Klientenorientierte
Indikation (S. 100-115)
»Nach unserem Verständnis
können Verhaltensmodelle oder -schemata weder
wahr oder falsch noch genau oder ungenau sein, sie sind vielmehr danach zu beurteilen, inwieweit sie
brauchbar oder unbrauchbar für den Zweck
sind, dem sie dienen sollen.« Bandler,
Grinder und Satir (1999)
Expertendefinierte versus klientenorientierte
Indikation
In Fachkreisen herrscht das Bild der
»klassischen« Paar- und Familientherapie vor, so wie sie ab Mitte des
vorigen Jahrhunderts konzipiert wurde und wie sie Eingang in die
aktuellen Lehrbücher zu Psychiatrie und Psychotherapie gefunden hat
(Wirsching u. Scheib 2002; Perrez u. Baumann 2005). Die
(Lehr-)Meinung geht dahin, dass es eine Frage der expertendefinierten
(selektiven bzw. methodendefinierten) Indikation sei, ob in einer
bestimmten Therapiesituation Angehörige einbezogen werden sollen.
»Expertendefiniert« heißt diese Indikationsform deshalb, weil dabei eine
Expertenperson dem Einzelfall je nach der diagnostizierten Störung das
passende – d. h. empirisch bestvalidierte – Verfahren zuordnet. Bei
dieser Zuordnung geht es sowohl um grundsätzliche Fragen wie »Ist
Psychotherapie überhaupt angebracht?« wie auch um differenziertere
Fragen bezüglich der Methode, des Settings und der Kombination mit
anderen Hilfen (Fiedler 2003). Wo immer die empirische Validierung
einer Methode fortgeschritten ist – man denke an die Chemotherapie bei
häufigen Krebserkrankungen oder an Impfung –, ist die methodendefinierte
Indikation vorzuziehen. In der Psychotherapieforschung scheint indessen
ein gemeinsamer Nenner (noch) nicht gefunden zu sein. Nach Jahrzehnten
erfolgreicher Therapieforschung sagte Klaus Grawe kurz vor seinem Tod
(Grawe u. Fliegel 2005, S. 128): »Es ist eine noch offene Frage, wie die
Psychotherapie am besten weiterentwickelt werden kann.« Unter den
offenen Fragen spielen jene der Messbarkeit von Prozessen in triadischen
und n-Adischen Beziehungen auf der Basis nichtlinearer Dynamiken sowie
die Frage nach Kontexteinflüssen eine gewichtige Rolle. Ist die
expertenorientierte Indikation auf die optimale Passung zwischen
Diagnose und Manual ausgerichtet, so zielt die »klientendefinierte«
Indikation (sie wird auch als adaptiv, prozess- oder
kooperationsorientiert bezeichnet) auf die fluktuierenden Gegebenheiten
eines sich entwickelnden Therapiesystems ab. Dabei steht nicht ein
bestimmtes Verfahren im Zentrum, sondern ein Vorgehen, das die
eingesetzte Methodik an die flexible Zielerreichung anpasst (vgl.
Bastine 1981; Mattejat 1997; Schweitzer u. von Schlippe 2006). Eine so
arbeitende Fachperson
»konstruiert ihr Verhalten
jeweils neu im Hinblick auf die Erfordernisse der Situation und auf der
Grundlage ihrer bisher entwickelten persönlichen und fachlichen
Möglichkeiten im Hinblick auf das angestrebte Veränderungsziel« (Ambühl
u. Grawe 1989, S. 2, zur Arbeitsweise eines »heuristisch« arbeitenden
Therapeuten).
Fallbeispiel: Ich
lass mir meine Eltern nicht wegnehmen
Standortbestimmung
in einem Werkheim für betreuungsbedürftige Menschen. Anwesend sind der
31-jährige Heimbewohner Max K., seine Eltern, sein Beistand, die
Psychiaterin (die ursprünglich vor allem der Medikamente wegen
einbezogen wurde) sowie die Heimleitung und eine Vertreterin des
Heimpersonals, das für die Betreuung des geistig leicht behinderten Max
zuständig ist. Anlass zur Sitzung gab das Heimweh von Max. Die
Heimleitung hatte den Eindruck, dass Max mit seinem Heimweh das Team
spaltete. Im Namen des Heimwehs weigerte er sich nämlich, in der Küche
zu helfen oder auch nur einen einzigen Teller abzuräumen. Wenn ihn das
Personal an seine (durchaus angemessenen) Pflichten erinnerte, reagierte
er gereizt bis ausfällig. Aber auch auf Versuche, ihn zu trösten und
ihm Verständnis entgegenzubringen, reagierte er, paradoxerweise,
abweisend. Dann schloss er sich ins Zimmer ein und wiederholte stets nur
den einen Satz: »Ich lass mir meine Eltern nicht wegnehmen!« Telefongespräche
vor der Standortsitzung ließen erkennen, dass die Helfer den wunden
Punkt erkannt hatten. Die Eltern und insbesondere der Vater verhielten
sich gegenüber den Wünschen ihres Sohnes, das Heim zu verlassen und nach
Hause zurückzukehren, ausgesprochen ambivalent. Das war umso
erstaunlicher, als bereits frühere Heimunterbringungen in einer
ähnlichen Sackgasse geendet hatten und weil die wenigen Weekends, die
Max zu Hause verbrachte, die Eltern an den Rand der Erschöpfung trieben.
