Kapitel 2: Der Mensch der Sozialarbeit – Eine systemtheoretische Reflexion zur Unbestimmbarkeit eines Platzhalters
»(Ich) schlage [der Sozialen Arbeit] vor, das klingt vielleicht paradox, dass man sich um ein weniger technisches, dafür um ein mehr menschliches Verständnis bemüht.« Niklas Luhmann (1997, S. 72)
Welchen Unterschied es für die Sozialarbeit macht, nicht davon auszugehen, dass man weiß, was der Mensch ist, sondern offen für die Vielfalt des Menschlichen zu sein, wird in diesem Kapitel gezeigt. In radikal systemtheoretischer Weise könnten wir sogar davon sprechen, dass wir nicht mit Menschen, sondern mit Differenzen arbeiten, mit Differenzen, die erst dazu führen, dass biologische, psychische und soziale Systeme entstehen. Deutlich soll schließlich werden, dass gerade das systematische Absehen von einer bekannten Idee des Menschen dazu führt, dass die Soziale Arbeit menschlicher wird, dass sie sich eben einlässt auf die vielen Unterschiede hinsichtlich dessen, wie Menschen leben, ja, wie sie sein könnten.
Ausgangspunkte
Die zentrale These, die hier im Vordergrund steht, lautet, dass die Systemtheorie mit ihrem äußerst komplexen Theoriedesign zur Reflexion einer Praxis besonders geeignet ist, die selbst ausgesprochen komplex ist, die Soziale Arbeit. Mit Komplexität ist hier die Vielzahl von abhängigen Variablen gemeint, die interagieren, sich gegenseitig bestimmen und begrenzen und einen schier unermesslichen Möglichkeitsreichtum des Denkens und Handelns generieren. Gleichzeitig offenbaren sich in komplexen Phänomenen und Verhältnissen Widersprüche, Gegensätze, Paradoxien. Komplexität ist differenzgeladen, lässt sich nicht auf einen eindeutigen Nenner bringen, verursacht womöglich das, was Wolfgang Welsch (1990) für die Gegenwartsgesellschaft diagnostiziert: Ambivalenz in nahezu allen Verhältnissen (…).
Diese Ambivalenz verlangt, dass wir, wenn wir Wirklichkeitsbeschreibungen anfertigen, zugleich die Plausibilität dessen verfolgen, was diesen Beschreibungen widerspricht. Insofern sind Diskurse sehr zu begrüßen, die unterschiedliche, ja gegensätzliche Positionen abwägen und diskutieren, zum Beispiel jene Positionen, in denen die sozialarbeiterische Bedeutung der Frage nach den Menschen vertieft wird. Dabei können Liebgewonnenes hinterfragt und Neues erprobt, kurz: Thesen und Gegenthesen abgewogen werden. Die Frage, die wir hier behandeln werden, wird in Anlehnung an Andreas Kirchner (2007) formuliert: Wie kann der Mensch innerhalb einer systemtheoretisch reflektierten Sozialen Arbeit thematisiert werden, wenn er von der luhmannschen Theorie in die beiden zwar strukturell verkoppelten, aber dennoch operational getrennten Systeme Psyche und Körper zerlegt und zur Umwelt der sozialen Systeme erklärt wird?
Diese Frage wird zwar nur selten explizit thematisiert (siehe als Gegenbeispiel dazu Sellmaier 2006), ist aber zumindest (auch in systemtheoretischen Reflexionen) implizit Thema, wenn es etwa um die wichtigen Themen von Inklusion und Exklusion geht (siehe zum Überblick Merten u. Scherr 2004 und zur Orientierung auch Hosemann 2006). Trifft es etwa zu, was Kirchner (2007, S. 379; Hervorh. i. Orig.) behauptet:
»[…] dass die Systemtheorie bisher noch nicht in der Lage war, jenen Komplex, der bisher stets subjektphilosophisch determiniert unter der Einheit Mensch firmierte, für die Soziale Arbeit zufriedenstellend zu rekonstruieren«?
