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Vorabdruck aus Petra Rechenberg-Winter, Esther Fischinger: Kursbuch systemische Trauerbegleitung

Rechenberg-Winter: Trauerbegleitung Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008 (April)

256 S., kartoniert incl. einer CD

Preis: 39,90 €

ISBN-10: 3525491336
ISBN-13: 978-3525491331


Verlagsinformation: "Trauerbegleitung systemisch – was ist das? Petra Rechenberg-Winter und Esther Fischinger führen im ersten Teil ihres Buches ausgewähltes Grundlagenwissen zum Verständnis von System und Trauer zusammen, um im zweiten Teil ihren Ansatz systemischer Trauerbegleitung vorzustellen. Theoretische Betrachtungen werden durch praxiserprobte methodische Zugänge ergänzt, ausgewählte Aspekte und Vorgehensweisen anhand eines fiktiven Fallbeispiels illustriert. Diesen Praxisteil erweitern Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Mit ihren Kasuistiken bieten sie im dritten Teil Werkstatteinblicke, die bei aller Verschiedenheit des Settings und der Verlustsituationen der gemeinsame Nenner verbindet, trauernde Menschen in Umbruchsituationen ihres Lebens entwicklungsorientiert zu begleiten. Einen Schwerpunkt bildet die Situation trauernder Kinder. Die beiliegende CD enthält Arbeitsblätter, Handouts und Beispiele kreativer Umsetzung."


Nachfolgender Text ist ein Auszug aus dem 3. Kapitel über Systemische Trauerbegleitung


Trauer in der Kinder- und Jugendzeit: Verlust des eigenen Lebens (pädiatrische Palliativversorgung)

