Copyright © 2013
levold system design Alle Rechte vorbehalten. |
|
|
Vorabdruck aus Christa Hubrig: Gehirn, Motivation, Beziehung – Ressourcen in der Schule Systemisches Handeln in Unterricht und Beratung
|
|
|
Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2010 (März)
304 S., broschiert
Preis: 29,95 €
ISBN-10: 3896709267 ISBN-13: 978-3896709264
Verlagsinformation: Was treibt Menschen zum Lernen an? Was hält sie davon ab? Ist Lernerfolg planbar? Wie kann eine funktionierende Lehrer-Schüler-Eltern-Beziehung entstehen? Christa Hubrig verbindet in diesem Buch aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung, der Systemtheorie, der Motivations-, Entwicklungs- und Handlungspsychologie zu einem Orientierungshandbuch für alle, die im pädagogischen Bereich arbeiten. Ihre langjährige Tätigkeit als Psychologin an Schulen und in der Lehrerfortbildung liefert ihr dazu aussagekräftige praktische Beispiele. Im ersten Teil des Buches zeigt die Autorin, wie systemisches, lösungs- und ressourcenorientiertes Handeln die Routinen in den Schulen positiv verändern kann. Der zweite Teil gibt einen Überblick zur systemisch-konstruktivistischen Theorie und erläutert deren Umsetzung in die einzelnen Fachdisziplinen. Hier werden auch Forschungsergebnisse zu speziellen Themen wie Gewalt an Schulen mit einbezogen und Handlungsrichtlinien entworfen. Zum Abschluss wird an Beispielen und Transkripten anschaulich dargestellt, wie man lernt, systemisch zu denken und zu handeln. In diesem Teil lässt sich besonders gut nachvollziehen, wie sich ein ressourcenorientierter Prozess vom Problem zur Lösung vollzieht.
Über die Autorin: Christa Hubrig ist Diplompsychologin und unterrichtete 38 Jahre lang Deutsch, Geschichte und Politik an einem Gymnasium, wo sie auch als Beratungslehrerin tätig war. In dieser Funktion hat sie mit Hunderten von Schülern, Eltern und Kollegen systemisch-lösungsorientiert gearbeitet. Seit 1993 leitet sie zusammen mit Peter Herrmann das "ISIS-Institut für systemische Lösungen in der Schule" (Köln) für Lehrerfortbildung. Christa Hubrig verfügt über abgeschlossene Ausbildungen in Gesprächspsychotherapie, systemischer Familientherapie und Supervision, Hypnotherapie und als NLP-Master. |
|
11. Wollen und Handeln: Wann setzen Menschen ihre Absichten um?
Wann tun Menschen, was sie vorhaben?
Systemische Beratung geschieht in einer zeitlich begrenzten Arbeitsbeziehung, welche zu Ergebnissen führen soll. Für den Berater stellt sich deshalb die Frage: Wie kann er den Willen des Klienten stärken, damit er seine guten Absichten auch im Alltag handelnd umsetzt?
11.1 Die Willenstheorie von Julius Kuhl
Unter welchen Voraussetzungen Menschen ihre Absichten in willentlichem Handeln realisieren (können), ist das zentrale Thema der Willenstheorie von Julius Kuhl in seinem Hauptwerk Motivation und Persönlichkeit (2001). In der »Person-System-Interaktions-Theorie« (PSI-Theorie) konzeptualisiert Kuhl den spezifischen Prozess der Informationsverarbeitung, welcher in willentliches Handeln mündet. Zur Begründung des Modells zieht er in umfassender Weise Konzepte und Ergebnisse der psychologischen Forschung sowie der Neurobiologie heran.
Handlungsorientierte Informationsverarbeitung geschehe in einer präzise bestimmbaren Interaktion von vier psychischen Systemen, die durch positiven und negativen Affekt energetisiert und moduliert wird.
Welche funktionalen Aspekte charakterisieren eine willentliche, selbstbestimmte Handlung?
