
der uns die Komplexität individuellen Bewusstseins hinführt, scheint
die jeweilige Einzigartigkeit bei der Organisation individueller
Aufmerksamkeit und Wahrnehmung offenkundig zu sein. Wo also beginnen
angesichts dieser fortschreitenden komplexen Rekognition von
Einzigartigkeit? Ausgangspunkt unserer Untersuchung der Integration war
Websters Definition des Systems als »integrales Ganzes« sowie v.
Bertalanffys Prinzip der Organisation als wesentliche Beschreibung von
Systemen, die als lebend bezeichnet werden können. Die Richtlinie, die
uns einen Zugang zur Operationalisierung (oder zur Beobachtung) der
Rekognition des integralen Ganzen des Organismus innerhalb seines
Systems erlaubt, bietet das Konzept des Zustands. Zustand ist ein
Begriff mit einer spezifischen, empirisch validen Definition als
Deskriptor von Komplexität und Einheitlichkeit eines lebenden Systems.
Zustand ist definiert im Sinne einer Konfiguration der Werte eines
VariablenSets, das die Funktionen des Gesamtsystems in einem bestimmten
zeitlichen Moment charakterisiert, eine Konfiguration, die wiederkehrt
und die erkannt werden kann, wann immer sie erneut erscheint. Ein
Beispiel auf der Stufe des Neugeborenen bildet die Reihe von
(Erregungs)Zuständen im Schlaf-WachKontinuum, mit hoher Reliabilität
beobachtbar. Zu einem etwas späteren Zeitpunkt im Entwicklungsprozess
findet sich eine Reihe emotionaler Zustände, die Gefühle, das heißt
Affekte ausdrücken. Affekte sind beobachtbare Zustände, deren
Spezifität der Rekognition den Schlüssel zu Regulation, Anpassung und
Kommunikation bereitstellt. Es ist faszinierend zu beobachten, dass die
grundlegende Rolle des Anpassungsprozesses, ermöglicht durch die
Fähigkeit, den Zustand des »Anderen« wahrzunehmen, von der Fähigkeit
des Gehirns auf der oben genannten Gestaltwahrnehmung abhängt. Wir
können davon ausgehen, dass sich beides gleichzeitig entwickelt hat. Zudem
gewährleistet eine regelmäßige Wiederholung infantiler Zustände
innerhalb der basalen 24-Stunden-Periodizität größerer Systeme einen
Rahmen – einen Hintergrund – für die zeitliche Organisation – ein
wesentlicher Aspekt im Prozess der Anpassung. Wie in dem Beispiel weiter
oben geschildert, wiederholen sich Austauschweisen zwischen Kind und
Bezugsperson. Dies schafft die Voraussetzung für wiederkehrende
Gestaltwahrnehmungen, die die Interaktionen einrahmen – ein für jedes
System charakteristischer Konfigurationsprozess. Wir vermuten, dass das
Kind – innerhalb dieses vertrauten Rahmens, in dem unerwartete
Perturbationen und deren Reparatur bei der Rückgewinnung neuer
Verknüpfungsmomente den Strom wiederkehrender Folgen von Harmonie zu
Disharmonie und wiederum zu Harmonie konstruieren –, dass also hier das
Kind beginnt, sich seines eigenen Zustands bewusst zu werden. Unsere
Fähigkeit zum Selbst-Gewahrsein erlaubt uns, eine Lösung für das
Paradox zu finden, mit dem wir unsere Ausführungen begonnen haben.