Wenden wir uns jetzt der außerordentlichen Situation der Trauer in der pädiatrischen Palliativversorgung zu mit folgenden Fragen: Wie trauern Kinder um sich selbst und wie können wir – die wir uns in ihnen betrauern – sie begleiten? Wenn wir mit Sterbenden und ihrer Trauer in Kontakt treten, sind wir in allen Dimensionen unseres professionellen und persönlichen Lebens gefordert. Geht es um den vorzeitigen Abschied von Kindern, werden wir mit jeder denkbaren Qualität unseres Handelns und unserer Haltung versuchen, Sorge zu tragen, die Begleitung dezidiert analog zu den Bedürfnissen der jungen Patienten und im Sinne der Familien zu gestalten.
Der von den Betroffenen ausgehende Wunsch nach Unterstützung ist – gleich wem gegenüber – immer von intensiven Hoffnungsfunken und gleichzeitig von verzweifelten Versuchen, die aufbrechenden Ängste zu kontrollieren, durchdrungen. Scheinbar objektive Zustandsparameter auf der einen und die subjektive Befindlichkeitsebene der Kinder mit ihrer verdichteten Lebensäußerung auf der anderen Seite beeinflussen unsere Wahrnehmungen, unsere Wertungen und die daraus resultierenden Entscheidungsprozesse. Eine »Trauerbegleitung« mit dem traditionellen Fokus auf das gewordene Sein wäre den wunderbaren Gestaltungskräften der Kinder für das vergegenwärtigende Sein unangemessen. Sterbende Kinder sind – bis in ihre letzten Stunden hinein – mit uns (und manchmal auch für uns) lebende Kinder. Sie vertrauen auf die Bedingungslosigkeit in unserem emotionalen Engagement, sie verlangen kompetente Hilfe in der Symptomkontrolle, sie wünschen sich uns ehrlich: »Ehrlicher Umgang bedeutet dabei nicht, dem Kind Antworten auf Fragen zu geben, die es nicht gestellt hat, sondern die Zeichen des Kindes wahrzunehmen« (Duroux, 2006, S. 125).
Wenn wir uns auf ihren Abschied vorbereiten, ist die Chance größer, dass wir sie nicht daran hindern, den für sie geeigneten Augenblick zu wählen. Die kritische Beleuchtung der eigenen Rolle als Arzt, als Pflegekraft, als Seelsorger, als Pädagoge, Therapeut oder ehrenamtlicher Begleiter ist fundamentaler Bestandteil jeder Initiative, welche, in multidisziplinäre Teamentscheidungen eingebunden, ausschließlich im Dienste der Patientenfamilie steht.
Neben den allgemeinen medizinisch-pflegerischen Versorgungsnotwendigkeiten, sind es besonders die krankheitsspezifischen Faktoren (chronisch-progredienter oder akuter Verlauf; Art der Behinderung, der Organschädigung, Umfang der (Bewegungs-)Einschränkung; terminale Symptomatik), die Einfluss nehmen auf unsere Handlungsoptionen. Weitere Koordinaten stellen die Beurteilung der kognitiven und emotionalen Reife, vor allem aber die Einbettung des Kindes in sein unmittelbares Bezugssystem und wiederum dessen sozialer und kulturellreligiöser Hintergrund dar. In Extremsituationen erlangen die Herkunftswurzeln einer Familie besondere Bedeutung. Kulturgebundene, generationenübergreifende Erklärungsmuster zum Krankheitsverständnis, Traditionen im Umgang mit Körperlichkeit und Vorstellungen über den rituellen Rahmen der Verabschiedung wirken unmittelbar in das Stationsmanagement hinein. Ausführliche (anamnestische) Gespräche vertiefen das Verständnis auf beiden Seiten.
Das vorrangig bewegende Thema in Begleitprozessen im Kontext pädiatrischer Palliativversorgung dreht sich um die Frage der zumutbaren »Wahrheit« auf Seiten der Kinder und, damit verbunden, um das zu rechtfertigende Maß an »Offenheit« auf Seiten der Erwachsenen.
In jedem Kind schlummert ein tiefes (vorbewusstes) Wissen um die Geheimnisse der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Leben und Tod. »Sie fordern uns heraus […], überraschen uns […] Sie sind uns möglicherweise mit ihrem Wissen voraus« (Voss, 2007, S. 60). Wenn wir uns trauen, uns bei der Auswahl der stützenden Angebote von den Kindern selbst leiten zu lassen, binden wir sie rück an ihre eigenen Seelenheilkräfte. Dietrich Niethammer aus Tübingen (Akademie Tutzing, 2002) entwarf eine Art »Behandlungsvertrag« für eine respektvolle Kooperation mit seinen kleinen Patienten auf der Onkologie. Auf der Grundlage seiner wichtigen Vorschläge stellen wir nachstehend eine um einige Aspekte erweiterte »Charta für schwerkranke Kinder« vor:
  • Du darfst wissen, was du wissen möchtest.
  • Wir werden dich nicht anlügen.
  • Wir werden nur wirklich notwendige Behandlungen durchführen …
  • … und dafür sorgen, dass es dir dabei so gut wie möglich geht.
  • Wir werden darauf achten, dass du Zeit haben wirst, zu spielen, vorgelesen zu bekommen, mit deiner Familie zusammen zu sein, Musik zu hören, zu basteln. Bitte ergänze, was du gern tun möchtest …
  • Wir werden dir zuhören.
  • Du kannst uns sagen, was dir wichtig ist.
  • Du wirst nicht allein sein.
Die Art der Trauer sehr kranker Kinder und Jugendlicher ist eine vitale. Sie impliziert Ungeduld, Zornausbrüche, passagere oder andauernde Behandlungsverweigerung (besonders im fortgeschrittenen Krankheitsstadium). Manchmal kommt sie allerdings auch auf leisen Sohlen, nonverbal, in einem Blick oder einer Gestik der Bedürftigkeit nach Halt. Immer aber ist sie Teil des Kampfes um ein Leben in größtmöglicher Normalität.
Viele Kinder sprechen, auch wenn sie dies aufgrund ihres Alters, ihrer geistigen und sprachlichen Möglichkeiten könnten, nicht in der uns vertrauten Weise über ihren bevorstehenden Tod. Einige wollen über Vorgänge in ihrem Körper informiert werden, andere ausdrücklich nicht – zumindest unterscheiden sie immer wieder erstaunlich pragmatisch zwischen denjenigen Personen, die zuständig sind für Aufklärung und lindernde Hilfestellungen, und Menschen, mit denen sie bevorzugt über andere Kanäle (altersangemessene spielerische und kreativ gestalterische Komponenten, Malen und Musik etc.) kommunizieren. Einige von uns werden »frei«-gestellt von belastender Thematik, damit wir sie unterstützen können in ihren Refraktärzeiten, den Pausezeichen zwischen den anstrengenden Behandlungseinheiten; eine Annäherung an den letztmöglichen und irreversiblen Schritt geschieht in wechselvollen Zyklen. Häufiger teilen Kinder sich indirekt mit, indem sie ihre vorbewussten Ahnungen in Bildern ausdrücken (siehe Bürgin, 1978; Beispiele auf der CD) In der finalen Phase werden unmissverständliche Grundbedürfnisse körpersprachlich kommuniziert: Manche möchten dann in den Arm genommen werden, wollen Kuschelkontakt, gestreichelt, gekrault und massiert werden; nicht wenige ziehen sich zurück, wenden sich nach innen, zeigen uns ihre Erschöpfung und erlauben nicht einmal Mutter oder Vater (möglicherweise auch aufgrund sich krankheits- und medikamentenbedingt entwickelnder Hypersensitivität), sie anzufassen.
Allerdings fragen Kinder oft auch nicht nach dem, was sie wissen möchten, um uns Erwachsene zu schonen. Fast immer erleben wir ihr intuitives Bedürfnis, ihre nächsten Angehörigen zu schützen, da die verunsicherten, durch den Kummer, ihre Tochter, ihren Sohn zu verlieren, seelisch tief verletzten, von Schuldgefühlen geplagten Eltern – schließlich können sie quälende Behandlungsfolgen und den unvermeidbaren Tod nicht verhindern – an ihrer Belastungsgrenze angekommen sind. Signalisieren professionelle Begleiter schweren Herzens aber eindeutig, dass sie den Kindern als Gesprächspartner zur Verfügung stehen, dann tauchen oft sehr konkreten Fragen auf: Was genau passiert beim Sterben? Tut Sterben weh? Was kommt danach? Außerdem beschäftigen Kinder logische Überlegungen wie diese: Wenn ich tot bin, wer versorgt dann meine Zwerghasen? Die Vermächtnisse sind in ihrer Schlichtheit oft extrem berührend. Gegenstände, an denen ihr Herz hängt, sollen eventuell ihren Geschwistern oder Freunden weitergegeben werden, oder sie verfügen, wer vielleicht mit welchem Spielzeug später nicht spielen darf. »Kinder werden oft in ihrer letzten Lebensphase zu Gebenden. Für die Älteren ist es manchmal ein großes Bedürfnis, für bestimmte Menschen noch etwas zu basteln oder Dinge, die für sie von großem emotionalem Wert sind, zu verschenken. Kleinere Kinder dagegen verschenken Momente besonderer Aufmerksamkeit, stille Augenblicke inniger Nähe« (Führer, 2006, S. 18).
Den Wünschen der Kinder aufmerksam und ausführlich zuzuhören, sie sich vielleicht diktieren zu lassen, ein Erinnerungsbuch miteinander zu gestalten, Gefühle in farbige Sandsegmente zu übersetzen, mit älteren Jugendlichen eine Fotodokumentation als eine Art »Testament« zu planen, eine »Vernissage« dazu zu organisieren ist, wie man es nennen könnte, »Trauerarbeit in einem bunten Kleid« (siehe »Bilder einer Ausstellung« auf der CD). Wie wichtig können diese unscheinbaren und oft gänzlich unspektakulären Mitteilungswege für die Kinder selbst, aber auch für die Mitleidenden und Nachlebenden sein! Diesen Personenkreis nach Möglichkeit bereits in den Abschiedsprozess einzubinden, zeichnet ein präventiv-systemisches Grundverständnis aus.