Oder ist vielleicht eine solche Rekonstruktion gar nicht notwendig – zumindest nicht in einem solchen Sinne, wie ihn Kirchner möglicherweise intendiert: als Programm einer Ontologie (Seinslehre) vom Menschen?
Der große Gewinn der Systemtheorie liegt meines Erachtens gerade in der Dekonstruktion des Begriffs »Mensch«, der in der Sozialen Arbeit ohnehin nur als unterkomplexer Platzhalter für Nichtidentisches verwendet wird, nämlich für die Vielzahl von Personen, die vielleicht als anzustrebendes Ideal, aber faktisch niemals so in den Blick gebracht werden können, wie die Soziale Arbeit dies gerne postuliert: ganzheitlich.
An anderer Stelle (Kleve 2007, S. 49 ff.) habe ich bereits ausführlich zu zeigen versucht, dass »Ganzheitlichkeit« als ein Ideal Sozialer Arbeit durchaus seine Berechtigung hat, dass aber der Versuch, auf das Ganze (etwa des Menschen) zu blicken, Differenz, Vielfalt, Heterogenität erzeugt. Insofern sind Ganzheit und Differenz zwei Seiten einer Medaille, das eine bedingt das andere. Welsch (u. a. 1987, S. 60) hat dies philosophisch ausgearbeitet, er postuliert: »Ganzheit (ist) nur via Differenz einlösbar.« Freilich ist dies nicht die Ganzheit, die vielleicht klassische Ganzheitstheoretiker im Blick haben. Sie ist und bleibt eine Ganzheit als (niemals erreichbares) Ideal, eine Ganzheitlichkeit als richtungweisendes, aber niemals einlösbares Programm. Denn »je weiter man ins Ganze ausgreift, umso mehr stößt man auf Diversität, Unordentlichkeit und Unfasslichkeit« (Welsch 1996, S. 658). Dies gilt freilich auch für den Versuch, den Menschen als ein Ganzes zu fassen.
Das, was in der Sozialen Arbeit als Mensch bezeichnet wird, ist daher nicht der Mensch, den wir idealerweise meinen, wenn wir diesen Be griff benutzen; es ist vielmehr eine geradezu ideologische Konstruktion des Systems selbst. Genau dies offenbart die Systemtheorie und emanzipiert damit einen Platzhalterbegriff von systeminternen Zuschreibungen, und zwar für die Möglichkeit, dass das im Unbestimmten, genauer: in der Differenz unterschiedlicher Systeme bleiben darf, was ohnehin nur interessengeladen bestimmt bzw. zur vermeintlichen Einheit gebracht werden kann: der Begriff »Mensch«. Und damit wird paradoxerweise etwas erreicht, was gerade für die Soziale Arbeit angemessen erscheint: die Menschen in ihrer psychischen Unermesslichkeit und ihrer sozialen Vielschichtigkeit, in ihrer offenen Zukunft ernster zu nehmen, als es mit einem eindeutigen Begriff des Menschen möglich wäre.