Suchaktionen und nötig gewordene Polizeieinsätze, nachdem Max
davongelaufen war und sich in der Öffentlichkeit auffällig verhalten
hatte, bereiteten den Eltern Sorgen. Gegen das aktuelle Heim hatten sie
eigentlich nichts einzuwenden, im Gegenteil, der Vater lobte es über die
Maßen. Nun, an einem kalten Novembernachmittag, sitzt Max mit
düsterem Ausdruck und umrahmt von seinen Eltern in der Standortsitzung,
und auf die wohlgemeinte Frage der Heimleitung, wie er sich denn im Heim
fühle, sagt er mit suchendem Blicken zum Vater: »Ich lass mir meine
Eltern nicht wegnehmen!« Alle Anwesenden richten ihren Blick auf die
Eltern und warten auf ihre Stellungnahme. Diese schauen ihren Sohn
sprachlos an. Max wiederholt leise seine Botschaft: »Ich lass mir doch
meine Eltern nicht wegnehmen!« In allen Helferköpfen scheinen sich
dieselbe Ratlosigkeit und die Frage einzustellen: »Wie kann man den
Vater bzw. beide Eltern dazu bewegen, dass sie in diesen Sekunden nicht
schweigen, sondern reagieren und klar Stellung beziehen?« Es wäre doch
so einfach! Der Vater könnte seinem Sohn in die Augen schauen, die Hand
auf seinen Arm legen und ruhig sagen: »Max, ich weiß, dass du gerne nach
Hause kommen möchtest. Wir haben es in der Vergangenheit unzählige Male
versucht. Es tut mir so leid, feststellen zu müssen, dass es nicht
geht. Du kannst nichts dafür, auch wir Eltern nicht und auch das Heim
nicht. Ich und deine Mutter, wir Eltern sind außerstande, dich wieder
nach Hause zu nehmen. Es ist einfach zu viel für uns. Wir bleiben deine
Eltern, wir kommen dich besuchen, wann immer du es möchtest, und wir
haben dich uneingeschränkt lieb. Doch jetzt ist es an der Zeit zu
akzeptieren, dein Zuhause ist das Werkheim. Das ist die Realität.« Was
macht es so schwierig für den Vater, diese Sätze auszusprechen? Was
lässt ihn stattdessen Löcher in die Luft starren? Während dieser
Standortbestimmung im Werkheim werden verschiedene Probleme deutlich. So
gibt es die elterliche Sorge, für Max einen neuen Heimplatz zu suchen,
falls sich das »Heimwehproblem« nicht lösen lässt. Es gibt das
deklarierte Heimweh von Max und das Problem des Heims, das sich als
ausgespielt erlebt und sich ja auch den anderen Heimbewohnern gegenüber
verantwortlich fühlt (die Heimleiterin: »Wir sind daran interessiert,
Max die Integration in unserer Institution zu erleichtern, doch es
müssen alle ihren Teil dazu beitragen, sonst kommen wir langsam an
unsere Grenzen«). Auch für die anwesende Psychiaterin ergibt sich
eine schwierige Lage. An sich vertrat sie die Medikamentenfrage. Soll
sie trotzdem etwas sagen oder doch nicht? Wenn ja, was kann sie
überhaupt beitragen? Fehlt es ihr doch an einem expliziten
Therapieauftrag in Bezug auf die stagnierende Entwicklung. Nicht einmal
ein gemeinsamer Nenner der Problembeschreibung war auszumachen. Die
Sichtweisen und Interessen verliefen in unterschiedliche Richtungen. Auf
jeden Fall sind die Bedingungen für irgendein expertendefiniertes
Prozedere nicht gegeben (z. B. fehlt ein lerntheoretisch abgestütztes
operantes Programm, das zum Ziel hat, Max dabei beizustehen, sich an
neue Rahmenbedingungen zu gewöhnen). Im Sinne der adaptiven Indikation
macht die Psychiaterin folgendes Angebot.
Therapeutin: Wenn ich mich jetzt zur Situation äußere,
dann tue ich das aus einer Außenperspektive. Eigentlich beschränkt sich
mein Auftrag ja auf die Medikamentenfrage. Trotzdem erlaube ich mir,
etwas zur jetzigen Situation zu sagen. Vielleicht sage ich dabei Dinge,
die gleich verraten, dass ich überhaupt nichts verstanden habe. Dann
bitt ich Sie darum, es mir zu sagen und mir zu helfen, es besser zu
verstehen. Was mich sehr beeindruckt, das ist das allseitige Engagement.
[Zu Max:] Ihr Vertrauen in Ihre Eltern, [zu den Eltern:] Ihr Engagement
für Ihren Sohn, Ihre Treue und Verlässlichkeit, [zu den
Heimprofessionellen:] es beeindruckt mich auch, dass Sie es sich als
professionelle Institution alles andere als leicht machen. Ihre
Schilderungen zu den Vorkommnissen um das Heimweh von Max und wie sie
damit umgehen finde ich sehr professionell. Ich habe den Eindruck, dass
Sie einen sehr umsichtigen und engagierten Stil pflegen … Soweit ich die
jetzige Sachlage beurteilen kann, ist trotz allseitigen Bemühens eine
gewisse Pattsituation eingetreten. Was ich Ihnen anbieten kann, ist,
dass wir im Rahmen einiger Therapiesitzungen nach alternativen Wegen
suchen … Ich meine, es sollte Lösungen geben, die Max dienen und die von
allen anderen unterstützt werden können. Allerdings gibt es Lösungen
nicht ohne gründliche Gespräche. Ich biete ihnen solche Gespräche an.
Mein Angebot ist allerdings an eine Bedingung geknüpft. [Zu den Eltern:]
Als Erstes möchte ich mit Ihnen sprechen, denn niemand kennt Max so gut
wie Sie. Sie müssten bereit sein, mir zu helfen, die Lebenssituation
Ihres Sohnes im Detail zu verstehen.