Geschwisterkinder in dieser Phase, in der üblicherweise das schwerstkranke Kind fast ausschließliche Aufmerksamkeit generiert, als mitbetroffenes Subsystem in den gestalteten Abschied einzubeziehen, stellt eine zielführende Maßnahme der Frühintervention in der Trauerbegleitung dar. Nicht erst mit dem Tod von Bruder und Schwester ist das »familiäre Mobile« komplett durcheinander gewirbelt. Wir sollten uns bewusst machen, dass die Geschwister bereits ab Diagnosestellung und immer wieder während der vielleicht häufigen Aufenthalte ihres Bruders/ihrer Schwester in Krankenhaus, Reha- beziehungsweise Pflegeeinrichtung oder Hospiz bereits in eine fundamentale Verlusterfahrung eingetreten sind, ihr Leben ändert sich von Grund auf: Die geschwisterliche Bindungsperson steht nicht mehr in gewohnter Weise zur Verfügung, sie selbst fallen in der Dramatik der Ereignisse aus dem Fokus des Interesses all derer, die sie selbst für ihre eigene Entwicklung so dringend brauchen. Immer wieder werden sie ihr Zuhause, ihren Lebensmittelpunkt eintauschen gegen vorübergehende Unterbringung bei Verwandten, Freunden oder auch in Gästehäusern der hochspezialisierten Kinderheilkundezentren (dankenswerterweise über Stiftungen mittlerweile in großem Umfang gefördert). Durch Abwesenheit von Bruder oder Schwester (zuerst vorübergehend, dann endgültig) ergeben sich neue (Geschwisterrang-)Positionen. Diese erfordern, sich in andere Erwartungshaltungen, veränderte Pflichten, neue Rollenzuweisungen einzuüben. Geschwisterkinder verlieren einen Teil ihrer Kindheit, sie erleben eine tiefe Vertrauenskrise ihrer ursprünglichen Weltsicht und sie verändern ihr Selbstverständnis (Holzschuh, 2000). Die »verbotene« Trauer der jüngeren überforderten Systemmitglieder, oft erst nach dem Tod eines Kindes thematisiert, begleitet den Prozess jedoch von Anfang an (Geschwistertrauer).
Trotz erheblicher Opfer aller Familienmitglieder können aber auch die bestbetreuten kleinen Patienten nicht ausschließlich und flächendeckend von ihren Familienangehörigen um- und versorgt werden. Für Vertrauenspersonen, die sich das so schwer erkrankte Kind außerhalb seiner Familie sucht, ist das »stellvertretende Zuwendungshandeln« eine große Verführung. Es gibt wohl kaum eine vergleichbare Situation, in der wir alle so sehr dazu tendieren, folgenschwere Fehlhaltungen einzunehmen. Gehen zunehmend (Zukunfts-)Perspektiven verloren, durchlebt auch das Helfersystem Grenzerfahrungen. Verstärkt durch den »Sog« der wachsenden regressiven Bedürftigkeit und Abhängigkeit des Kindes wird der bevorstehende Verlust im Team – ob mit antizipierender Trauer und teilweisem »Besetzungsabzug« oder stillem Aufbegehren und intensivierter Aufmerksamkeit – mit einer ganzen Bandbreite von Emotionen des Betroffenseins beantwortet.
Im pädiatrisch-palliativen Behandlungsansatz sichert, erleichtert und tröstet das versierte ärztlich-pflegerische Gesamtkonzept und ein uneingeschränktes Beziehungsangebot des Teams an die kranken Kinder. Diesem Impuls folgen wir zumeist, jeder auf seine Weise und in Entsprechung eigener Verlustprägung, die uns sensibilisiert und mindestens im gleichen Maße auch vulnerabilisiert hat. Das Schmerzvolle, aber auch uns Anreichernde der Berührungsmomente mit Kindern in den letzten Lebenswochen kennen alle involvierten Begleiter. Eltern und andere wichtige Bindungspersonen des kleinen Patienten leisten am Limit, manche stehen kurz vor dem Zusammenbruch.
Stabilisierungsvorschläge für die Familien zu entwickeln und zu formulieren, gehört zum Alltag in der pädiatrischen Palliativversorgung. Und natürlich ist die bewusst abwägende kompensatorische Entlastungsofferte in einem partiell definierten Kontext eine ungeheuer wichtige Hilfe, um das primäre Unterstützungssystem zu stabilisieren! Exzellente multidisziplinäre Teamarbeit zeichnet ja gerade aus, dass verschiedene Ansprechpartner in unterschiedlichen Funktionen vom kranken Kind »erwählt« werden können, um seine widersprüchlichen Gefühle an ein variables Außen zu adressieren. Bestenfalls kann es bedarfs- und situationsabhängig auf individuelle »Rezeptoren« der jeweiligen Gegenübers reagieren. Dann vermag es sich aufgrund der von den Helferpersönlichkeiten ergänzend und nicht rivalisierend zur Verfügung gestellten Hilfs-Ich-Funktionen selektiv mitzuteilen, ohne in beziehungsdynamische (Team) oder intrapsychische (Familie) Loyalitätskonflikte verstrickt zu werden.
Dennoch müssen wir paradoxerweise in einer Situation, in der besonderer Bedarf besteht und die zu besonderem Engagement herausfordert, auch besonders behutsam agieren. Realisieren und Verleugnen der existentiellen Bedrohung lösen einander gerade bei jungen Kindern in rascher Folge ab. Ebenso wechseln Zeiten der intensiven Inanspruchnahme von Vertrauenspersonen mit Zeiten aktiver oder passiver Zurückweisung. Annäherung und Rückzug von Begleitern spiegeln diesen Prozess. Die Ausgleichsbewegungen sind ständig aufs Neue anzupassen, auch und gerade im Hinblick auf die Priorität des Schutzes der Familienintegrität. Vermitteln Kinder und Jugendliche ihre Erschütterungen, ihre Ängste und auch ihre »Entscheidungen« (zum Beispiel Ablehnung einer Transplantation) bevorzugt Drittpersonen, dann sollte dieser Vertrauensbeweis voller Respekt entgegengenommen und besondere Inhalte in begründbaren Ausnahmefällen auch im Rahmen der Schweigepflicht gewürdigt werden.
Die Auseinandersetzung mit den Themen der Abschiedlichkeit darf jedoch auf Dauer keinesfalls »Geheimnis eines Subsystems« bleiben. Vielmehr muss wohl jede erdenkliche Anstrengung unternommen werden, gemeinsam und sofern es das Entwicklungsalter erlaubt, mit den Patienten zu überlegen, wie sie be- und entlastende Gefühle und Gedanken mit den ihnen nächsten Menschen teilen können. Wir sind verpflichtet, im Auftrag der Kinder zu »dolmetschen«, das heißt ihnen und ihren Angehörigen Möglichkeiten aufzuzeigen und Hilfestellung anzubieten, sich einander auch in großer Trauer und Wut zuzumuten und dabei seelische Verbindung zu halten. Dann können die Familien schwerstkranker Kinder auch wieder an Bewältigungskompetenzen und vorhandene Ressourcen anknüpfen.
Die Empfindung, dass Kinder – in vielen Kulturen als rituell reine Wesen gewürdigt, den Göttern nah, und eine Projektionsfläche des fortdauernden Lebens per se – einfach nicht sterben sollten, sorgt für maximalen Einsatz als Gegenbewegung zu schwer erträglichen Ohnmachtgefühlen. »Im Bilde des Urkindes spricht die Welt von ihrer eigenen Kindheit, davon was Sonnenaufgang ebenso wie die Geburt eines Kindes über die Welt aussagt« (Jung u. Kerenyi, 1999, S. 59). Größenvorstellung und Ich-Idealisierung sind im Medizinsystem wohl unabdingbar notwendige Motivatoren, um auch aussichtslos scheinende Kämpfe gewinnen zu können. Immer wieder ereignen sich Remissionen und Wiedergesundung, oft einem Wunder gleich. Aber im Selbstverständnis des »Kämpfenden« wird ein im Sinne der Heilung oder Rettung des Kindes Nicht-mehr-handeln-Können möglicherweise als persönliche Kränkung oder als »Systemversagen« erfahren und bleibt als prädestinierende Verwundung erhalten.
Ohne durch das sich im vertrauten Kollegenkreis zugestandene oder auch bewusst nur mit sich geteilte Erleben heilsamen Trauerns werden die erlittenen Verluste aber nicht in die berufliche Identität integriert werden können. Die Enttäuschungswut und Verzweiflung von Eltern am Anfang ihres Trauerweges korrespondiert dann mit den Insuffizienzgefühlen der erschöpften Helfer. Wiederbegegnungen mit den »die Wahrheit suchenden« Eltern verstorbener Patienten gehört zu den ganz großen Herausforderungen des klinischen Wirkens. Vermeidung der Wahrnehmung von Betroffenheit und fehlende Anerkennung der Trauer als restituierender Kraftquelle erhöhen die Wahrscheinlichkeit von schleichenden Qualitätsverlusten in der Arbeit und Burnout-Syndrom (die nach dem Propheten benannte Eliasmüdigkeit des stets Erfolgreichen). Weit schlimmer, es kann dazu führen, dass man zur eigenen Entlastung die Verschlechterung des Gesundheitszustandes und den Tod von Patienten mehr oder minder offen mit mangelnder Compliance oder Therapiemüdigkeit in Verbindung bringt und damit dem Hinterbliebenensystem zusätzlich zu dessen Scham und »Überlebensschuld« noch die unbewussten Schuldgefühle der Professionellen »überwidmet«.
Mit der Stimme unseres eigenen »inneren Trauerkindes«, das viel erfahrener in den Wandlungszuständen einer permanenten Metamorphose ist als wir oft glauben, im Kontakt zu sein, bedeutet auch, sich einzuüben darin, jenseits seiner spezifischen Rolle und unbestrittenen fachlichen Funktion eine Authentizität der Haltung zu pflegen. Die Kunst könnte darin liegen, in einem dafür geeigneten Moment »innezuhalten «, um sich der die Weisheit des »one step behind«, das heißt dem Zusammenspiel von Führen und Geführtwerden, anzuvertrauen, wie es Roberto Piumini (2004) in seiner orientalischen Erzählung »Eine Welt für Madurer« so zauberhaft beschrieben hat.
Der Kunstmaler Sakumat soll auf Wunsch des reichen Burban für dessen schwerkranken Sohn durch die bildnerische Ausgestaltung der Palastzimmer die unerreichbar gewordene äußere Welt in die abgeschirmten Gemächer des 11-jährigen Jungen bringen. Es entsteht in wechselseitiger Achtsamkeit zwischen dem Maler und Madurer, seinem kleinen Schützling, ein den Initiationsweg beider Protagonisten spiegelnder »innerer Raum« in einer behutsamen gemeinsamen Projektion: »Sakumats Hand war ruhig in ihren Bewegungen. Sie konnte warten, bis die Zeichnung mit dem Wort, dem Lachen und der Erinnerung in Einklang war« (S. 41). Es manifestieren sich Seelenlandschaften, die sich den Phasen der Annäherung an den unausweichlichen Abschied gemäß entwickeln und laufend verändern:

»Im Vordergrund, gegen die Mitte der Wand zu – denn im Vordergrund war etwas wie leuchtende Luft, eine Durchsichtigkeit, die man sehen konnte – überquerten Nomaden mit einem Karren, der eine hellblaue Plane hatte, auf einer kleinen Holzbrücke einen reißenden Bach. Madurer hatte diese Bild in einem seiner Bücher gefunden und so sehr geliebt, dass Sakumat es auf der Wand nachgemalt hatte. Im Hintergrund aber, auf das kleine gescheckte Pferd, das an den Karren gebunden war, setzen die beiden ein Mädchen mit einem roten Kopftuch und nannten es Talya.
›Wo fährt der Karren hin, Madurer?‹
›Weit, weit in die Ferne, Sakumat.‹
›Ja, aber fährt er zu den Hügeln hinunter oder in die andere Richtung?‹
›Warum willst Du das wissen?‹
›Schau, hier nach der Kurve ist die Straße noch nicht weitergemalt. Wir können sie jetzt auf den Hügel hinaufführen, in einem großen Bogen bis zu jenem Dorf, oder wir können sie nach rechts abbiegen lassen, auf die neue Wand zu.‹
›Was wird auf der neuen Wand sein, Sakumat?‹
›Die Welt wird weitergehen. Haben wir vorgehabt, eine Ebene zu malen? Endloses Land bis zum Horizont.‹
›Ja, lass die Straße zur Ebene führen‹, sagte der Junge, ›Talyas Karren fährt genau dorthin. Und wenn er angekommen ist, steigt Talya von ihrem Pferdchen und pflückt Blumen. Aber mach bitte auch eine zweite Straße, die zum Dorf führt. Der Karren wird die andere nehmen, aber weil er es will, nicht weil es nur eine Straße gibt.‹
›Natürlich, Madurer. Es gibt nicht nur eine Straße‹« (S. 42ff).