Die Frage nach dem Menschen in der Systemtheorie
Zunächst gilt es festzustellen, dass es mitnichten so ist, dass die soziologische Systemtheorie sich mit dem Begriff des Menschen sowie mit den damit einhergehenden sozialwissenschaftlichen und philosophischen Implikationen nicht auseinandersetzt. Das Gegenteil trifft eher zu: Eine Reihe von umfangreichen Publikationen thematisieren »den Menschen«. Wer also die Aufgabe, die Kirchner stellt, zu lösen versucht, wer also den Begriff »Mensch« für eine systemtheoretisch informierte Soziale Arbeit zu rekonstruieren versucht, der muss mindestens das rezipieren, was insbesondere Niklas Luhmann (1995) in der Aufsatzsammlung Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch und was Peter Fuchs in Zusammenarbeit mit Andreas Göbel (1994) im Reader Der Mensch – das Medium der Gesellschaft hierzu zusammentragen. Und vor allem scheint es wichtig, ein dieses Thema vertiefendes Werk von Fuchs (2007) zu studieren: Das Maß aller Dinge. Eine Abhandlung zur Metaphysik des Menschen. Da dieses Werk das derzeit umfangreichste ist, das sich aus systemtheoretischer Sicht mit »dem Menschen« auseinandersetzt, möchte ich meine folgenden Überlegungen an ein längeres Zitat aus dem Umschlagtext des Buches anschließen. Fuchs (ebd., Umschlagtext; Hervorh. im Orig.) formuliert dort das Programm seiner Publikation, er schreibt:
»Was kann man heute zur ›Form‹ des Menschen verantwortlich und präzise sagen, wenn doch ebendiese Form […] so vollkommen aus der Form geraten ist? Die Antwort liegt nahe. Man kann es mit jener gewohnheitsmäßig unsentimentalen, im Kern durch und durch ironisch-realistischen Theorie versuchen, die seit ihrem Start ohne die Referenz auf den Menschen auskommt: der von Niklas Luhmann geprägten Systemtheorie, die das, was das ehrwürdige Wort des Menschen bezeichnen sollte, auflöst in ein Kompendium aufeinander bezogener, aber differenter ›Phänomenalitäten‹ wie Systeme und Operationen, wie Körper und Gehirn, Psyche, Bewusstsein und last, but not least: Kommunikation. Es gibt in dieser Theorie keinen terminologischen Ort, der als begriffliche Behausung des Menschen gelten könnte. Und es ist gerade diese Enthaltsamkeit, die die stupende Leistungsfähigkeit der Systemtheorie begründet hat, die an die Stelle eines kompakt-opaken Wortes den Umgang mit Differenzen setzt.
Man kann heute nicht mehr ernsthaft davon absehen, dass das Beobachtete Moment der Operation Beobachtung selbst ist. Was als ›Welt‹ in der Beobachtung anfällt, fällt als Beobachtetes an, ein Umstand, der auch dazu führt, dass der Beobachter in jeder Beobachtungsoperation nicht als der Beobachter auftritt, der die Operation exekutiert, sondern selbst nur als Beobachtetes, wenn und soweit er bezeichnet und dadurch unterschieden wird. […] Eine Theorie, die dies einkalkuliert und sich dennoch des Menschen annimmt, kann also nur beobachten, wie der Mensch beobachtet wird. Sie langt nicht an beim Menschen, sie berührt ihn nicht. Sie bezeichnet die Formen (insofern sie an einem Rückblick interessiert ist), die zu verschiedenen Zeiten das ausmachten, was dann als der Mensch intellektuell plausibel verhandelbar war. In der Theorie spricht man in diesem Zusammenhang von der Beobachtungstechnik zweiter Ordnung, für die gilt, dass sie nicht mehr Dinge und Weltgegebenheiten bezeichnet, sondern die Unterscheidungen, die die Projektion dieser Dinge und Gegebenheiten inszenieren. […] Die Frage lautet also genau: Welche besondere Erzählung kann diese Theorie aus dem Zusammenhang ihrer Begriffe generieren, wenn sie gefragt wird: Wie hältst du es aber mit dem Menschen?«
In diesem Zitat sind alle aus meiner Sicht wichtigen Aspekte angesprochen, um die es geht, wenn wir uns fragen, wie wir aus systemtheoretischer Sicht den Menschen für die Soziale Arbeit thematisieren oder rekonstruieren können. Diese Rekonstruktion setzt in der Systemtheorie zunächst einmal – und dies habe ich bereits betont – eine Dekonstruktion voraus: eine Auflösung des Kompaktbegriffs »Mensch« in unterschiedliche – wie Fuchs (siehe oben) sagt: »Phänomenalitäten«, nämlich in drei Systeme: in das biologische, psychische und soziale System. Weiterhin geht es darum, sich zu vergegenwärtigen, dass Begriffe eben nicht zu verwechseln sind mit der scheinbaren Realität, die sie bezeichnen. Realitäten werden beobachtet; aber diese Beobachtung offenbart uns nichts, was jenseits dieser Beobachtung liegt, sondern lediglich Kaskaden von anderen Beobachtungen. Wir wissen spätestens seit Immanuel Kants Philosophie, dass die »Dinge an sich«, auch »die Menschen an sich« nicht zugänglich sind. Uns offenbaren sich lediglich Konstruktionen, mit denen wir im Alltag so umgehen, als ob sie beobachterunabhängige Realitäten wären (siehe aufschlussreich dazu Schmidt 2003). Zu beiden Aspekten – also zur Dekonstruktion des Menschen und zur konstruktivistischen Sicht auf den Menschen sowie zu den daraus sich ergebenden Möglichkeiten für die Soziale Arbeit – will ich nun Näheres ausführen.