Die Eltern sagen zu, während Max außerstande ist, eine eigene
Meinung dazu zu äußern. Er bestätigt aber das Vorgehen, nachdem ihm die
Eltern gut zugeredet haben. In den folgenden Gesprächen mit den Eltern
erzählt der Vater, wie er während seiner Jugend als ältester Sohn die
Verantwortung für die an multipler Sklerose erkrankten Mutter übernehmen
musste, während sein eigener Vater als Handelsreisender oft tagelang
von zu Hause fernblieb. In der elterlichen Ehebeziehung zeigen sich
»auf Max umgeleitete« Konflikte. Die von ihrem Charakter her eher
lebensfrohe Mutter macht ihrem Mann den Vorwurf, er lasse jegliche
Lebensfreude vermissen und entziehe sich gemeinsamen Paaraktivitäten,
derweil er sich in die Arbeit und in die Sorge um Max verbeiße. Die
Eltern sprechen gemeinsam auch zahlreiche Kränkungen und Verletzungen
an, wie sie Familien mit einem benachteiligten Kind gerade im Umgang mit
professionellen Helfern und Hilfeinstitutionen zuhauf widerfahren. Ein
weiteres Thema betrifft die noch lebende 87-jährige Mutter der Mutter,
die ihren Schwiegersohn nie gemocht hat, ebenso wenig wie den
behinderten Max. Mithin zog sich ein Riss durch Familie und
Generationen, der ihnen die Kraft nahm, sich als Individuen sowie in den
Beziehungen weiterzuentwickeln. Die Therapeutin verständigt sich
auch mit dem Heimteam. Die zuständigen Professionellen zeigen sich umso
motivierter, mit Max »einen Weg« zu finden, je deutlicher es Zeichen
dafür gibt, dass die Eltern mit ihnen am gleichen Strang ziehen. »Über
den Berg« ist die Therapie nach anderthalb Jahren, als die Eltern eine
14-tägige Reise nach Australien buchten und der Vater es dabei aushält,
Max zu Hause (= im Heim) zurückzulassen. Im Verlaufe dieser
»Therapie« gibt es weder einen Auftrag noch eine Diagnose. Der Prozess
beginnt vielmehr mit einem therapeutischen Angebot, das aus der
Beobachtung entsteht, dass Menschen einander in unglücklicher Weise
beeinflussen:
»Es ist bemerkenswert, dass
Biografen, Romanautoren und Bühnenschriftsteller das Verhalten ihrer
Personen immer mithilfe des Einflusses erklären, den andere Menschen auf
sie ausüben. Selten oder nie nehmen sie zu Traditionen oder Rollen und
ähnlichen überindividuellen Abstraktionen als erklärende Prinzipien
Zuflucht. Wie so oft, scheint auch hier die Intuition von
Schriftstellern den gewichtigen Behauptungen von Sozialforschern
überlegen zu sein« (Murdock 1971, zit. nach Blok 1985, S. 92).
Offenbar haben
»adaptive« Therapeuten mit Schriftstellern gemeinsam, dass sie sich für
die Idiosynkrasie der individuellen Biografie interessieren und dass sie
die »Hauptpersonen« auf ihrem Weg eng begleiten und unterstützen. Paar-
und Familientherapie, so wie sie in aktuellen Lehrbüchern zur
Psychotherapie behandelt werden, beziehen sich zum großen Teil auf eine
expertendefinierte und methodenorientierte Indikation. Vielleicht liegt
ein Grund für diese Bevorzugung darin, dass so die Lehre einfacher zu
vermitteln ist (deklaratives Wissen, das von Therapieprozessen
unabhängig ist, kann in Tabellen dargestellt und auswendig gelernt
werden). Die »klassische« Sichtweise kommt auch in den Leitlinien
der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich-Medizinische Fachgesellschaften
(AWMF) zum Ausdruck (Scheib u. Wirsching 2002). Gemäß diesen Kriterien
ist die Paar- und Familientherapie – in Abgrenzung zu
individuumzentrierten Verfahren – dann indiziert, wenn:
- das klinische Problem eines Patienten eng verknüpft ist mit
Problemen in seinen Paar- oder Familienbeziehungen und diese
Beziehungsprobleme ohne Familientherapie nicht oder nur viel
langwieriger lösbar sind
- mehrere
Familienmitglieder zugleich psychotherapeutischer Behandlung bedürfen
oder die individuelle psychotherapeutische Behandlung eines
Familienmitgliedes gesundheitsgefährdende Beziehungskrisen bei seinen
Angehörigen ausgelöst hat
- chronische
oder sehr belastende akute Krankheitsprozesse eines Patienten die
Bewältigungsprozesse seiner Angehörigen erschöpft haben, sodass bei
ihnen Dekompensation droht
- familiäre
Ressourcen für das Weiterleben eines erkrankten Mitgliedes in der
Familie, alternativ zu langfristiger Hospitalisierung oder
Heimunterbringung, aktiviert werden sollen
- andere Familienmitglieder einen wesentlichen Beitrag zur
Bewältigung oder Milderung der klinischen Problematik des Patienten
leisten können und dieser Beitrag ohne die Einbeziehung dieser
Familienmitglieder in die Therapie nicht bzw. nur unzureichend
aktivierbar ist.
Diese
Herangehensweise setzt im klassischen Sinn das Individuum ins Zentrum
der Betrachtung und stellt ihm die Paar- und Familientherapie als eine
Methodik mit begrenzter Anwendung gegenüber. Um Risiken und negative
Folgen dieser Methode für die Hilfesuchenden zu vermeiden, werden
entsprechende Kontraindikationen angegeben. Demzufolge ist auf Paar-
und Familientherapie (unter anderem) dann zu verzichten, wenn im
Verlauf erkennbar wird, dass unerwünschte Wirkungen auftreten, oder wenn
im Rahmen der Auftragsklärung deutlich wird, dass die
Gesprächsteilnehmer einer Paar- oder Familientherapie gegenüber
ablehnend eingestellt sind (Wirsching u. Scheib 2002). In einem
gewissen Kontrast dazu betrachten wir gerade in solcherart
»kontraindizierten« Fällen die »adaptive Indikation« für ein
systemtherapeutisches Verfahren als gegeben. Allerdings setzt es am
Kontext an, nicht am Individuum, generiert dadurch neue Informationen,
Sichtweisen und Unterschiede in einem Therapiesystem und bringt somit
stagnierende Entwicklung in Gang.