Immer sind es gewachsene, dem kindlichen Gespür überantwortete und entschleunigte Entscheidungsprozesse, die der Begleiter Madurers befördert:

»Das Meer wurde im November fertig …
›Was ist denn das?«, fragte Madurer eines Morgens, nachdem er lange schweigend ein Stück des Horizontes betrachtet hatte … Dieser kleine Punkt auf dem Meer, etwas links von der Wolke. Siehst Du ihn?‹
›Ich weiß nicht, was es ist, Madurer‹, sagte der Maler, ›es ist mir noch nicht aufgefallen. Aber irgendwas muss es sein. Ein Vogel vielleicht?‹
›Nein … Vögel in so weiter Ferne sieht man nicht … was aber könnte es sein, Sakumat? Eine weit entfernte Insel?‹
›Natürlich. Oder eine nicht so ferne, aber sehr kleine.‹
›Oder ein Schiff!‹
›Ja.‹
›Wie sollen wir das je erfahren, Sakumat?‹
›Es genügt, wenn wir warten‹« (S.50 ff.).

So wird aus der Anmutung Gewissheit, aus einem statistischen ein bewegtes Sujet, die Reise zum Horizont hat ihre dynamische Metapher gefunden. Der Maler durchläuft parallel zu seiner Arbeit mit Madurer einen persönlichen – antizipierenden – Trauerprozess, er bereitet sich vor:

»Sakumat schritt die gemalten Wände ab, betrachtetet die Berge und die Ebene, die belagerte Stadt und das Meer, das Piratenschiff und die blühende Wiese […] dreimal durchschritt er langsam, wie er es zuvor draußen gemacht hatte, die Landschaften und bemerkte Dinge, von denen er nichts wusste, Formen, Bewegungen und Farben, die er sich nicht erinnerte, geschaffen zu haben.«