Dekonstruktion des Menschen: Biologische, psychische und soziale Systeme
In der Systemtheorie Luhmanns wird der Mensch dekomponiert, insbesondere in die zwar hinsichtlich ihrer Elemente unabhängig operierenden, aber sich gegenseitig voraussetzenden, strukturell gekoppelten Systeme Körper (biologisches System) und Bewusstsein (psychisches System). Die vermeintliche Einheit Mensch wird zu einer Differenz zweier Systeme (Körper und Psyche), die sich im Kontext eines dritten Systems konstituiert, nämlich in der Umwelt sozialer Systeme.
Wenn wir in diesem Zusammenhang Luhmanns (vgl. 1991, S. 73) Empfehlung lesen, dass Theorie heißt, »aus Trivialitäten weitreichende Schlüsse zu ziehen«, dann haben wir an diesem Punkt ein sehr schönes Beispiel dafür. Denn eine Trivialität, zumal für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, ist es, zu wissen und täglich immer wieder zu erfahren, dass das, was sie mit ihren Klienten tun, nur äußerst beschränkt geplant und hinsichtlich seiner Wirkungen vorhergesagt werden kann. In Sozialarbeiterkreisen grassiert auch die Formulierung, dass man andere Menschen »eigentlich« nicht verändern kann; man kann ihnen nur dabei helfen, sie unterstützen, sich selbst zu verändern. Demnach ist Hilfe letztlich immer eine Hilfe zur Selbsthilfe – das ist eine gängige, sogar in rechtliche Formulierungen eingespeiste sozialarbeiterische Formel.
Aus diesen Trivialitäten, die wir im Alltag permanent erfahren und zumeist höchstens mit einem Schulterzucken hinnehmen, zieht nun die soziologische Systemtheorie weitreichende Schlüsse. Ein solcher Schluss ist die beschriebene systemische Dreiteilung.
Mit dieser Dreiteilung lässt sich sehr genau erklären, warum zielgerichtetes Verändern von Menschen ein höchst unwahrscheinliches Unterfangen ist. Denn im Gegensatz zu anderen Systemtheorien (etwa der »Züricher Schule« nach Staub-Bernasconi oder Obrecht) versteht die luhmannsche Theorie Systeme nicht als ineinander verschachtelte russische Puppen, sondern als System-Umwelt-Differenzen. Während die herkömmliche Systemtheorie Systeme als ineinander verschachtelte Gebilde konzipiert (das jeweils größere, etwa die Gesellschaft, enthält die jeweils kleineren Systeme, etwa Menschen, Familien, Organisationen etc.), arbeitet die luhmannsche Theorie mit einem komplexeren Systemverständnis.
Demnach bilden sich Systeme in Abgrenzung zu einer Umwelt. System und Umwelt sind dabei zwei Seiten einer Form, die in einem Verhältnis der Gleichzeitigkeit und gegenseitigen Bedingtheit stehen. Daher ist etwa die Frage danach, was wichtiger ist, das System oder die Umwelt, sinnlos. Beides ist gleich wichtig; das eine wäre ohne das andere nicht existent.
In diesem Zusammenhang können wir bereits sehen, dass die luhmannsche Theorieentscheidung, Menschen der Umwelt sozialer Systeme zuzurechnen, keine Abwertung des Menschen, genauer: der biologischen und psychischen Systeme bedeutet – im Gegenteil: Ohne biologische und psychische Umwelt könnte sich kein soziales System konstituieren.
Das soziale System ist angewiesen auf Körper (biologische Systeme) und Prozesse des Bewusstseins in psychischen Systemen.