Unterschiede herausarbeiten
Die Aufgabe besteht
darin, Hilfesuchende auf Unterschiede aufmerksam zu machen.
»Was
aber ist ein Unterschied? Ein Unterschied ist ein sehr spezieller und
dunkler Begriff. Ganz sicher ist er kein Ding oder Ereignis […]. Ein
Unterschied ist etwas Abstraktes […] In der Welt des Geistes kann nichts
– das, was nicht ist – eine Ursache sein. In den Naturwissenschaften
fragen wir nach Ursachen und erwarten, dass sie existieren und ›real‹
sind. Denken Sie aber daran, dass sich null von eins unterscheidet, und
weil das so ist, kann null in der psychologischen Welt, der Welt der
Kommunikation, eine Ursache sein. Der Brief, den man nicht schreibt,
kann eine wütende Erwiderung auslösen« (Bateson 1983, S. 580).
Wenn Max sagt: »Ich lass mir doch meine Eltern nicht
wegnehmen!«, dann lautet vielleicht die Gegenfrage der Therapeutin: »Ist
es denn überhaupt möglich, dass irgendjemand Ihnen die Eltern wegnehmen
kann?« Und damit erzeugt sie einen Unterschied (Unterschied über die
Zeit ist Veränderung). Psychisch leidende Menschen sind nicht (nur)
in ihrer »Welt« gefangen, sondern auch in ihren Beschreibungen davon.
Sie sind sich kaum bewusst, dass sie mit ihren Worten aus der Vielfalt
dieser Welt mehr aus- als einschließen. Dadurch werden zwar das Gefühl
der Kontrolle über die Welt verbessert und entsprechende Ängste
gemildert, allerdings zum Preis einer zunehmenden Verarmung des Erlebens
in der Welt bis zur totalen Vereinsamung. Therapie bedeutet daher stets
auch eine Ermutigung zur Bereicherung mit Perspektiven. Der
Sprachforscher Alfred Korzybski (1879–1950) bewies seinen Studenten die
Unmöglichkeit, eine »vollständige« Beschreibung oder Landkarte
anzufertigen, indem er sie beispielsweise einen Apfel beschreiben ließ
und für jede vermeintlich abschließende Antwort gleich mehrere
weiterführende Zusatzfragen stellte (Rapoport 1972). Daher gilt die
Maxime: Helfen Sie den Menschen, die Dinge anders, von einer anderen
Seite oder Perspektive aus zu sehen und bisherige Wörter, Begriffe,
Bilder etc. zu hinterfragen, relativieren, verflüssigen. In jedem Apfel
steckt ein Universum.
Fährten
aufnehmen
Eine prozess- oder klientendefinierte
Indikation ist eine Therapieempfehlung, die nicht einseitig von
Fachleuten vorgegeben, sondern im Gespräch mit Hilfesuchenden erarbeitet
wird. Das gilt auch hinsichtlich des Einbezugs Dritter. Einer der
Gedanken in diesem Buch besteht in der (funktionalen, psychodynamisch
inspirierten) Annahme, dass die ablehnende Haltung gegenüber dem
Einbezug von Angehörigen das Ergebnis von Vermeidungslernen darstellt.
So aufgefasst, schützen sich Menschen damit vor (weiteren?,
vermeintlichen?) traumatischen Erfahrungen, negativen Erlebnissen,
unverarbeiteten »Komplexen«, Ambivalenzen, Konflikt- und
Bestrafungsängsten. Diese Annahme geht von einer Logik des mehr oder
weniger bewussten »Ja, aber« aus (»Ja, vom Kopf her gesehen wäre es
richtig, meine Eltern einzubeziehen, aber vom Gefühl her ist es
unmöglich«). Die »wahrste« Wahrheit ist in diesem Fall jene der
Klienten. Ein sich an demokratischen Spielregeln und einem »informierten
Konsens« orientierendes Therapiegespräch kommt dieser Wahrheit auf die
Spur. Dabei hält sich die Fachperson an das konkrete Thema der
Systemerweiterung, lässt es nicht aus den Augen und lenkt es in
zunehmend fruchtbare, klärende Bahnen, damit die Hilfe suchende Person
ihre eigene Positionen dazu einnehmen und Absichten entwickeln kann
(sokratisches Gespräch, vgl. Heckmann, 1993). Treten »Widerstände« auf,
so generiert die Fachperson neue Hypothesen (»Könnte es sein, dass ich
etwas noch nicht ganz verstanden habe?«). Während die (Leit-)Idee der
Systemerweiterung den roten Faden bildet, arbeitet sich die Fachperson
von Hypothese zu Hypothese vor, als wären es Eisschollen in einem Fluss,
den es zu überqueren gilt. Die einen Eisstücke tragen mehr, die anderen
halten weniger aus oder brechen weg. Grundsätzlich gilt: Je besser der
Therapeut die Gründe für den »Widerstand« gegen den Einbezug von
Angehörigen versteht, desto eher kann er der Patientin helfen,
ihrerseits das Pro und Kontra eines Einbezugs realistischer
einzuschätzen.
Fallbeispiel 10:
Wo ist mein Zuhause?
Das folgende Beispiel stammt aus
einem Erstinterview mit einer 27-jährigen alleinstehenden Frau, Isabelle
N., die in einem Erschöpfungszustand erscheint, weil sie wegen
nächtlicher Bulimie-Anfälle im Stundenrhythmus kaum noch zu Schlaf
kommt. Sie ist Einzelkind, die Eltern sind geschieden.
Patientin: In der letzten
Zeit habe ich verzweifelt nach jemandem gesucht, zu dem ich schlafen
gehen könnte, doch es hat sich einfach nichts ergeben. Und zu meiner
Mutter … da habe ich das Gefühl … also, sie hat ohnehin nur ein Bett …
Und irgendwie hält mich einfach etwas davon ab. Ich bin jetzt 27-jährig …
und zu meinem Vater kann ich auch nicht gehen, einfach weil mich zu
viel an die früheren Probleme erinnert. Nein, also das ginge auch nicht.