1) Zielbestimmung und Aufrechterhaltung der Absicht: Der Handelnde muss seine Absicht bis zu einer Realisierungsmöglichkeit im Gedächtnis speichern. Diese Funktion hat das Intensionsgedächtnis (IG).
2) Selbstrepräsentation: Das Ziel sollte selbstkongruent sein, es sollte mit den psychischen Bedürfnissen des Handelnden übereinstimmen, jedoch auch andere berücksichtigen. Diese Funktion hat das Extensionsgedächtnis (EG), insbesondere das darin integrierte Selbst.
3) Hemmung der Ausführung: Der spontane Handlungsimpuls bei der Zielgenerierung muss gehemmt werden. Über die Realisierung muss erst nachgedacht werden, und es muss auf eine geeignete Situation gewartet werden. Das spontan ausführende System nennt Kuhl intuitives Verhaltenssystem (IVS). Das auf Umgebungsreize gerichtete Wahrnehmungssystem bezeichnet er Objekterkennungssystem (OES).
4) Initiative: Der Handelnde muss in der geeigneten Situation sich selbst motivieren können.
Die vier psychischen Systeme arbeiten mit unterschiedlichen Aufmerksamkeitsformen.
Dem Intensionsgedächtnis steht das analytische Denken zur Verfügung, mit dem die eigenen Fähigkeiten, die Umstände und der geeignete Zeitpunkt für die Umsetzung der Absicht geprüft werden. Die Aufmerksamkeitsform der Zielentdeckung (target detection, Relevanzfokus) verstärkt die für das aktuelle Ziel relevanten Reize.
Neue und lebensrelevante Inhalte wecken die Neugier und fesseln die Aufmerksamkeit von Schülern.
Das intuitive Verhaltenssystem initiiert die spontane Realisierung von Handlungsimpulsen. Die Aufmerksamkeit ist auf Reize in der Handlungssituation gerichtet, die für die Handlungssteuerung benötigt werden (Pertinenzfokus). Wer konzentriert auf die Sache im Handlungsfluss arbeitet, erlebt den Flow »intrinsischer Motivation«.
Im Extensionsgedächtnis sind alle biografischen Erfahrungen gespeichert. Ein Bereich des Extensionsgedächtnisses, das Selbst, ermöglicht es, selbstbestimmt und selbstkongruent zu handeln. Die Aufmerksamkeitsform der Vigilanz vermittelt die allgemeine Wachsamkeit für selten auftretende Ereignisse, welche zu einem im Hintergrund des Bewusstseins repräsentierten Suchmodell passen (Stimmigkeits- oder Kongruenzfokus). Das »intelligente Fühlen« leitet und bewertet die Suche im Extensionsgedächtnis, somatische Marker melden dem Bewusstsein Erfolg oder Misserfolg zurück. Die sekundären Emotionen und ihre Aufmerksamkeitsform Vigilanz ermöglichen es, Komplexität zu bewältigen.
Die Stimmigkeit dessen, was man erschafft, sei es ein Aufsatz in der Schule oder eine Körperbewegung im Sport, wird gefühlt. Auch Stimmigkeit im Sinne von Selbstkongruenz wird gespürt.
Zum Objekterkennungssystem gehören neben den fünf Sinnessystemen die Orientierungsreaktion, welche Signale verstärkt, die nicht zur Erwartung passen (Unstimmigkeits- oder Diskrepanzfokus, Fehlerentdeckung).
So wichtig es ist, die Kongruenz mit dem Selbst herzustellen, ohne neue Informationen aus der Umwelt würde kein Mensch sich weiterentwickeln. Hierfür ist genaues Wahrnehmen notwendig, damit man herausfindet, was in das Vorhandene passt oder nicht passt. Ganz zu schweigen von aktualen Bedrohungen des Organismus, welche die Aufmerksamkeit nach außen richten.