Innerhalb des Selbst-Gewahrseins vertrauter Zustände in wiederkehrenden
Erwartungsmustern in fließenden Abläufen von Sequenz und Konsequenz
kann Kontinuität oder Dauer bei gleichzeitiger Diskontinuität erlebt
werden. Erwünschte Zustände des Kindes entwickeln sich zu
motivationalen Zielen. Der eigene erwünschte Zustand übernimmt die
Rolle, die Richtung zu organisieren, die die Einleitung der nächsten
Bewegung im Anpassungsprozess nehmen wird. Zudem wird mit der sich
wiederholenden Rekognitionsspezifität, die für die Regulierung des
infantilen Zustands notwendig ist, der Rahmen für die Wiederholung
eines höchst vitalen Ereignisses sichergestellt – für den
»Begegnungsmoment« zwischen Säugling und Bezugsperson in Zuständen
mutueller Bereitschaft. Die regelmäßige Wiederkehr einer Begegnung in
Zuständen wechselseitigen Bereitseins ist eine grundlegend andere
Erfahrung als jene des kindlichen Hervorlockens einer Reaktion bei der
Bezugsperson oder vice versa. Das Erlangen eines Anpassungszustands
bedeutet zwar eine grundlegende Entlastung und Unterstützung, wird aber
gleichzeitig auch als etwas »Naturgegebenes« erlebt. Der
Entwicklungsprozess konstruiert für die Regulierung eines jeden Systems
von Anbeginn eine Organisationslogik (Sander 1985) der je einzigartigen
Muster, die das charakteristische Gleichgewicht im Sinne dessen, was
gegeben ist und was erworben werden muss, definiert. Das Empfinden von
Befriedigung und Erfüllung, das dem System Kohärenz oder Ganzheit
zuführt und eine stabile Zustandsregulierung gewährleistet, kann für
beide Partner eine Quelle der Motivation sein, den nächsten
interaktiven Schritt zu steuern. Da der Entwicklungsprozess als ein
ständiges Fließen von Veränderungsprozessen zu verstehen ist, muss
selbst schon die Rekognition des Zustands ein sich entfaltender Prozess
sein, der die Spezifität der Begegnung in neuen Konfigurationen
fortschreitender Komplexität im Laufe des Entwicklungsprozesses
konstruiert. Wie (in Kapitel 4) ausgeführt, beinhalten die ersten
fünf Anpassungsstadien, an denen das Kind und sein fürsorgendes Umfeld
in den ersten 18 Lebensmonaten teilhaben, eine direkt zu beobachtende
fortschreitende Komplexität des Verhaltens und der Handlungsinitiative
seitens des Kindes. Am Anfang des zweiten Lebensjahres durchlebt das
Kleinkind ein neues Stadium entwicklungsbedingter Komplexität, ein
emergierendes Gewahrsein seiner inneren Empfindung von Intentionalität,
prägnant beschrieben von Spitz (1957) am Beispiel des
»Nein-Kopfschüttelns« (S. 86) im Alter von etwa 15 Lebensmonaten. Hier
lässt sich unmittelbar die sechste Anpassungsstufe der »Rekognition«
erkennen, mit ihrem profunden Fortschritt der Bewusstseinsorganisation –
dem Gewahrwerden des eigenen Zustands und der Rolle als Initiator
eigener Handlung. Wir denken an die Fähigkeit des Gehirns,
Erwartungsmuster zu konstruieren inmitten wiederkehrender affektiv
positiver Begegnungsmomente wie auch affektiv negativer Erfahrungen
bezüglich erneuter Einschränkungen spontanen initiativen Verhaltens.