Also, ich muss irgendwie doch alleine klarkommen.
Therapeut: Darf ich Sie etwas fragen? Vielleicht ist es eine
merkwürdige Frage.
Patientin: Ja,
sicher.
Therapeut: Gesetzt den Fall, es
gäbe irgendeine Methode, die sofort und radikal wirkt. Diese
Wundermethode vermag Sie zwar nicht vor der Bulimie zu schützen, aber
immerhin vor all den schlechten Gefühlen, den Ängsten, Scham- und
Schuldgefühlen, die sie mit sich bringt. Da stünden Sie nun, Sie und die
Bulimie, die Ihnen die Nächte schwer macht. Nun wären Sie also in der
Lage, absolut frei zu entscheiden, bei wem Sie die Nächte verbringen
möchten. Bei wem würden Sie die nächste Nacht verbringen?
Patientin: Das ist schwierig zu sagen. Am liebsten bei einer
Freundin. Aber das habe ich bereits aufgegeben, weil, da würde ich mich
schämen, wenn ich dann doch einen Essanfall hätte. Ich habe sie auch
schon gefragt, und sie hat dann nach einiger Überlegung abgelehnt. Das
hat mich sehr gekränkt, ehrlich gesagt … Ja, es klingt komisch, aber am
liebsten bei der Mutter … und das tut auch weh, weil ich jetzt merke,
wie sehr mir das fehlt. Ich meine, dass ich diesen Ort nicht habe, wo
ich nach Hause gehen kann. Aber ich möchte es auch nicht erwarten, weil …
die Eltern sind ja eigentlich nicht mehr für mich verantwortlich [lange
Pause] …
Therapeut: Noch eine andere
Frage. Falls es eine solche Methode gäbe, und sie würde dazu führen,
dass wir hier in Anwesenheit dieser Menschen, zum Beispiel mit Ihrer
Freundin oder Ihrer Mutter, diese Fragen erörtern könnten … ohne Scham,
ohne Schuldgefühle und auch ohne Angst, dass Sie dabei die
Selbstständigkeit verlören …, wie wichtig wäre für Sie eine solche
Methode, sagen wir, auf einer Skala 1 bis 10, 10 bedeutete sehr wichtig?
Patientin: Also … schon 8 oder 9
[Klientin beginnt still zu weinen]. Ich weiß, dass ich meine Mutter mit
meinen Problemen belaste. Sie gibt mir zu spüren, dass ich jetzt endlich
selbstständig sein sollte … dass ich sie in Ruhe lassen soll.
Therapeut: Verstehe ich Sie richtig, Sie gehen davon aus,
dass Ihre Mutter kein Interesse hat, die Nächte mit ihrer erwachsenen
Tochter zu verbringen?
Patientin: Ja.
Sie gibt es mir zu spüren.
Therapeut:
Und wie macht sie das?
Patientin: Wenn
es mir schlecht geht, dann reagiert sie ungeduldig und hat keine Zeit.
Therapeut: Gesetzt den Fall, Ihre Mutter säße hier mit uns,
und sie würde nun protestieren und behaupten, das sei nicht Ungeduld,
sondern das sei wirklich nur Überforderung … Schuldgefühle, schlechte
Mutter und so … Sie halte es einfach nicht aus zuzusehen, wie sehr ihre
geliebte Tochter leidet.
Patientin: Das
kann ich mir nicht vorstellen!
Therapeut:
Gibt es in Ihrem Umfeld Menschen, die sich das durchaus vorstellen
könnten?
Patientin (nach langer
Überlegung): Vielleicht meine Freundin. Ja, sie hat einmal gesagt, meine
Mutter habe ein schlechtes Gewissen wegen der Scheidung. Das sehe ich
aber nicht so.
Therapeut: Wie sicher
sind Sie in Ihrer Einschätzung, sagen wir in Prozent?
Patientin: 99 Prozent!
Therapeut:
Aha. Sie sind sich ziemlich sicher.
Patientin:
Ja.
Therapeut: Aber eben nur ziemlich.
Gesetzt den Fall, Sie würden sich täuschen, das eine Prozent –
beziehungsweise Ihre Freundin – wäre dann näher bei der Wahrheit. Wie
wichtig wäre Ihnen diese Erkenntnis, sagen wir auf einer Skala von 1 bis
10?
Patientin: Ich kann mir das zwar
nicht vorstellen, aber das wäre schon eine neue Sichtweise. Ja, das wäre
für mich neu, es wäre sehr wichtig, also 10.
Aber meine Erfahrungen sind anders. Ich kenne doch meine Mutter.
Therapeut: Sie erwähnen Ihre Erfahrungen mit der Mutter …
Könnte es sein, dass sich da zwischen Ihnen und Ihrer Mutter eine Art
Teppichmuster eingespielt hat, sodass die Mutter in diesem
Mutter-Tochter-Teppich gar nicht anders weben kann als ungeduldig, auch
wenn sie selber es vielleicht ganz anders erlebt?
Patientin (lange Pause): So habe ich mir das noch nie
überlegt.
Therapeut: Wäre es für Sie ein
gangbarer Weg, die Mutter zu einer Sitzung einzuladen, um das
Teppichmuster der Beziehung allenfalls aus einer neuen Perspektive zu
betrachten?
Patientin: Ja, schon. Nur
glaube ich nicht, dass sie kommen möchte.