Das Intensionsgedächtnis und das Objekterkennungssystem sind bewusste, das intuitive Verhaltenssystem und das Extensionsgedächtnis sind unbewusste Formen psychischer Aktivität.
Zwei Affekte und zwei Modulationsannahmen
Positive und negative Affekte regulieren die Interaktion der vier psychischen Systeme, ihre Ausprägung wird wechselwirkend moduliert. Emotionen werden unter zwei Affektrichtungen subsumiert. Zwei Modulationsannahmen (und fünf Differenzierungen) beschreiben die funktionale, energetische Ausbalancierung der vier Erkenntnissysteme bei einer selbstbestimmten Persönlichkeit. Damit lassen sich auch pathogene Funktionsprofile bestimmen.
Abb. 19: Das PSI-Modell psychischen Funktionierens [nach Kuhl 2009; A+/− bedeutet, dass der Affekt aktiviert, A(+), A(−), dass er herabreguliert wird]
Das Modell besagt, umgangssprachlich vereinfachend formuliert:
Hat man eine tolle Idee, möchte man sie am liebsten sofort umsetzen, das intuitive Verhaltenssystem wird durch positiven Affekt (A+, Freude) »eingeschaltet«. Doch das geht in der Regel nicht, man muss die Realisierbarkeit der Idee nüchtern analysieren und auf eine günstige Gelegenheit warten: Das Intensionsgedächtnis wird benötigt, beim analysierenden Nachdenken wird der positive Affekt herunterreguliert [(A+)]. Zur Prüfung der Umstände muss man genau hinschauen, um mögliche Schwierigkeiten und Fehler zu erkennen. Um dennoch die Handlungsinitiative ergreifen zu können, muss man wieder positiven Affekt (A+) rekrutieren, das heißt, man muss sich selbst motivieren. Hierfür kann man die breite Erfahrung des Extensionsgedächtnisses nutzen: Man kann sich an eigene erfolgreiche Handlungen in der Vergangenheit (»Erfolgserlebnisse«) oder an das Vorbild von anderen (»Modelle«) erinnern, was implizit mit positivem Affekt verbunden ist. Misserfolge (A−) kann man – in der Besinnung auf andere Erfahrungen – im Extensionsgedächtnis verarbeiten und sich selbst beruhigen [(A−)].
Das »Extensionsgedächtnis« entspricht dem »autobiografischenGedächtnis«. Kuhl fügt das Konzept des »Selbst« in der Tradition von C.G. Jung in seine Theorie ein. Das »integrierte Selbst« im Extensionsgedächtnis sei eine besondere Quelle willensbahnender Affekte, da es positiven Affekt unabhängig von externen Reizen generiert und zugleich prüft, ob Absichten und Anforderungen mit den Bedürfnissen des Individuums übereinstimmen.
11.2 Emotionsregulation als Entwicklungsaufgabe
Gefühlsregulation in der beschriebenen Weise kennzeichnet nach Kuhl eine »reife Persönlichkeit«: Sie ist in der Lage, sich selbst zu motivieren und nach Enttäuschungen sich selbst zu beruhigen. Kinder und Jugendliche erlernen diese Fähigkeiten erst, sie brauchen dazu die Hilfe ihrer erwachsenen Bezugspersonen.
Schulische Beratung könnte man als ein »Hilfssystem zur Emotionsregulation« bezeichnen. Hauptaufgabe von Beraten und Unterrichten ist, Schüler im Rahmen ihrer Kompetenzen zu selbstbestimmtem Handeln anzuregen, damit sie ihre Fähigkeiten entwickeln. Lehrer unterstützen Schüler (und ihre Eltern) dabei, sich für Lernanstrengungen und Ziele zu motivieren und bei Misserfolgen und Frustrationen sich zu beruhigen, damit sie die Ziele weiterverfolgen und von außen gestellte Anforderungen bewältigen können. In der Bilanz sollten die positiven gegenüber den negativen Erfahrungen in Unterricht und Beratung überwiegen; Lehrer können sehr viel dazu beitragen, dass die emotionale Bilanz in der Schulzeit positiv ausfällt.