Dieser auftauchende Entwicklungsschritt eines inneren Gewahrseins
eigener Intentionen durch den Anstoß von Handlung schafft die
Voraussetzungen für das Erleben des Kindes, das dem »Anderen« gewahr
ist, dessen es in sich selbst gewahr ist – seiner Zustände,
Erlebnisweisen und der Richtung seiner Ziele und Intentionen. Die
Voraussetzungen sind geschaffen, dass die Erwartung die Initiative
gestaltet, noch bevor es zur Handlung kommt. Somit kann festgehalten
werden, dass gegen Ende der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres
oder in den ersten Monaten des dritten Lebensjahres der
Anpassungsprozess auf der Stufe inneren Gewahrseins und der
Sequenz-KonsequenzErwartung ausgetragen wird. In diesem Alter taucht im
Kleinkind die Fähigkeit auf, spontanes Handeln zu zügeln und
Handlungsintentionen zu verbergen. Die wechselseitigen Modifikationen
und Angleichungen des Anpassungsprozesses werden auf der Grundlage
beider Empfindsamkeit gegenüber dem eigenen Selbst und gegenüber dem
Anderen konstruiert. Die Rekognitionsspezifität ist ein Anhaltspunkt im
Hinblick auf Erfolg oder Misserfolg des Anpassungsprozesses oder –
falls Disruptionen nicht repariert werden konnten – im Hinblick auf eine
Schieflage der systemischen Organisation in Richtung Projektionen und
Fehlabstimmungen. Gleichzeitig aber gewährleisten
Befriedigungsgefühle (Tronick et al. 1998) oder erhöhte Affektmomente
(Beebe & Lachmann 1996) die grundlegende positive Motivation, in dem
von beiden konstruierten nichtlinearen dynamischen System den
jeweiligen Partner dazu zu bewegen, die positive affektive
Begleiterscheinung des Zusammenseins anzustreben. Es handelt sich
lediglich um eine minimale (Fort)Bewegung, im Sinne eines gemeinsamen
Grundprinzips, beginnend bei den von Ingber (1998) angeführten
Beispielen des Selbst-Zusammenbaus auf biologischer Ebene bis hin zum
Selbst-Zusammenbau auf psychologischer Ebene – zwei einzigartige
Organisationen des Gehirns von Mutter und Kind, die sich selbst zu einer
zunehmend größeren, inklusiveren Kohärenz der
Bewusstseinsorganisation im gemeinsamen Tun zusammenfügen. Mit der
Spezifität der Verschränkung dehnt sich der Energiestrom aus, da die
Zustände der Organisation des Gehirns beider Partner ihre Komplexität
in Richtung neuer und umfassenderer Zustände kohärenter Organisation
erweitern, wodurch das Kind befähigt wird, etwas zu tun, was es allein
zu tun nicht vermöchte. Hier begegnet uns ein weiteres Mal die
Überlegung von Tronick et al. (1998): die »dyadische Erweiterung der
Bewusstseins«.
Der
psychotherapeutische Prozess
Wir haben in diesem Beitrag
mit der Herausforderung einer Integration auftauchenden Wissens auf
biologischer, entwicklungspsychologischer und psychotherapeutischer
Ebene begonnen und versucht, drei Grundprinzipien des Prozessablaufs in
lebenden Systemen herauszuarbeiten, der sich auf alle drei Ebenen
anwenden lässt. Betrachten wir nun die psychotherapeutische,
insbesondere die psychoanalytische Ebene, so lässt sich der
therapeutische Prozess im Wesentlichen als ein Prozess begreifen, der
Wandel in die Bewusstseinsorganisation einführt, eine Veränderung
bezüglich der Art und Weise, wie wir im Kontext der Geschehnisse um uns
herum unserer selbst gewahr werden, was uns wiederum befähigt, eine
neue und inklusivere Selbst-Kohärenz innerhalb unserer
lebenserhaltenden Umwelt zusammenzufügen. Vor dem Hintergrund der
Progression interaktiver Ereignisse, die die fließenden Prozessverläufe
auf biologischer Ebene wie auf der Ebene frühkindlicher Entwicklung
konstruiert, stellt sich folgende Frage: Wie gestalten sich diese
Prinzipien auf der therapeutischen Ebene? Bei der Integration des
Biologischen mit Entwicklungsprozessen haben wir, ausgehend vom Aspekt
