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Vorabdruck> Dorett Funcke, Bruno Hildenbrand: Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie
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Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2009 (September)
250 S., kartoniert
Preis: 24,95 €
ISBN-10: 389670673X ISBN-13: 978-3896706737
Verlagsinformation: Gabi und Ulf sind beide zum zweiten Mal verheiratet und haben jeweils
ein Kind mit in die Ehe gebracht. Sonja und Bernd haben vor vier Jahren
Zwillinge aus Bolivien adoptiert. Natascha und Sven konnten sich ihren
Kinderwunsch durch Insemination erfüllen. Andrea und Barbara sind schon
länger ein Paar und möchten nun eine Familie gründen.
Viele der heutigen Lebensformen sind von der ursprünglichen
"Kernfamilie" mehr oder weniger weit entfernt. Worin unterscheiden sie
sich von ihr? Wie wirkt sich die veränderte Triade "Vater – Mutter –
Kind" auf das Familienleben aus? Lässt sich ein abwesendes
Familienmitglied einfach ersetzen?
Anhand von Fallbeispielen untersuchen Dorett Funcke und Bruno
Hildenbrand die einzelnen Familienformen im Hinblick auf ihre
Gemeinsamkeiten, ihre Besonderheiten und ihre speziellen Bedürfnisse.
Aus den Ergebnissen entwickeln sie nachvollziehbare und praxisnahe
Vorschläge für die Beratung und Therapie von Familien jeglicher
Couleur, sei es in psychologischen, pädagogischen, sozialpädagogischen
oder medizinischen Kontexten.
Über die Verfasser:
Dorett Funcke 1992–1999 Studium
der Soziologie und der Germanistischen Literaturwissenschaft an der
Friedrich-Schiller-Universität Jena; seit 2002 als wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Sozialisationstheorie und
Mikrosoziologie des Instituts für Soziologie der FSU Jena, sowie im SFB
580, Teilprojekt 3: Individuelle Ressourcen und professionelle
Unterstützung bei Bewältigung von Systemumbrüchen in kontrastierenden
ländlichen Milieus in Ostdeutschland, Westdeutschland, Italien und
Spanien. Bruno Hildenbrand, Jahrgang 1948, ist seit 1994 Professor für
Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie am Institut für Soziologie
der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie seit 1988 Dozent und
Supervisor am Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung
in Meilen/Zürich. Autor des Buches "Einführung in die Genogrammarbeit";
gemeinsam mit Rosmarie Welter-Enderlin Herausgeber der Bände "Gefühle
und Systeme", "Rituale – Vielfalt in Alltag und Therapie" und
"Resilienz. Gedeihen trotz widriger Umstände".
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Kapitel I: Der lange Weg der Kernfamilie - ist er zu Ende? Von der Familie zu den persönlichen Beziehungen – ein Fortschritt im Verständnis des Zusammenlebens von Paaren und Familien? / Eine kurze Geschichte der Familie: was war, was ist und was bleibt / Wozu ist also die Familie gut? / Ist die Familie am Ende? Und wenn ja: was kommt danach? / Unkonventionelle Familien sind solche, in denen die Triade abwesend ist / Literatur
Von der Familie zu den persönlichen Beziehungen – ein Fortschritt im Verständnis des Zusammenlebens von Paaren und Familien?