Der Begleiter wechselt zwischen Näheerleben und eigener Konsolidierung. Manchmal reitet er allein in die Berge und schaut auf die Ebene, spürt den bevorstehenden Abschied: »Wie aus den Narben eines Astes flossen aus seinen geschlossenen Lidern die Tränen« (S. 77).
Die voranschreitende und unaufhaltsame Krankheit des Kindes veranlasst Sakumat, dem Jungen maximale Autonomie im Gestaltungsprozess zu gewähren; einige Szenen entstehen jetzt in direkter Auftragslage. Auf Wunsch des Kindes wachsen fluoreszierende Ähren, die »in der Dunkelheit leuchten«, auf herbstlichen Feldern, ein Hirte, müde geworden über die Jahre, verschenkt einen Teil seiner Herde, Bären ziehen sich für einen langen Winterschlaf in ihre Höhlen zurück, die letzte Jahreszeit kündigt sich an. Sakumats Aufgabe ist es nun die Dyade in die Triangulierung, das Symbolhafte ins Dialogische überzuführen: Er unterstützt Madurers Intentionen, sich dem Vater, der an seinem Bett Wache hält, über das Bevorstehende mitzuteilen.
Madurer legt daraufhin »einen Finger vor den Mund, wie um kein Geheimnis preiszugeben: ›Bald wird Sakumat die Nacht malen, Vater‹« (S. 84). Sich der Trauer des bevorstehenden Verlustes nicht verschließend und doch Madurers Gegenwart reich ausgestaltend, codiert und decodiert der weise Sakumat den Abschiedsprozess; er hilft Vater und Sohn, sich in der Fülle des Gelebten voneinander zu lösen, und: »die Wiese erwacht zum Traum« (S. 99).
Eine dem Tag und der Stunde kostbar leichte Momente schenkende und sich gleichzeitig tiefernsten Begegnungen öffnende Begleitung ähnelt der Schwebekunst des Gleitschirmfliegens. Mit der den schwerkranken Kindern eigenen Kundigkeit für thermische Aufwinde gemeinsam zwischen Himmel und Erde unterwegs zu sein, bedeutet Lufträume zu durchmessen, unsichtbaren Spuren folgend, Spuren für andere hinterlassend. Wie Sandskulpturen haben die Ergebnisse unseres Einsatzes Ästhetik und Gültigkeit just für den einen (ewigen) Augenblick, in dem Begrenzung durch die Zeit und Auflösung in der Zeit zusammenfallen.
Diejenigen, die wir verabschieden, wechseln früher oder später aus der äußeren Realität in eine innere Realität für uns Helfer; sie verwandeln sich durch die spezifische Qualität der jeweiligen Beziehung, die wir mit ihnen aufgenommen haben, in intrapsychische Repräsentanzen, die auch unsere persönliche Entwicklung verändern. Sind wir mutig genug, uns darüber auszutauschen, wird diese Erfahrung zwangsläufig Auswirkungen haben auf die wertschöpfenden Anteile unseres Arbeit mit den betroffenen Kindern sowie den Stil unserer kollegialen Zusammenarbeit.