Therapeut: Eines muss klar sein: Ob Sie die Mutter einladen
möchten oder nicht, das ist letztlich Ihre eigene Entscheidung. Ich kann
allenfalls Fragen stellen. Falls Sie es wünschen, dann bestünde ein
erster Schritt beispielsweise darin, dass Sie die Mutter einfach mal
darauf ansprechen. Falls sie die Einladung ablehnt, wäre das für Sie ja
nichts Neues. Ihre 99 Prozent kämen dann einfach zum Zug. In der
nächsten Sitzung könnten wir uns dann überlegen, ob Sie das so
akzeptieren oder doch weiter hinterfragen möchten …
Haltung und Fragenmethodik der Fachperson sind
systemisch-beziehungsorientiert. Das Gespräch zielt darauf ab, die
Wirklichkeitskonstruktionen der Klientin in Bezug auf die Einbeziehung
der Mutter zu stören oder anzuregen (konstruktivistischer Zugang). Dabei
lässt sich der Therapeut vom (bindungstheoretischen) Konzept führen,
dass die Patientin im Verlaufe ihrer Entwicklung ein »unsicheres«
Beziehungsmodell (in der Sprache der Bindungstheorie: »inneres
Arbeitsmodell«) aufgebaut hat. So gesehen, ist sie nicht »Opfer einer
kalten Mutter«, sondern gefangen in den kognitiv-affektiven
Vermeidungsschemata sowie in der sich selbst erfüllenden und
perpetuierenden Dynamik auf der Beziehungsebene. Teils als »Opfer«,
teils als »Urheberin« ist sie zirkulär-kausal in das Netz der
kybernetischen Kreisläufe eingebunden. Um leidaufrechterhaltende
Muster nachhaltig zu unterbrechen, haben bereits die
Familientherapiepioniere propagiert, problemrelevante Personen physisch
einzubeziehen (in der ihnen eigentümlichen Sprache): »Der Therapeut muss
die Personen zusammenführen, um sie unabhängiger zu machen« (Haley
1979, S. 20). In neuer Lesart wird dadurch der (systemische)
Arbeitskontext optimiert, sodass sich sowohl autoorganisatorische
Prozesse wie auch erlebnisaktivierende und sinnlich-korrektive
Erfahrungen einstellen. Die Hypothese, dass Hilfesuchende die
Einbeziehung signifikanter anderer grundsätzlich wünschen, schließt
nicht aus, dass es gute Gründe für ihre Verwerfung gibt – etwa bei
Missbrauchserfahrungen. Mitunter haben Patienten auch die schlechte
Erfahrung gemacht, dass sie ihre Angehörigen vor Schuldzuweisungen
schützen müssen. Das Verwerfungsrecht bleibt immer aufseiten der
Klientel (im Sinn des »plébiscite quotidien«, vgl. Renan 1882, das echte
Freiwilligkeit anstrebt). Außerdem sollte das Risiko einer
»Theoriegegenübertragung« ausgeräumt werden, das sich dadurch ausdrückt,
dass KlientInnen ihre Angehörigen einladen, weil sie sich mit der
Fachperson und ihrer Therapietheorie identifizieren (Hubble et al.
2001). Hierzu sind Verbesserungs-und Verschlimmerungsfragen geeignet,
etwa wie folgt:
- Sie haben sich
nun entschieden, Ihre Mutter zu einer Sitzung einzuladen. Ganz konkret,
woran würden Sie nach dieser Sitzung erkennen, dass die Entscheidung
falsch (richtig) war?
- Wie müsste die
Sitzung konkret verlaufen, damit Sie an ihrem Ende immer noch (überhaupt
nicht mehr) den Eindruck haben würden, dass die Entscheidung richtig
(falsch) war?
- Welche Kommentare könnten
wichtige Bezugspersonen beisteuern, sodass Sie sich mit Ihrer
Entscheidung sicherer oder unsicherer fühlen?
Im Unterschied zum systemischen Ansatz erster Ordnung, bei
dem die Fachperson »weiß, was für die Klientin richtig ist« (power to
the therapist), bleibt die Klientin somit die Expertin ihrer eigenen
Entscheidungen. Der Therapeut sieht sich dabei als Teil eines
Kommunikationssystems, das er nur insofern beobachtet (und beschreibt),
als er stets auch sich selbst (bzw. die eigenen Konstrukte) mit
berücksichtigt. So aufgefasst, ist er Mitspieler in einem Sprachspiel
und damit in das soziale Gesamtsystem zirkulär eingebunden (=
therapeutisches System; systemischer Ansatz zweiter Ordnung, vgl.
Hoffman, 1995). In dieser Optik liegt die Veränderungskraft im
professionell begleiteten Beziehungssystem (power to the mediators). Isabelle
N. entschied sich, ihre Mutter für eine Sitzung einzuladen und dafür
auch die Verantwortung zu übernehmen. Wie so oft verflüchtigte sich ihre
Furcht vor einer schroffen Absage in dem Moment, als die Mutter nicht
nur auf Anhieb zusagte, sondern die Einladung dankbar, sichtlich berührt
und erleichtert annahm (am selben Abend teilte die Patientin dem
Therapeuten telefonisch mit: »Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann
wir zum letzten Mal ein so gutes Gespräch gehabt haben«). Vorab kam
die Mutter (im Einverständnis mit der Tochter) zu einem Einzelgespräch.
Unter Tränen schilderte sie ihren Leidensweg mit einer Tochter, die die
Mutterliebe scheinbar ablehnte.
Mutter: Das hat schon ganz früh angefangen. Ich
war ja noch sehr jung, und der Vater von Isabelle hat sich aus dem Staub
gemacht. Ich wollte nicht der Gemeinde zur Last fallen. Also habe ich
gearbeitet, 120 Prozent, nur so hat es zum Leben gereicht. Aber es gab
bestimmt zu wenig Zeit für Isabelle. Wenn ich sie in die Arme nahm, hat
sie sich wie wild zur Wehr gesetzt. Sie hat immer geschrien und ihre
Unzufriedenheit gezeigt. Zuerst hat mich das als junge Mutter
verunsichert. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht wie
andere Mütter meine Tochter trösten konnte. Mit der Zeit hat es mich
auch wütend gemacht. Auch meine Mutter konnte mir nicht helfen und
machte nur Vorwürfe. Der Hausarzt hat bestätigt, dass ich überlastet und
deswegen vielleicht »zu nervig« geworden sei. Ich war sehr verzweifelt.