Kommunikationen als Elemente des sozialen Systems bilden sich erst aufgrund der unüberbrückbaren Differenz zwischen unterschiedlichen psychischen und körperlichen Systemen. Mit anderen Worten, mehrere Psychen können sich nicht wechselseitig verkoppeln, etwa im Sinne unmittelbarer Gedankenübertragung (siehe zur gegenteiligen These mit empirischen Befunden: Sheldrake 2003), sondern müssen den Umweg über Kommunikation gehen. Kommunikation, mithin das soziale System, ist das Dritte, das sich zwischen unterschiedlichen Körpern und Psychen immer dann bildet, wenn diese sich wechselseitig beobachten. Dann kann – im Sinne Paul Watzlawicks – nicht nicht kommuniziert werden, dann bildet sich das Soziale quasi wie von selbst.
Entscheidend an diesem Punkt ist nun jedoch, dass zwischen den drei benannten und sich wechselseitig bedingenden sowie gleichzeitig agierenden Systemen Anregungsverhältnisse bestehen: Jedes System existiert auf der Basis der Anregungen der anderen. Diese Anregungen sind jedoch nicht in deterministischer Weise zu verstehen. Kein System kann die anderen unmittelbar steuern; es kann jedoch Selbststeuerungen bei den jeweils anderen Systemen auslösen.
An dieser Stelle könnten wir beispielsweise an die marxistische Idee denken, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme, und aus systemtheoretischer Sicht konkretisieren: Das menschliche Bewusstsein konstituiert sich zwar in einer jeweiligen Gesellschaft, diese Gesellschaft ist sein Kontext. Dieser Kontext kann auch das begrenzen oder ausweiten, was dieses Bewusstsein denken kann, es kann aber letztlich nicht festlegen, was es dann tatsächlich denkt, was es psychisch aus dem macht, was es schlussfolgert, plant oder fantasiert angesichts dessen, was es an Kommunikationen in seiner gesellschaftlichen Umwelt (psychisch) beobachtet.
Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass angesichts der sehr differenzierten Trennung der drei benannten Systemklassen an Theorien menschlicher Bedürfnisse angeschlossen werden kann. Selbst die von einem völlig anderen systemischen Konzept ausgehende Bedürfnistheorie von Werner Obrecht (1996, S. 142 ff.) lässt sich vor dem Hintergrund der luhmannschen Theorie nutzen, wenn man die drei Bedürfniskategorien biologische, biopsychische und biopsychosoziale Bedürfnisse, von denen Obrecht spricht, in einem nicht hierarchischen Verhältnis denkt. Denn biologische, psychische und soziale Systeme werden mit der luhmannschen Theorie in einem sich wechselseitig voraussetzenden Verhältnis gedacht. Jedes dieser Systeme ist auf die Existenz der anderen in seiner Umwelt angewiesen und kann nur so seine jeweilige Autopoiesis (Selbstreproduktion und Selbstorganisation) und damit seine Bedürfnisse sichern. Erst vor diesem Hintergrund sind beispielsweise die komplexen Wechselwirkungen von sozialen, psychischen und körperlichen Prozessen erklärbar, mit denen sich etwa die psychosomatische Medizin beschäftigt und die auch Thema der klinischen Sozialarbeit sind (vgl. Pauls 2004). Besonders deutlich und für die Soziale Arbeit anschlussfähig veranschaulicht Fritz B. Simon (1995) in seinem Buch Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie diese strukturellen Verkoppelungen der genannten Systeme.
Menschen in der Sozialarbeit: Eine Beobachtung zweiter Ordnung
Neben der Dreiteilung der für uns Menschen relevanten Systeme spricht Fuchs (siehe oben) von der besonderen Beobachtungstechnik der Systemtheorie, von der Beobachtung zweiter Ordnung. Mit der Beobachtung zweiter Ordnung ist es etwa möglich zu sehen, wie die praktische Soziale Arbeit das beobachtet und damit allererst konstruiert, d. h. unterscheidet und bezeichnet, was in der vortheoretischen Sprache als »Mensch« kommuniziert wird. Inzwischen gibt es einige Arbeiten, die sich mit der Konstruktion der – wenn man so will: besonderen Menschenform beschäftigen, die die Soziale Arbeit hervorbringt: mit der Genese des Klienten (Eugster 2000).