der Organisation über jenen der Ganzheit bis hin zum Zustand, eine
Übertragung versucht, beginnend mit der von uns aufgestellten Liste
adaptiver Problemstellungen in der frühkindlichen Entwicklung
hinsichtlich der Regulierung fließenden Wandels infantiler Zustände
innerhalb des 24-stündigen Zyklus von Tag und Nacht. Ein Beispiel
für die Wirksamkeit der Rekognition des Zustands im Bereich der
Psychoanalyse findet sich in der Beschreibung des psychoanalytischen
Hörens bei Schwaber (1983) (…). Die Autorin richtet ihre Wahrnehmung
und ihr Einfühlungsvermögen im Verlauf der Stunde auf die fließenden
Zustände und Zustandswechsel im Patienten wie in sich selbst. Jeder
Wechsel bietet ihr Gelegenheit, zu prüfen und ihrem eigenen Gewahrsein
von Wandel nachzugehen, dieses mit jenem seitens des Patienten im
beidseitigen Interaktionsfluss zusammenzufügen und schließlich einen
neuen Moment der Begegnung zu erreichen, wenn »Richtung« und »Intention«
sich zu klären beginnen. Die beschriebene Anpassungsaufgabe, die
vom Erkennen einer Veränderung des Zustands zum Erkennen eines
Prozesses der »Ausbettung«, der Lösung des »Selbst« aus dem »Anderen«
führt, illustriert die fortschreitende Komplexität der
Rekognitionsspezifität im Entwicklungsverlauf. Die Art und Weise, wie
die Spezifitätserfahrung, erkannt zu werden, übermittelt wird, liegt
offensichtlich im Zentrum dessen, was eine effektive Deutung bewirkt:
neue »Momente der Begegnung« zwischen Patient und Analytiker, die
Inklusion neuer erweiterter Zustände bewusster Verknüpfungen. Ich
möchte mit einer klinischen Vignette von Lyons-Ruth (2000) schließen.
Die Autorin schildert einen kurzen Austausch mit einer selbst-destruktiv
agierenden Adoleszentin in den ersten Behandlungsmonaten der
Vertrauensbildung. In der besagten Stunde listete die Patientin wütend
ihre Enttäuschung über all jene Personen auf, die ihrer Behandlung
beigeordnet waren. Lyons-Ruth schreibt: »Die Patientin sah mich
zweifelnd an und schwieg. Ich fragte, worüber sie nachdenke, warum sie
verstummt sei. Sie sagte: ›Man weiß nie, was diese Leute denken. Es sind
ja auch nur Menschen. Wahrscheinlich überlegen sie, was sie noch alles
zu erledigen haben, zur Reinigung gehen müssen oder ähnliches‹« (S.
92–93). Die Autorin merkt an, dass die Wahrnehmung der Patientin, von
wichtigen Anderen übergangen zu werden, bereits Bestandteil des
Dialogs war, so dass ein möglicher Kommentar gegenüber der Patientin,
diese habe sich in der Therapie wohl nicht wahrgenommen gefühlt, in
ihr, der Analytikerin, ein steriles und abstraktes Empfinden ausgelöst
habe. Anschließend reflektiert sie kurz ihr eigenes Erleben und merkt
an, dass sie sich in diesen ersten Monaten der Therapie von der
Patientin angegriffen und entleert gefühlt habe. Daraufhin sagt sie zu
ihrer Patientin: »Wollen Sie wissen, was ich gedacht habe, als ich Ihnen
zuhörte?« Die Patientin nickte und die Therapeutin fuhr fort: »Ich
habe gedacht, welch schwere Widersacherin Sie sich selbst gegenüber
sind. Sie sind sehr achtsam, diszipliniert und empfindsam (alles
offenkundige Züge dieser hervorragenden Studentin), aber in diesem
Augenblick sind all diese Kräfte gegen Sie gerichtet, statt im Dienst
lebensbejahender Weiterentwicklung zu stehen« (S. 93). Daraufhin
äußerte sich die Patientin das erste Mal in bedeutsamer Weise über ihr
eigenes inneres Erleben: dass sie sich wie eine missbrauchte Ehefrau
fühle, die sich von ihrem Ehemann nicht trennen könne, der »Ehemann«,
der ihr selbst-destruktives Verhalten verkörpere, weil sie glaube, dass
er der einzige sei, der sie liebe. Diese Episode nutzt die Autorin,
um auf die multiplen Kommunikationsebenen hinzuweisen, die einem solchen