Später hat mir Isabelle all das vorgeworfen. Daraus habe ich
geschlossen, dass sie mich hasst. Mit diesem Umstand habe ich mich
irgendwie eingerichtet. Ich bin ihr nicht mehr zu nah gekommen. Aus der
heutigen Perspektive sehe ich das vielleicht anders; denn ich habe ja
auch viel darüber nachgedacht. Damals habe ich es aber genau so erlebt.
Ich habe mich als eine unfähige Mutter erlebt, von ihrem eigenen Kind
abgelehnt.
Therapeut: Gesetzt den Fall,
Isabelle würde jetzt auch gleich hier sitzen, was denken Sie, was würde
sie zu dieser Sicht der Dinge sagen?
Mutter
(überlegt): Bis letzthin, als sie mich gefragt hat, ob ich an eine
Sitzung mitkomme, wäre sie wohl aufgebraust. Während der vergangenen
Jahre habe ich es deshalb vermieden, solche Themen anzuschneiden. Ich
wusste, wenn ich Frieden mit meiner Tochter haben will, dann darf ich
davon … nicht von solchen Dingen reden. Es hat mich jetzt schon sehr
erstaunt, dass sie mich gefragt hat … Ja, dass sie überhaupt Hilfe
gesucht hat. Ich habe das immer gehofft. Aber es anzusprechen, wär
unmöglich gewesen.
So erleichtert
sich die Mutter von der Aussicht fühlte, eine Annäherung an ihre Tochter
zu erreichen, so sehr argwöhnte sie, dass die Wiederaufnahme alter
Themen umgekehrt zu einer weiteren Verhärtung der Beziehung führen
könnte. Ein solcher Verlauf ist auch nicht von vornherein
auszuschließen. Umso wichtiger ist es, dass sie aus einer eigenen und
freien Entscheidung in die »Arena der Auseinandersetzung« mit ihrer
Tochter tritt. Ist dies der Fall, dann macht sie das Vorgehen zu ihrer
eigenen Sache (Commitment) und übernimmt damit auch die Verantwortung
für die Folgen. Daraus folgt: Die Schwierigkeit der Arbeit im
Mehrpersonensetting liegt nicht allein darin, die Menschen
zusammenzuführen, sondern die psychologischen Voraussetzungen dazu zu
schaffen, dass sie die Klärung ungünstiger Prämissen und von Vorurteilen
sowie die Bewältigung anstehender Konflikte zu ihrer eigenen Sache
machen und dafür auch die Verantwortung übernehmen. In diesem Sinn
wurden mit der Mutter entsprechende »Verschlimmerungsfragen« diskutiert:
»Es könnte ja sein, dass Ihre Tochter an der Sitzung eine Bombe platzen
lässt, und alles wäre dann noch schlimmer. Ich möchte es Ihrer Tochter
nicht unterstellen, sondern spreche mehr grundsätzlich und aus der
Erfahrung heraus. Ich möchte sicher sein, dass es nicht meine
Entscheidung ist, eine gemeinsame Sitzung abzuhalten, sondern Ihre. Was
wäre, wenn …« Eine Woche später fand die Sitzung mit Mutter und
Tochter statt.
Isabelle (zur Mutter gewandt): Es sind Dinge, die ich mir
eingebildet habe, vielleicht wirklich nur eingebildet, ich weiß es ja
nicht, weil, ich war ja erst … etwa fünfjährig … aber irgendwie sehe ich
es noch heute so. Und ich habe gemerkt, dass es mir nicht hilft, wenn
ich versuche, mit Verstand, mit Erwachsenwerden darüber nachzudenken, es
hat einfach nichts genutzt. Auf Dauer. Also, so Sachen wie … vor allem
Ängste. Ich weiß es auch nicht. Ein Gefühl von Abgelehntsein, wo ich
mich frage, ob … [lange Pause] wo ich mich frage, ob du mich wirklich
abgelehnt hast oder ob ich mir das nur eingebildet habe, ich weiß es
nicht, ich habe keine Ahnung. Ich merke einfach, dass das Gefühl noch
immer da ist, das … also, ob ich mich selber in eine Außenseiterrolle
gebracht habe, und dann hat das jeder so aufgespürt … [Zum Therapeuten:]
Zum Beispiel in der Schule, die haben das instinktiv gemerkt, dass ich
so bin, und dann haben sie mich auch als Außenseiterin behandelt …
[wieder zur Mutter:] Oder, ob ich … Ich weiß es wirklich nicht [lange
Pause].
Mutter: Also, sicher ist es so,
also, was ich dazu sagen kann, sicher bist du schon von klein auf …
[sucht nach Worten]. Also, wo ich von deinem Papi weg bin und wo du ja
mittlerweile auch weißt, welche Gründe es gegeben hat … du weißt es ja
nur am Rand, nicht im Detail, und das ist ja auch nicht nötig. Du bist
ja noch klein gewesen, erst 13 Monate, und dann bin ich weg von ihm,
weil es mich gedünkt hat, so ist es nicht tragbar, weder für dich noch
für mich. Und damals hast du ganz schnell angefangen … aber es geht
jetzt hier nicht um Vorwürfe …
Isabelle:
… Ja, ja, nein, es geht nicht um Vorwürfe …
Mutter: … Ich erzähle es einfach, wie ich es erlebt habe. Da
kann man ja nicht von Schuld reden, so klein. Da habe ich also arbeiten
gehen müssen, und du bist zeitweilig in einem Pflegeplatz untergebracht
gewesen, in der Zeit, wo ich arbeiten gegangen bin. Weil, bei Grosi [bei
der Großmutter] ist es ja nicht möglich gewesen, wie du weißt … Und da
hast du angefangen, mich wegzuschieben … Ja! Wirklich! Wie soll ich
sagen? Ja, wegschieben! Also, wie ich es damals wahrgenommen habe, nicht
wie ich heute darüber nachdenke. Damals habe ich es so wahrgenommen.