Trauer in der Lebensmitte

Impuls: Die besten Jahre

Das Hochplateau des besten Alters eröffnet einen gewissen Weitblick auf die aktuelle Lebenssituation, früher gestellte Weichen und persönliche Zukunftsoptionen. Einige Blickwinkel dazu:
  • Was heißt für mich als Frau/Mann Altwerden? Welche Bilder verbinde ich damit?
  • Welche (Vor-)Bilder für Altsein finde ich in meiner Herkunftsfamilie? Welche dieser Vorstellungen erscheinen mir nachahmenswert, welche lehne ich für mein Leben ab?
  • Welche Bilder zum Thema Alter kenne ich von meiner Partnerin/Freund? Wie wirken sie auf mich? Welche teile ich, welche sind mit meinen unvereinbar?
  • Welche meiner Altersentwürfe befürworten die einzelnen Menschen meines Lebenssystems? Welche lehnen sie ab? Gegen welche verwehren sie sich?
  • Was ist für mein weiteres Leben unverzichtbar?
  • Welche meiner Lebenserfahrungen möchte ich der nächsten Generation vermitteln?
Das sogenannte mittlere Alter, in dem die rechnerische Lebensmitte wohl eher hinter uns liegt, ist weniger von konkreten Jahreszahlen als von spezifischen Erfahrungen bestimmt. In diesem erlebten Zeitraum schärft sich der Blick auf das bisherige Leben und die Zukunft wird kritischer betrachtet. Körperliche Veränderungen machen erst leise, doch zunehmend deutlicher darauf aufmerksam, dass das Kontinuum des Lebens sich jetzt verstärkt mit dem Aspekt seiner Vergänglichkeit zeigt. Diese veränderten Betrachtungen verändern die persönlichen Bewertungen und Prioritäten.
Oftmals ist diese Zeit gekoppelt mit äußeren Veränderungen der Lebenssituation, vielleicht weil die Kinder nicht mehr im Mittelpunkt der Verantwortung stehen oder die eigenen Eltern älter und hilfsbedürftiger werden. Mit diesen veränderten Rollen verschiebt sich das gesamte bisherige Beziehungsgefüge und neue Gestaltungsräume eröffnen sich.
Viele Menschen erleben sich in dieser Zeit auf dem Höhepunkt ihres Lebens, von dem aus sie mit einer gewissen Lebenssicherheit das Erreichte betrachten. Sie haben persönliche Konturen ausgebildet und Standpunkte im realen wie im übertragenen Sinn bezogen. In ihrer Beziehungs- und Liebesfähigkeit differenziert entwickelt, leben sie sozial eingebunden. Sie blicken auf ein erworbenes Fundament, auf dem sich leben lässt und fühlen sich im besten Alter, von dem sie nicht mehr zurück möchten. Doch so rasant wie bisher mag wohl kaum einer weitergehen. »Ist man im besten Alter, dann folgt kein besseres mehr nach, es sei denn, es erfolgt eine Umwertung der Werte. Diese Umwertung der Werte aber, diese Veränderung im Identitätsleben, ist Thema der Lebenswende im mittleren Alter« (Kast, 1995, S. 423).
Die Erkenntnis, auch persönlich den allgemeinen Lebensrhythmen ausgesetzt zu sein, fordert heraus, Zwischenbilanz zu ziehen. So rückt die Kehrseite der Medaille in den Blick: Die beschriebenen Eigengesetzlichkeiten von Übergangsphasen gelten auch in dieser Wendezeit. Verhaftetseinwollen und Aufbruchsimpulse entfalten ihre ganz eigene dialektische Dynamik, in dessen Spannungsfeld sich mitunter das, was verlässlich erschien, als brüchig erweist und getroffene Entscheidungen und Zielvorstellungen kritisch in Frage gestellt werden. Unruhe, Unzufriedenheit, Sehnsüchte und Resignation können nun den einzelnen Menschen und damit seine Bezugssysteme labilisieren. Schwierigkeiten und Konfliktfelder, die man schon lange hatte, treten verschärft in den Vordergrund und alte Lebensthemen wollen neu bedacht sein. Manches ist nicht mehr lebbar, anderes erst jetzt möglich. Wieder einmal im Leben überschneiden sich Abschied und Neubeginn begleitet von Hoffnungen und Trauer. Nochmals findet eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen, geschlechtlichen Erfahrungen und sexuellen Erwartungen statt.
Es ist ein Spezifikum dieser Übergangsphase, dass sie in besonderer Klarheit auf Endlichkeit und Unwiederbringlichkeit verweist. Zunehmend deutlicher tritt die Erkenntnis auf, dass auch wir auf den Tod hinleben. Jetzt erscheint das Leben kostbarer und weniger selbstverständlich als zuvor. Und es stellt die Frage, wie die kommende Zeit gestaltet werden soll. Angelika Aliti (1996, S. 6) entwirft in diesem Lebensabschnitt für sich das Bild einer Insel. Dort beginnt die Menschwerdung aus dem Meer kommend am Strand. Diese Jahre der Kindheit sind von Sonne, Strand und Spiel geprägt, mitunter geht es regnerisch und stürmisch zu. Etwas älter geworden, erweitert sich der Lebensraum und die Jugendlichen begeben sich ins bewachsene Land hinein, erforschen Büsche und Sträucher, in denen sie sich verstecken und unbeobachtet das Leben üben können. Später geht es als Erwachsener weiter in den Wald des Landesinneren hinein, und manche sind in dieser Zeit sehr mit der Erforschung und Eroberung dieses Lebensraums beschäftigt. Noch älter, sind sie so weit vorgedrungen, dass sie langsam mit dem Bergaufstieg beginnen können, um die »Wälder der Wichtigkeit« wieder zu verlassen. Eines Tages haben sie den großen Aussichtspunkt erreicht. Für einige ist dieser Ort der Übergang in eine Phase der Ruhe und des Rückzugs, für andere der Ausgangspunkt zu größerer Aktivität und Hinwendung zum persönlich Bedeutsamen.
Von diesem Aussichtspunkt der Lebensmitte rücken die Konsequenzen der eigenen Lebensplanung in den Blick. Neben den Chancen treten auch die Unzulänglichkeiten mit der tiefen Trauer darüber deutlicher zu Tage. Alfred Adler sieht im ursprünglichen Gefühl der Unzulänglichkeit den Motor, »zulänglich« zu werden, das heißt zuzulangen und zu ergreifen. Wie dieser grundlegende Umgestaltungsprozess des eigenen Lebens gelingt, hängt stark davon ab, wie die Beziehungssysteme auf diese Dynamik reagieren, wie viel Spielräume das jeweilige Mobile zugesteht. Eventuell erweisen sich manche auch als zu eng und den neuen Entwicklungen nicht gewachsen. Dann kommt noch ein weiterer Verlust dazu. Wie in all den anderen Wandlungsprozessen liegen auch hier im bewussten Erleben vielfältige Chancen für eine neue Identität des Einzelnen und veränderte Konfigurationen seiner Lebenssysteme.