Eine typische Schulsituation im Lichte der PSI-Theorie
Ein Schüler ist versetzungsgefährdet und berät sich mit seinem Lehrer. Er möchte unbedingt das Klassenziel erreichen und hat sich dazu das Ziel gesetzt, von morgen an zwei Stunden konzentriert zu Hause zu lernen, um in den nächsten Klausuren bessere Noten zu bekommen. Die Ziele sind motivierend: Er bleibt mit seinen Freunden in der Klasse zusammen (Fernziel). Nach Absolvierung der Lerneinheit hat er ein gutes Gefühl (Nahziel), er hat etwas gelernt (Erfolgserlebnis) und ist stolz auf sich, weil er sich überwunden hat. Beruhigt kann er sich anderen, attraktiveren Aktivitäten zuwenden. Die Zielzustände werden im Beratungsgespräch allerdings nur in der Vorstellung erlebt.
Doch was garantiert, dass er seine gute Absicht, die unangenehme tägliche Lernanstrengung, tatsächlich umsetzt? Er muss sein Ziel im Auge behalten, vieles könnte ihn davon ablenken. Er muss der Lust, etwas anderes zu machen, widerstehen, und er muss sich jeweils selbst motivieren, damit er mit dem Lernen anfängt. Schließlich muss er erkennen, welche Fehler er beim Lernen macht, um damit voranzukommen. Eine Hilfe dabei ist die ausdrückliche Vereinbarung, das Versprechen gegenüber dem Lehrer. Hat er dennoch nicht täglich zwei Stunden gelernt, stellt sich die Frage nach den Hindernissen.
Findet man sie ganz konkret heraus und bleibt das Ziel virulent, dann sucht der Schüler automatisch nach Verhaltensalternativen. Das folgende Beispiel einer Fehleranalyse veranschaulicht den Mechanismus.
Die Entdeckung der Erkenntnislust – Ein verstandener Fehler führt zu einem Aha-Erlebnis
Dieter, ein 18-jähriger Schüler aus kleinbürgerlichem Milieu, hatte sich selbst in seinem ersten Schuljahr auf der Kollegschule im Vergleich zu seinen Migranten-Mitschülern, die ihm dümmer als er zu sein schienen, wie er rückblickend sagte, »maßlos überschätzt« und nicht gelernt (»Was die können, werde ich locker schaffen«), mit dem Ergebnis, dass er das Schuljahr wiederholen musste. Doch wieder konnte er teilweise keine ausreichenden Ergebnisse erzielen, gegen Ende des Wiederholungsjahres stand er in zwei Fächern auf der Kippe. Das wäre das Ende seiner Schulkarriere gewesen. Also strengte er sich ungeheuer ein, insbesondere den Stoff des entscheidenden, ungeliebten Faches (betriebswirtschaftliches Rechnungswesen) zu lernen. Er musste sich den Inhalt des Lehrbuchs, das sein Lehrer, ein bekannter Experte seines Fachs, verfasst hat, genau einprägen. Das gelang ihm nur sehr mühsam, immer wieder hatte er alles vergessen. Mit großer Anstrengung schaffte er die Versetzung. In den unterstützenden Gesprächen, die ich ihm als Nachbarin angeboten hatte, damit er erst mal einfach durchhielt und nicht endgültig aufgab, zeigte er sich freundlich, zurückhaltend und passiv, er kam jedoch gerne und bereitwillig.