Familie ist heute kein brauchbares Wort mehr, denn es beschreibt eine Situation, die es heute nicht mehr gibt. Familien sind heute nicht mehr nur Kernfamilien, bestehend aus Vater, Mutter und Kind. Eine Einengung der Familie auf biologische Elternschaft grenzt viele andere Familien aus, in denen Stiefkinder leben. Familie und Haushalt fallen nicht unbedingt mehr zusammen. Auf der Grundlage dieser Thesen schlägt Karl Lenz, ein Paar- und Familiensoziologe, vor, den Familienbegriff durch den Begriff der persönlichen Beziehungen zu ersetzen. Das, was vorher Familie genannt wurde, wird nun so definiert: Es handelt sich um eine Form von Beziehung, in der (a) die Personen nicht austauschbar sind, (b) deren Beziehung auf absehbare Zeit fortbestehen wird, (c) die emotional aufeinander bezogen sind und in fortwährender Interaktion stehen, (d) die persönliches Wissen umeinander aufgebaut haben. Diese Definitionen unterscheiden sich auf den ersten Blick nur wenig voneinander. Die Unendlichkeitsfiktion bzw. die Vereinbarung, dass man der Liebesbeziehung kein Verfallsdatum setzen möchte, auch, dass man die Eltern-Kind-Beziehung nicht aufzukündigen gedenkt, nicht heute und nicht in der Zukunft, teilen beide Definitionen. Auch die persönliche Unersetzbarkeit gilt nicht als überholt. Trennung und Scheidung sind auch in der „moderneren“ Definition nicht einfach hinzunehmende Tatsachen, sondern Katastrophen. Auch die in der älteren Familiensoziologie betonten Solidaritätsformen der affektiven, der erotischen und der unbedingten Solidarität werden im Begriff der persönlichen Beziehungen nicht aufgegeben. Dass jede auf Dauer angelegte Beziehung zu einem persönlichen, im Lauf der Zeit angehäuften Fundus an Wissen, besser gesagt: zu einer gemeinsamen Geschichte führt, wird weder hier noch dort in Zweifel gezogen. Worin also unterscheiden sich die beiden Konzepte? Sie unterscheiden sich in zwei wesentlichen Elementen: (1) In der Definition der persönlichen Beziehungen entfällt die biologische Elternschaft, und (2) es entfällt die Koppelung von Haushalt und Familie. Um mit letzterem zu beginnen: Wer das Konzept der persönlichen Beziehungen dem der Familie vorzieht, ist demnach der Auffassung, dass die Tatsache des Zusammenlebens unter einem Dach als Zwei-Generationen-Zusammenhang nicht konstitutiv für eine persönliche Beziehung ist. Drei-Generationen-Haushalte, Wohngemeinschaften und living-apart-together-Konstellationen können demnach mit dem Begriff der persönlichen Beziehungen besser erfasst werden als mit dem Begriff der Familie. Des Weiteren fehlt der biologische Aspekt von Elternschaft. Es wird also angenommen, dass Stiefväter, Pflegeeltern, Frauen, deren Partnerin durch eine Samenspende ein Kind empfangen und geboren hat, in eine Position gelangen können, die vordem, als der Familienbegriff noch nicht umstritten war, den leiblichen Eltern zukam. Für diese Position muss nun der geeignete Begriff gefunden werden – eben der der persönlichen Beziehungen. Diese Überlegungen sind alles andere als akademisch. Sie betreffen nicht nur die Familiensoziologie, sondern Fachleute, die in Beratung und Therapie tätig sind. Mit welchem Begriff lässt sich am besten arbeiten, wenn man es mit Paar- und Familienkonflikten zu tun bekommt? Oder reicht nicht einfach die berufliche Erfahrung aus? Soll man die Dinge in Beratung und Therapie nicht einfach so nehmen, wie sie kommen, ohne sich um Begrifflichkeiten zu scheren? In der Tat, professionelle Erfahrung kann durch eine noch so geschliffene wissenschaftliche Debatte nicht ersetzt werden. Mitunter jedoch lohnt der Blick hinüber zu den Wissenschaften – dann nämlich, wenn es bei der Klientel oder in der Patientenschaft zu Bewegungen kommt. Wie geht man vor, wenn zwei Frauen, die ein Paar bilden und von denen eine ein Kind geboren hat, dessen Samenspender (leiblichen Vater, konventionell gesprochen) sie nicht kennt, die ihre Partnerin an dessen Stelle gesetzt hat, in die Praxis kommen und Rat suchen, ob und ggf. wann sie „ihr“ Kind über diesen Sachverhalt aufklären sollen? Wie geht man vor in dem alltäglicheren Fall, in welchem ein Stiefvater nach Kräften versucht, einen „väterlichen“ Kontakt zu seinen Stiefkindern aufzubauen, diese ihn aber