Trauer im Alter

Waren früher entwicklungspsychologische Konstrukte in ihrem Fokus auf die Kinder- und Jugendzeit beschränkt, so wurde zu Beginn der 1970er Jahre das achtstufige Stufenmodell psychosozialer Entwicklung des amerikanischen Psychoanalytikers Erik H. Erikson (1973) in Deutschland veröffentlicht. Es machte deutlich, dass sich über die gesamte Lebensspanne eines Menschen hinweg ständig Entwicklung ereignet. Nicht nur in jungen Jahren stehen spezielle Entwicklungsaufgaben an, sondern auch im mittleren und späteren Lebensalter. Deren erfolgreiches Durchleben gestattet psychische Integration und die Reifung der Persönlichkeit. Erikson benannte die Seite der Herausforderung als psychosoziale Krise, die Seite der (bestandenen) Prüfungen als vollzogenen Entwicklungsschritt oder gemeisterte Entwicklungsaufgabe. Mit jeder Krise, in die der Mensch unausweichlich eintritt, ergeben sich Chancen zu einer entwicklungsförderlichen oder einengenden Weiterentwicklung. Jede dieser Entwicklungsphasen baut auf die vorausgegangene auf, so dass bestandene Herausforderungen den Boden bereiten für die noch folgenden Auseinandersetzungen. Andererseits nehmen wir Hypotheken aus früheren Zeiten mit in unser späteres Leben. Die Altlasten verschwiegener Verluste, unbewältigte Trauerstationen und der lebenshindernde Umgang mit scham- und schuldbeladener Trauer, traumatisch Erlebtes aus der Welt(nach)kriegserfahrung sind prägnante Beispiele für ein in der gerontopsychologischen Begleitung der heute über 70-Jährigen deutlich sichtbares Wiederaufflammen schmerzvoller Erfahrungen, oft verbunden mit schwersten (chronifizierten) depressiven Symptomen (vgl. Radebold, 2004).
Mit fortschreitendem Alter begegnen wir – nicht zwingend, aber mit höherer Wahrscheinlichkeit – einer Anhäufung von Risikofaktoren für erschwerte Trauer. Man kann, »auch wenn es noch keine allgemein akzeptierte Konvention über Definition und Operationalisierung des ›Störungsbilds‹ gibt«, den »Anteil von Menschen mit komplizierter Trauer auf zwischen 10 und 15 % schätzen« (Bonanno u. Kaltmann, zit. nach Maercker, 2002, S. 265). »Für Personen im höheren Lebensalter ist eine Prävalenz an der oberen Grenze dieser Schätzung anzunehmen« (Maercker, 2002, S. 265).
Die Phänomenologie der Trauer im Alter verweist auf die verkomplizierenden Bedingungen: Ältere Menschen haben nicht nur eine Reihe von Verlusterfahrungen mehr oder minder gut in ihren Persönlichkeitsweg integriert, sondern müssen sich parallel zur Erfahrung erneuter Abhängigkeiten mit einem geschwächten und zunehmend kleiner werdenden Netzwerk auseinandersetzen. Verwandte und Freunde gleichen Alters werden immobil, erkranken und versterben oft in dichter Folge. Das ehemalige Selbstverständnis körperlicher Unversehrtheit weicht der Erkenntnis, mit organischen Insuffizienzen, Krafteinbußen, akut oder chronisch schmerzhaften Zuständen leben zu müssen und möglicherweise sogar auf fremde Personen angewiesen zu sein. Die Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen nimmt ab. Zukunftsentwürfe werden in vorwegnehmender Rationalisierung oder durch eintretende Veränderungen kapital beschnitten. Dieses abschiedliche Leben fordert innere und äußere Anpassungsleistungen erheblichen Ausmaßes in oft kürzester Zeit!
Trauer ist also ein natürlicher, ein integraler Bestandteil des Altwerdens und verdient bei selbstwirksam gelingender Trauerleistung wie bei stagnierenden Trauerprozessen unsere Aufmerksamkeit. Bedingungen der Versorgung, die eine nicht nur physische Minimalversorgung gewährende, sondern auch die Trauer begleitende Haltung zum unerwünscht kostenintensivierenden Faktor deklassifiziert, drängen die deshalb meist im karitativen Anspruch überforderter Einzelner vollzogene Zuwendung in die »Privatisierung« und entheben die Verantwortlichen der Verpflichtung qualifizierender Maßnahmen. Unwürdige, das heißt unter anderem die entwicklungspsychologischen Bedürfnisse alter Menschen unzureichend berücksichtigende Lebensumstände werden allseits in regelmäßigen Abständen beklagt. Sie laufen dem Erkenntnisstand der Gerontowissenschaften und den Pflegestandards zuwider. Fakt ist, die Gesellschaft, also wir, haben sie zu verantworten.
Darüber hinaus ist auch die Wissensvermittlung zur Abgrenzung des spezifischen Trauerausdrucks älterer Menschen von einer behandlungswürdigen und behandlungsfähigen Depression innerhalb institutionalisierter Pflege dringend zu fördern. Dass wir uns mit der Trauerbegleitung älterer Menschen so schwer tun, hat sicherlich viele Gründe. Es mag auch daran liegen, dass diese Trauergestalt chamäleongleich zu changieren im Stande ist und wir sie nicht immer als solche dechiffrieren können. Der Gerontopsychologe Andreas Maercker beschreibt das klinische Bild wie folgt: »Trauer kann als depressiver, ängstlicher oder gemischt affektiver Zustand in Erscheinung treten, zusätzlich dazu, dass sowohl die Major-Depression als auch die subsyndromale Depression unter Witwen und Witwern innerhalb der ersten beiden Jahren nach dem Tod eines Ehepartners häufig sind« (Maercker, 2002, S. 105). Maercker schildert die Bemühungen einer differentialdiagnostischen Einschätzung und verweist auf eine Studie von Prigerson et al. (1995), die in den Verhaltens- und Erlebnisweisen von älteren Trauernden sechs Monate nach dem Eintritt des Verlustereignisses einen »Depressionsfaktor« und einen »trauerspezifischen Faktor« identifizierten:
Als zum Depressionsfaktor gehörende Symptome werden benannt
  • geringer Selbstwert,
  • Apathie,
  • Schlafstörungen,
  • suizidale Ideen,
  • Niedergeschlagenheit,
  • Schuldgefühle.
Folgende zum trauerspezifischen Faktor gehörende Symptome werden aufgeführt:
  • starke Sehnsucht nach dem Verstorbenen,
  • gedankliche Präokkupation mit dem Verstorbenen,
  • häufiges Weinen,
  • Nicht-wahrhaben-Wollen des Todes.
Bei Durchsicht der Fachliteratur wird nur zu deutlich, dass zukünftige praxisrelevante Behandlungs- und Begleitansätze noch weiterführender Forschungsarbeit bedürfen. Eine Integration in bereits vorliegender Erkenntnisse systemische Konzepte steht ebenfalls noch aus.

(Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht)



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