therapeutischen Austausch innewohnen: „Nach meinem Verständnis
hatte das, was zwischen uns durchgesickert war, mehr mit einer Theorie
komplementärer Handlungsabläufe und Rekognitionsprozesse gemein als
mit einer Theorie der Deutung. Sie hatte ein zentrales ›Zusammensein‹
mit in das Behandlungszimmer gebracht, das eine zornige Opposition
gegenüber den ›blinden Anderen‹ einschloss. Aber in diesem Moment ging
es in ihrem Entwicklungsprozess um einen Widerstand: Sie wandte sich von
den wichtigen Anderen in ihrem Leben ab und bewegte sich in Richtung
ihrer selbst. Ich improvisierte so gut ich konnte, um implizit eine
Reihe ihrer Kommunikationsebenen mir gegenüber zu erkennen und so neue
Wege der Zusammenarbeit zu eröffnen, ohne dabei ihre Abwehren
niederzukämpfen oder ihr Selbstwertgefühl zu unterwandern. Im Laufe
dieses Austauschs zeigte sich bei ihr eine tiefere Bereitschaft, ihre
innere Welt mit mir zu teilen, eine Bereitschaft zu einer für uns beide
wahrnehmbaren Welt. Gleichwohl verbalisierten wir unsere geteilte
Wahrnehmung dieses Moments erst sehr viele Sitzungen später“ (S. 93). Es
war lediglich das Geschehen eines Moments – ein Moment allerdings, der
unvergessen blieb. Dieses Beispiel illustriert die Spezifität oder
Übereinstimmung therapeutischer Rekognitionsmomente, in denen eine
komplexe Konfiguration interaktiver Elemente zwischen PatientIn und
TherapeutIn zu einem spezifischen Zeitpunkt genügend abgeglichen sein
muss, sollen neue Möglichkeiten eröffnet und beider Tun miteinander
gestaltet werden.
Zusammenfassung
Die
Annahme ist, dass Elemente des Modells des Rekognitionsprozesses mit
seiner simplen Kernaussage und Kulmination der Vorstellung einer
Begegnungsstruktur, die sich um die Spezifitätserfahrung in Momenten
geteilten Gewahrseins zentriert, der Komplexität der Bereiche der
biologischen Organisation, des Entwicklungsprozesses sowie des
therapeutischen Prozesses unterliegen und diese vereinfachen. Die
Kernüberlegung ist schlicht: Sie beschreibt einen Schlüsselmoment der
Verbindung oder Kopplung, der innerhalb eines Rahmens wiederkehrender
Begegnungen stattfindet – ein »Jetzt«-Moment, der die Organisation
verändert. Es ist ein Jetzt-Moment des Erkennens und Erkanntwerdens bei
der Steuerung eines hierarchisch selbst-organisierenden
Systemprozesses, der einem dyadischen System im Verlauf seiner
Komplexitätsausdehnung Kohärenz oder Ganzheit verleiht. Zudem ist der
Jetzt-Moment ein zentraler Moment der Regulierung, Anpassung und
Integration: das Erleben seiner selbst und der Bezug dieses Erlebens zum
Erleben des Anderen.
Anmerkungen
(*)
Aus einem Vortrag gehalten am Division 39 Symposium der American
Psychological Association (1998). Titel des Symposiums: »Organizing
Complexity Within the Psychoanalytic Framework: Inward Integration of
Emerging Knowledge of Developmental Process, Biological Systems, and
Therapeutic Process. (1) Beebe & Lachmann (1996) haben sich auf
eine ähnliche Suche nach Prinzipien des Prozessablaufs in lebenden
Systemen und auf der Ebene des Menschen begeben, indem sie drei
herausgehobene Prinzipien beschrieben: Regulierung, Unterbrechung und
Wiederherstellung sowie gesteigerte Affektmomente. Die Erfahrung
gesteigerter Affektmomente gewährleistet die grundlegenden positiven
Affekte bei der Erfahrung jenes »Zusammenseins« mit einem Anderen. Auf
psychischer Ebene heißt das, dass jene Ereignisse, die das Erleben
positiver Affekte bewirken, den essentiellen motivationalen Impetus
hervorrufen, der uns vorantreibt, eine unterbrochene Verbindung zu
reparieren, sie wiederherzustellen. Ohne diesen positiven Ausblick als
Teil unserer Erwartungshaltung sind wir anfällig für Desorganisation
wie auch Depression oder Krankheit. (2) Eine von dem Architekten F.