Ich habe versucht, mit dir zu spielen, wenn ich abends da war nach der
Arbeit, ich habe versucht, mit dir Gemeinschaft zu haben, in deinem
Zimmer gemeinsam etwas zu machen, aber da hast du mich hinausgeschickt,
das hast du nicht gewollt. Du wolltest alleine spielen. Also, schon
ziemlich früh. Und das habe ich natürlich nicht verstanden, damals.
Isabelle: Logisch!
Mutter:
Und das hat sich durch alles durchgezogen.
Wenn wir im Workshoprahmen die gesamte Videosequenz dieser
wechselseitigen »Beichte« zwischen Mutter und Tochter betrachten und
diskutieren, wird von den meisten »Beobachtern« eine Diskrepanz zwischen
dem Inhalt der »Beichte« einerseits und der merkwürdig »kühlen«
Emotionslage der beiden Frauen andererseits moniert. Bindungstheoretisch
gesehen, sind Mutter und Tochter immerhin in der Lage, die Geschehnisse
sprachlich-reflexiv zu ergründen, während die sinnlich-emotionale
Verarbeitung in der Beziehung offenbar noch aussteht. Die Emotionalität änderte sich grundlegend zu dem Zeitpunkt
(zwei Monate später), als es darum ging, die Entscheidung bezüglich
einer stationären Therapie zur Behandlung der Bulimie zu treffen. Im
Auftrag von Isabelle unterstützte der Therapeut dabei die Mutter, die
zuerst sehr unsicher, dann immer wie sicherer die Argumente für den
Eintritt in eine Spezialklinik vertrat.
Mutter:
Du hast ja gesagt … also gewünscht, dass ich offen bin … dass ich offen
rede … weißt du, nicht mehr so das Drumherum wie all die Jahre. Dass
ich jetzt meine Meinung sage … Das ist für mich nicht einfach. Ich
vertraue dir, dass du das ehrlich meinst und dass du nicht nur angenehme
Dinge von mir hören willst, wenn es mir … wie soll ich sagen [lange
Pause] …
Therapeut (zu Isabelle): Ich
glaube, jetzt steht da eine Frage im Raum. Oder vielleicht eher eine
Bitte um Bestätigung. So in dem Sinn: Soll ich die Dinge direkt sagen
oder lieber um den Brei herum … oder überhaupt nicht?
Isabelle: Ja, direkt … [Zur Mutter:] Ich möchte, dass du
deine Meinung doch sagst. Es nützt ja nichts, dass wir so … um den Brei
schwatzen … Ich hab einfach Angst davor, noch einmal dorthin [in die
Klinik] zu gehen … Aber vielleicht wär’s ja
jetzt anders … [beginnt zu weinen], damals, wo ich dort war, fühlte ich
mich allein gelassen …
Mutter (wischt
sich Tränen aus den Augen): Das ist jetzt eben so eine Sache … und da
gibt es zwei verschiedene Meinungen. Ich habe es immer bedauert, weil
ich den Eindruck gehabt habe, dass du meinen Besuch gar nicht gewünscht
hast. Aber das meine ich jetzt nicht als einen Vorwurf …
Isabelle (verweint): Nein, nein. Es ist kein Vorwurf.
Mutter: Aber, ehrlich gesagt, so wie es Doktor L. sagt, das
ist meine Meinung. Du würdest dem Problem einfach ausweichen. Das wäre
nicht ehrlich. Du weißt ja, dass es ohne Klinik nicht geht. Zumindest
für den Anfang. Auch bei mir zu Hause … da geht es doch auch nicht,
weil, ich muss ja arbeiten gehen … Vielleicht zu einem späteren
Zeitpunkt, ja … weißt du, ich habe einfach Angst, dass es wieder so wäre
wie früher. Ich bin ehrlich dafür, dass wir mehr miteinander zu tun
haben … natürlich nur, wenn du das auch möchtest …
Isabelle: Ja, aber …
Mutter: …
Aber wir müssen vorsichtig sein. Es darf nicht die Bulimie … Ich
glaube, die Klinik wäre ein Sprungbrett, eine neue Hoffnung …
Obwohl Isabelle die Mutter vorerst »wegschob« mit Sätzen
wie »Das ist doch meine Sache!« oder »Ich gehe in die Klinik, wenn es
mir passt!« blieb die Mutter beharrlich und einfühlsam – unterstützt vom
Therapeuten, der sich bei Isabelle nach jeder Sitzung unter vier Augen
des Auftrags versicherte. Irgendwie schien Isabelle längst gewusst zu
haben, dass sie um eine stationäre Behandlung ihrer schweren Bulimie
nicht herumkommt, so wie ein Bach zu wissen scheint, wohin er fließt.
Isabelle hat zwar nie mehr im Bett ihrer Mutter geschlafen. Ungeachtet
dessen fasste sie langsam Vertrauen in die mütterliche Haltung und gab
nach – zuerst unter trotzigen, dann versöhnlichen Tränen. Schließlich
erklärte sie sich zu einem erneuten Eintritt in die Klinik bereit. Die
neuen kommunikativen Brücken zwischen Mutter und Tochter lösten das
Problem der Bulimie nicht. Es bewahrheitete sich die Aussage, dass auch
ein sehr bedeutsamer Wechsel in der familiären Interaktion nicht
notwendigerweise zu Änderungen in der Symptomatik des Indexpatienten
führt. Indessen öffnete der veränderte (Beziehungs-)Kontext Türen für
neue Entscheidungen.
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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Carl-Auer-Verlages
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