In den Ferien nach der Versetzung untersuchten wir seine Lernstrategie. Dabei zeigte sich, dass er meine »Lerntipps« nicht umgesetzt, sondern unter dem wochenlangen Stress auf den Rat seiner Mutter zurückgegriffen hatte: Die Buchseiten immer wieder abschreiben. Sie überwachte voller Sorge sein Lernen, ihr Effizienzmaßstab war die Zeit, die er damit verbrachte. Dem Tipp seiner Mutter folgend, habe er die Seiten des Lehrbuchs abgeschrieben. Er habe das zunächst im Wechsel von 30 Minuten getan (Schreiben/Pause). Dann habe er sich auf 60 Minuten gesteigert, schließlich habe er vor der entscheidenden Klausur das Abschreiben auf fünf Stunden ohne Unterbrechung ausgedehnt. Seine Mutter habe sein Bemühen gesehen, ihn ermutigt und gelobt. Die Absurdität des Lösungsversuchs nach dem Muster »Mehr desselben« lag offen zutage, es hatte keinen Sinn gehabt, sich abwertend darüber lustig zu machen.
Was sein Ziel sei? »Besser und schneller lernen.« Es gehe also um Effizienz, um einen qualitativen Sprung beim Lernen. »Ich frage mich, wie du das hinkriegst, dich so stark zu bemühen und dennoch keinen Erfolg zu haben. Schließlich bist du ein Junge mit einer normalen, wenn nicht überdurchschnittlichen Intelligenz.« Um das herauszufinden, untersuchten wir eine Lernsequenz ganz genau. Er schreibe eine Seite ab, nach einer Weile werde ihm das langweilig, und er schweife mit den Gedanken in alles Mögliche ab, schließlich schmerze ihn der Arm, und er mache eine Pause, um dann wieder weiterschreiben zu können. Unschwer erkennt Dieter, dass die monotone motorische Tätigkeit seinen Geist, seinen Verstand und sein Gefühl nicht fordert. Die suchen sich notwendig ein anderes Betätigungsfeld und ergehen sich ganz natürlich in Vorstellungen, Erinnerungen etc. Er sei also nicht auf die Sache konzentriert. Über Konzentrationsfähigkeit verfüge er. Gut konzentrieren könne er sich auf Dinge, die ihn »interessieren« (Computer, Mathematik, spannende Lektüre etc.). Nicht alles in der Schule jedoch sei interessant. Doch, obwohl ihn das Fach nicht interessiert, wolle er die Inhalte lernen, um die Abschlussprüfung zu bestehen.
Abstraktes Wissen wie in diesem Lehrbuch, erläutere ich ihm, könne man nur verstehen und sich merken, wenn man es mit Anschauung verknüpft, das sei ein Gesetz. Das zu tun wäre eine geistige Arbeit, die seine volle Konzentration erfordert, also das Gefühl einbezieht. Bei dem Versuch, sich das umfangreiche Faktenwissen des Lehrbuches durch Abschreiben einzuprägen, sei er emotional unbeteiligt, so bleibe nichts haften.
Zum nächsten Gespräch kam Dieter strahlend mit dem Lehrbuch in der Hand und erzählte, dass er herausgefunden habe, wie er sich das Wissen merken kann. Wozu er sonst abschreibend Stunden gebraucht habe, das habe er in fünf Minuten »dringehabt«. Er schildert seine Strategie, auf einem kleinen Zettel hat er notiert, was er sich wie merken kann. Damit könne er das Wissen jederzeit wieder auffrischen.
Wie die neue Lernstrategie des Schülers im Einzelnen aussieht, ist hier nicht von Belang, wichtig ist, dass er sie selbst entdeckt hat. Die Entdeckung ist ein Aha-Erlebnis, eine kleine, beglückende Erkenntnis. Er hat den qualitativen Sprung, der in jeder Erkenntnis liegt, vollzogen und den Motivationsschub durch den kreativen geistigen Vollzug erlebt. »Weiter so, viele solche kleine Strategien herausfinden!« Zum ersten Mal hat der junge Mann das »Muster« unterbrochen. Der Schlüssel dazu war die genaue Fehleranalyse, welche in ihm spontan einen Suchprozess auslöste, der zum Erfolg führte. Das erklärt seine große Freude über das kleine Ereignis, in fünf Minuten einen langweiligen Unterrichtsstoff gelernt zu haben.