Als Ausgangspunkt könnten wir zunächst feststellen, dass der Begriff »Klient« freilich nicht mit dem Begriff »Mensch« gleichzusetzen ist. Ein Klient ist ein minimaler Ausschnitt aus der unermesslichen Vielheit eines Menschen. Der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit, das habe ich bereits oben ausgeführt, ist für ein soziales Kommunikationssystem, etwa für einen sozialarbeiterischen Hilfeprozess, unerreichbar. Menschen werden in sozialen Systemen als Personen relevant, was auch als Inklusion bezeichnet wird. Und Personen sind damit ebenfalls keine Menschen, sondern die Anschlussstellen für psychische und soziale Systeme, um sich auf ihren jeweiligen Seiten, also gedanklich und/oder kommunikativ, sinnhafte Ordnungen, Erwartungen, Strukturen und Zurechnungsmöglichkeiten zu organisieren. Menschen, also die Einheiten der strukturell verkoppelten Differenzen von biologischen und psychischen Systemen, sind unermesslich mehr als das, was in einem sozialen System als Person relevant wird. Zudem variieren Personen mit der Veränderung des sozialen Kontextes, der sie gerade tangiert. Diese Veränderung bringt unterschiedliche Rollen in den Blick, die Personen einnehmen können. Eine solche Rolle ist die des Klienten.
Rollen zeichnen sich dadurch aus, dass sie – ähnlich wie Personen, nur in noch allgemeinerer, genauer: austauschbarer Weise – Erwartungen bündeln. Die Rolle des Klienten geht freilich mit einer Problemzuschreibung und entsprechenden Erwartungen, Selbst- und Fremderwartungen, einher. Auch die »Eintrittskarte« ins Hilfesystem ist das Ins-Spiel-Bringen von Problemen. Die Soziale Arbeit läuft zunächst als die Beobachtung von Personen an, die sich selbst Probleme zuschreiben oder denen solche von anderen zugeschrieben werden. Wenn es gelingt, für diese Probleme eine sozialarbeiterische Hilfe in Aussicht zu stellen, und sich die betreffenden Personen auf den Hilfeprozess einlassen, kommt es zur genannten Genese des Klienten.
Es würde den konstruktiven Fortgang der Hilfe allerdings hemmen, wenn Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen an dieser Stelle ihren Klienten mit seinem Menschsein identifizieren würden; sie tun, genau genommen, das Gegenteil: Sie gehen davon aus, dass sich mit der gleichen Person Chancen bieten, vom Problem zur Lösung überzugehen. Die aktuell in unterschiedlichen Konzepten, etwa in der systemischen oder der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit, favorisierten radikal lösungs- und ressourcenorientierten Ansätze (etwa nach Steve de Shazer und Insoo Kim Berg) bieten hier Strategien an, die den Wechsel vom – wie wir vielleicht sagen könnten: »Problemklienten« zum »Ressourcenklienten« mit einiger Nachhaltigkeit erreichen. Diese Ansätze dekonstruieren den »klassischen Klienten« mit seinen Problemen und Schwierigkeiten und bringen einen Klienten in Sicht, der selbst erster Auslöser für einen visionären Veränderungsprozess sein kann – ausgehend von kreativ erarbeiteten Utopien, etwa durch die Wunderfrage (siehe weiterführend dazu De Jong u. Berg 2002).
Neben dem Klientenbegriff gibt es seit einigen Jahren weitere Markierungen für die Rollen von Personen, die in der Sozialen Arbeit relevant werden. Speziell bei Begriffen »Kunde« oder »Bürger« können wir relativ schnell erkennen, dass es sich um interessenspezifische, geradezu ideologische Konstruktionen des Systems selbst handelt, aber nicht um Bezeichnungen, die in der Lage sind, das Ganze eines Menschen zu erfassen. Mit der Bezeichnung »Kunde« geht eine ökonomische Ideologie einher, die Soziale Arbeit als ein marktwirtschaftliches Geschehen konstruiert. Der Begriff »Bürger« findet Verwendung in einem Kontext, in dem die Eigenverantwortung und Mündigkeit derjenigen hervorgehoben werden soll, die auf Hilfe angewiesen sind.