Buckminster Fuller geprägte Terminologie, die den Zusammenschluss von
Spannung (tension) und Einheit (integrity) beschreibt [A.d.Hg.]. (3)
Wahrnehmungsfunktion schließt das Wahrnehmen der »Richtung« eigener
interaktiver Austauschweisen mit ein. Als Teil dieses Prozesses wird das
kindliche Repertoire aktueller Verhaltensstrategien, mit signifikanten
Anderen »zusammen zu sein« – Mutter, Vater etc. –, innerhalb der
Idiosynkrasien des spezifischen Fürsorge-Systems konstruiert (siehe
z.B. Stern 1985b). (4) Zum Beispiel geleitet David Layzer (1990) den
Leser vom Big Bang zur Organisation des Bewusstseins. Vgl. Stuart
Kaufman (1995) vom Santa Fe Institute; Nobelpreisträger Murray
Gell-Mann (1994); Ilya Prigogine (1997), der versucht, lineare,
Newtonianische deterministische Physik und die kreative, offene,
probabilistische nichtlineare Welt der Quantenmechanik zusammenzufügen,
sowie schließlich Wilson (1999). Diese Literatur legt eine
Integrationsstrategie des Denkens dar, die uns vom Hintergrund der
weitestgefassten Perspektiven zum Vordergrund des Details führt, das
ein bestimmtes Prinzip exemplifiziert – und vice versa.
Bibliographie
Anthony, E.J.
(1975): Exploration in Child Psychiatry. New York (Plenum). Beebe, B.,
& Lachmann, F.M. (1996): Three principles of salience in the
organization of the patient-analyst interaction. Psychoanalytic
Psychology, 13, 1–22. Dt.: Drei herausgehobene Prinzipien in der
Organisation der Patient-Analytiker-Interaktion. In: Säuglingsforschung
und die Psychotherapie Erwachsener. Wie interaktive Prozesse entstehen
und zu Veränderungen führen (206–229). Aus dem Amerikanischen von H.
Haase. Stuttgart (Klett-Cotta) 2002. Benjamin, J. (1995): Like
Subjects, Love Objects: Essays on Recognition and Sexual Difference. New
Haven, CT (Yale University Press). Bertalanffy, L. von (1949): Das
biologische Weltbild. 2 Bde. Bern (Francke Verlag). Neudruck: Wien
(Böhlau) 1990. Bibel: Die Psalmen. Bower, B. (1998): All fired
up: Perception may dance to the beat of collective rhythms. Science
News, 153, 120–123. Edelman, G.M. (1992): Bright Air and Brilliant
Fire: On the Matter of the Mind. New York (Basic Books). Dt.: Göttliche
Luft, Vernichtendes Feuer. Wie der Geist im Gehirn entsteht – die
revolutionäre Vision des Medizin-Nobelpreisträgers. Aus dem
Amerikanischen von A. Ehlers. München, Zürich (Piper) 1992. Freeman,
W. (1994): Societies of Brains. Hillsdale, NJ (Lawrence Erlbaum
Associatiates, Inc.). Freeman, W. (1999): How Brains Make Up their
Minds. London (Weldenfeld & Nicholson). Gell-Mann, M. (1994):
The Quark and the Jaguar. New York (Freeman). Dt.: Das Quark und der
Jaguar: Vom Einfachen zum Komplexen; die Suche nach einer neuen
Erklärung der Welt. Aus dem Amerikanischen von I. Leipold und T.
Schmidt. München (Piper) 1994. Ingber, D.E. (1998): The architecture
of life. Scientific American, 278, 48–58. Kaufman, S. (1995): At
Home in the Universe. New York (Oxford University Press). Layzer, D.
(1990): Cosmogenesis: The Growth of Order in the Universe. New York
(Oxford University Press). Dt.: Die Ordnung des Universums. Aus dem
Amerikanischen von A. Ehlers. Frankfurt/Main, Leipzig (Insel Verlag).