11.3 Systemisch-lösungsorientierte Beratung aus Sicht der Willenstheorie
Das Wissen über die intrapsychische Dynamik im Modell der PSI-Theorie orientiert das Handeln des Beraters. Er kann sich dabei auf funktionale, gesetzmäßig auftretende Prozesse in der Psyche des Klienten beziehen. Auch dieses letztlich hypothetische Modell hat faktische Auswirkungen im Sinne des Konstruktivismus.
Die erwiesene Effizienz des systemischen, lösungs- und ressourcenorientierten Interventionsansatzes kann mit einer umfassenden psychologischen Theorie erklärt werden, wie Kuhl selbst in einer Analyse der systemischen Methodik aufzeigt (2001, S. 1004 ff.).
Die Aufmerksamkeitsfokussierung auf Ziele und Ressourcen stärkt positive, selbstwertstützende Gefühle und reguliert negative Affekte herab, sodass der Zugang zum Extensionsgedächtnis gebahnt wird.
Die Wirksamkeit systemischer Interventionen könne »mit der Aufschließung des Extensionsgedächtnisses« erklärt werden. Das darin integrierte Selbst werde als Suchraum auf methodisch unterschiedliche Weise »geöffnet«. Das geschehe darüber hinaus durch den persönlichen Dialog und die Gestaltung einer zwischenmenschlichen Beziehung.
Erzielte Erfolge des Klienten müssen im Feedback explizit wahrgenommen werden, sonst geht ihr Wirkungspotenzial verloren. Deshalb werden zu Beginn der zweiten oder n-ten Beratungsstunde differenzierte, veränderungsfokussierende Fragen gestellt (Wie genau hast du das hingekriegt?), damit (auch kleine) Veränderungen wirklich das Extensionsgedächtnis erreichen. Das geschieht nur, wenn sie gespürt werden. Andernfalls können Erfolge nicht das Selbstbewusstsein stärken und zur späteren Wiederholung abgespeichert werden. Nur die Integration ins Selbstsystem ermögliche eine »ausgedehnte« Zufriedenheit mit dem Erfolg: Bezüge zu den eigenen Bedürfnissen, Werten, sozialen Beziehungen etc. werden implizit erlebt. Im Falle des Misserfolgs wird im Extensionsgedächtnis implizit eine ausgedehnte Suche nach Handlungsalternativen ausgelöst. Misserfolge können nicht analytisch zur kreativen Korrektur des eigenen Verhaltens ausgewertet werden (Wie genau hast du den Fehler gemacht? Also mach es so und so anders!). Denn eine ausführliche Fehleranalyse ohne das Ziel der intuitiven Ressourcenaktivierung aktiviert negativen Affekt, der Zugang zum Extensionsgedächtnis, aus dem neue Ideen und andere Fähigkeiten rekrutiert werden, ist blockiert.
Bei problemvermeidenden Klienten (»uneinsichtigen« Schülern) allerdings muss man nachdrücklich auf die Probleme und ihre Konsequenzen eingehen, das sind in der Schule zum Beratungs- oder Klassenlehrer »gesandte Klienten« und »Anstrengungsvermeider«. Grüblerische, auf das Problem fixierte Schüler und Eltern dagegen brauchen die schnelle Umorientierung auf Ressourcen und die Arbeit mit bewältigungsorientierten Methoden.
Mit der Willens- und Handlungstheorie von Julius Kuhl kann das systemisch-konstruktivistische Arbeitsmodell psychodynamisch fundiert werden. Dem Beratenden liefert die PSI-Theorie eine einfache, einprägsame Handlungsorientierung.
Literatur:
Kuhl, J. (2001): Motivation und Persönlichkeit. Interaktion psychischer Systeme. Göttingen (Hogrefe).
Mit freundlicher Erlaubnis des Carl-Auer-Verlages
|
|
|