Halten wir fest, Soziale Arbeit tut zwar mitunter so, als ob sie auf den (ganzen) Menschen Bezug nehmen könnte, aber ihr ist dies aus Gründen, die ich zu plausibilisieren versucht habe, nicht möglich. Sie erreicht mit ihren Kommunikationen unterschiedliche und unvollständige Facetten einer Komplexität, die ihr immer nur in reduzierter Form zugänglich ist. Zwar wird in sozialen Systemen oft so getan, als ob Menschen kommunizierten oder als ob über Menschen kommuniziert würde, aber bei genauer Betrachtung, mithin bei einer Beobachtung der Art und Weise, wie soziale Systeme agieren, wird sichtbar, dass dies eine Illusion ist. Menschen gehen weder ein in die Kommunikation, noch können sie kommunikativ erreicht werden. Sie bleiben als strukturelle Zusammenbindungen biologischer und psychischer Systeme in einer schier unermesslich komplexen Umwelt; sie bleiben kommunikativ so unbestimmbar, dass jeder soziale Bestimmungsversuch (z. B. als Klient, Kunde oder Bürger) recht schnell, zumal mithilfe einer Beobachtung zweiter Ordnung, in seiner Künstlichkeit und Begrenztheit sichtbar wird.
Offenhalten einer Frage: Was ist der Mensch?
Die Frage, was der Mensch ist, kann womöglich nur beantwortet werden, wenn wir die Einheit des Menschen auflösen in die drei benannten Systeme. Mit dieser Dekonstruktion der Identität Mensch in die Differenz von biologischem, psychischem und sozialem System kann die Komplexität erahnt werden, die den Menschen kennzeichnet und die niemals gänzlich erfasst werden kann. Mit der klassischen Kritischen Theorie können wir an dieser Stelle auch sagen, dass der Mensch ein besonders schönes Beispiel ist für das, was Theodor W. Adorno (1966) in seiner Negativen Dialektik das Nichtidentische nennt. Das Nichtidentische ist nämlich jenes, welches sich der klaren begrifflichen und jeder anderen Identifizierung entzieht, dem man erst dann zu seinem Recht verhilft, wenn man vermeidet, es eindeutig fassen zu wollen. Die Frage nach dem Nichtidentischen bleibt offen, kann letztlich nicht beantwortet werden. Wenn wir versuchen, sie zu beantworten, verschieben wir lediglich die Stelle, die sich uns immer wieder entziehen wird, die wir niemals zu Gesicht bekommen.
Die Soziale Arbeit wird erst dann menschlich, und das ist freilich paradox, wenn sie darauf verzichtet, genau zu sagen, was der Mensch ist; wenn sie den Möglichkeitsreichtum nutzt, den das Zusammenspiel von biologischen, psychischen und sozialen Systemen generiert; wenn sie sich öffnet für ungeahnte Überraschungen durch Klienten, Kunden oder Bürger; wenn sie anerkennt, dass ihr Nichtwissen hinsichtlich des Menschen genau das ist, was ihr hilft, um ihre Hilfe menschlicher zu gestalten.
Bezeichnend ist doch, dass gerade menschenfeindliche Ideologien (etwa Faschismus oder Stalinismus), die das 20. Jahrhundert stark dominiert haben, zumeist suggerierten, das Wesen des Menschen vollends erfasst zu haben, und danach die Gesellschaft zu gestalten versuchten. So wird ein Satz von Adorno verständlich, den er 1965 in einem Radiogespräch mit Arnold Gehlen äußerte und der auf seine Schrift Jargon der Eigentlichkeit (Adorno 1964) verweist, dass nämlich »[d]er Mensch […] heute die Ideologie für die Unmenschlichkeit (ist).« In diesem Sinne möchte ich mit Adorno schließen, der in dem gleichen Gespräch unmissverständlich feststellt: »Zu sagen, was der Mensch sei, ist absolut unmöglich.«
Literatur:
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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Carl-Auer-Verlages
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