1997. Lyons-Ruth, K. (1999): Two-person unconscious: Intersubjective
dialogue, enactive relational representation, and the emergend of new
forms of relational organization. Psychoanalytic Inquiry, 19, 576–617. Lyons-Ruth,
K. (2000): »I sense that you sense that I sense«: Sander’s recognition
process and the specificity of relational moves in the psychotherapeutic
setting. Journal of Infant Mental Health, 21, 85–99. Mandelbrot,
B.B. (1982): The Fractal Geometry of Nature. New York (Freeman). Dt.:
Die fraktale Geometrie der Natur. Aus dem Englischen von R. & U.
Zähle. Basel/Boston/Berlin (Birkhäuser) 1991. Peterson, I (1991):
Step in time: Exploring the mathematics of synchronously flashing
fireflies. Science News, August 31, 136–137. Prechtl, H.F.R. (1990):
Qualitative changes of spontaneous movement in foetus and pre-term
infants are a marker auf neurological dysfunction. Early Human
Development, 23, 151–159. Prigogine, I. (1997): The End of
Certainty. New York (The Free Press). Sander, L.W. (1985): Toward a
logic of organization in psychobiological development. In: H. Klar &
L. Siever (Eds.): Biologic Response Styles. Clinical Implications
(129–166). Washington, DC (APA). Schwaber, E. (1983): Psychoanalytic
listening and psychic reality. International Review of Psychoanalysis,
10, 379–392. Seligman, S., & Shanok, R. (1995): Subjectivity,
complexity and the social world: Erikson’s identity and contemporary
relational theory. Psychoanalytic Dialogues, 5, 537–565. Spitz, R.
(1945): Hospitalism. The Psychoanalytic Study of the Child, 1, 53–74.
Dt.: Hospitalismus I – Hospitalismus II. Die anaklitische Depression.
In: G. Bittner & E. Schmid-Cords (Hg.): Erziehung in früher
Kindheit; pädagogische, psychologische und psychoanalytische Texte.
München (Piper) 1968. Spitz, R.A. (1957): No and Yes. On the
genesis of human communication. New York (International Universities
Press). Dt.: Nein und Ja: die Ursprünge der menschlichen Kommunikation.
Aus Englischen unter Mitarbeit des Verfassers von K. Hügel. Stuttgart
(Klett-Cotta) 1992, 4. Auflage. Stern, D. (1985a): Affect Attunement.
In: J.D. Call, E. Galenson, & R.L. Tyson (Eds): Frontiers of Infant
Psychiatry (Vol. 1, 3–14). New York (Basic Books). Stern, D.
(1985b): The Interpersonal World of the Infant. New York (Basic Books).
Dt.: Die Lebenserfahrung des Säuglings. Aus dem Amerikanischen von W.
Krege, überarbeitet von E. Vorspohl. Stuttgart (Klett-Cotta) 1998. 6.
Auflage. Trevarthen, C. (1979): Communication and cooperation in
early infancy: A description of primary intersubjectivity. In: M.M.
Bullowa (Ed.): Before Speech: The Beginning of Interpersonal
Communication (321–347). New York (Cambridge University Press). Tronick,
E.Z., Bruschweiler-Stern, N., Harrison, A., Lyons-Ruth, K., Morgan,
A.C., Nahum, J.P., et al. (1998): Dyadically expanded states of
consciousness and the process of therapeutic change. Journal of Infant
Mental Health, 19, 290–299. Weiss, P. (1947): The problem of
specificity in growth and development. Yale Journal of Biology &
Medicine, 19, 234–278. Weiss, P. (1970): Whither Life Science?
American Scientist, 58, 156–163. Wilson, E.O. (1999): Consilience: the
Unity of Knowledge. New York (Vintage Books). Dt.: Die Einheit des
Wissens. Aus dem Amerikanischen von Y. Badal. München (Goldmann) 2000. Young,
M.W. (1998): The molecular control of circadian behavioural rhythms and
their entrainment in drosophila. Annual Review of Biochemistry, 67,
135–152.
Mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta-Verlages
|
|
|