ablehnen, sodass die Beziehung der Mutter zu diesem Mann in die Brüche zu gehen droht? Worüber spricht man mit einem Mann, der in einer liebevollen Adoptivfamilie aufgewachsen ist und dennoch nichts anderes im Sinn hat, als seine leiblichen Eltern, vor allem seine Mutter, zu finden? Was rät man einem Paar, das jahrelang mit vielen Mühen und Entbehrungen ein Kind einer drogenabhängigen Mutter aufgezogen hat, und jetzt kommt diese Mutter und will ihr Kind sehen, das Paar kann diese Mutter nicht auf Distanz halten, und das Kind fühlt sich zu seiner leiblichen Mutter hingezogen, obwohl es ahnt, dass es mit deren Interesse möglicherweise nicht weit her ist? Was tun, wenn die wissenschaftliche Überzeugung einem sagt, dass eine Bindung, die über Monate und Jahre aufgebaut worden ist, auf keinen Fall unterbrochen werden darf, in der Wirklichkeit aber nicht nur Bindung, sondern auch (leibliche) Herkunft sich als wichtig erweisen? Diese Fragen verweisen jeweils auf ein Grundmuster, auf eine Landkarte, mit der in Westeuropa seit ungefähr tausend Jahren die Menschen durch ihr Leben steuern – eine Landkarte, die allmählich stockfleckig wird und an einigen Stellen unleserlich geworden ist. Diese Landkarte wollen wir in diesem Kapitel rekonstruieren. Danach werden wir uns mit den erwähnten Familiensituationen im Detail befassen: mit Stief- und Adoptivfamilien, mit Alleinerziehenden, mit Pflegefamilien, mit gleichgeschlechtlichen Paaren mit einem durch Samenspende entstandenen Kind, und schließlich, nicht zu vergessen: mit Paaren ohne Kind, aber mit Kinderwunsch. Dieses Buch handelt letztlich von Abwesenheit: von abwesenden Eltern und von abwesenden Kindern. Wie heute mit der Abwesenheit im Unterschied zu früher umgegangen wird, ob die alten Landkarten noch gelten, wo sie nicht mehr taugen – das ist das Thema dieses Buches.
Eine kurze Geschichte der Familie: was war, was ist und was bleibt
Seit der Aufklärung ist es üblich geworden, geschichtliche Entwicklungen mit dem Fortschrittsgedanken zu verbinden: Was war, ist schlecht, und was sein wird, ist gut. Aber auch die umgekehrte Einstellung gibt es: Was kommt, kann nur schlecht sein, und das Alte war gut. Claude Lévi-Strauss, aus unserer Sicht einer der besten Kenner der Geschichte der Familie, ist der Auffassung, dass weder die Einteilung in gut und schlecht noch das Ausspielen von Vergangenheit und Zukunft der Sache gerecht werden. Lévi-Strauss schreibt, dass die Geschichte der Kernfamilie keine Geschichte linearer Entwicklung sei. Und er fährt fort:
„Wir dürfen nicht länger dem Glauben frönen, die Familie habe sich von archaischen und ausgestorbenen Formen in gerader Fortschrittslinie weiterentwickelt. Im Gegenteil: Dem flexiblen Menschenverstand können schon früh alle möglichen Familienformen zur Auswahl gestanden haben. Was wir für Evolution halten, wäre dann nichts anderes als eine Folge von Entscheidungen zwischen mehreren Möglichkeiten, mit denen lediglich verschiedenen Entwicklungsrichtungen in einem bereits vorgezeichneten Raster eingeschlagen wurden“ (Lévi-Strauss 1996, S. 14).
Uns geht es in diesem Abschnitt um zweierlei: um die Vielfalt der Möglichkeiten von Familienformen einerseits, um die „vorgezeichneten Raster“, also um die erheblich weniger variablen Grundmuster der Familie andererseits. Die Familie ist ein Ort des Übergangs von Natur zur Kultur. Wir beginnen mit der Geschichte der Gestaltung dieses Übergangs. Danach geht es um Invarianten der Familie – also darum, was die Familie überall auf der Welt und zu allen Zeiten kennzeichnet (so weit wir das überschauen können). Wir kommen dann zu historisch variablen Grenzziehungen zwischen Familie und Verwandtschaft einerseits, Familie und Gemeinde andererseits. Sodann skizzieren wir die voll ausgebildete Kernfamilie im 20. Jahrhundert, dem „goldenen Zeitalter der Familie“, das um 1950 begann und nur kurz andauerte.
Die Anfänge der Familie. Drei elementare Entwicklungen haben dazu geführt, dass aus einem instinktgetriebenen Reproduktionsverhalten ein kultureller Sachverhalt entstand, den wir heute (noch) Familie nennen: Das Geschlechtsleben wurde kulturell gestaltet. Damit fand eine Transformation von sex (Geschlecht in biologischer Sicht) zu gender (Geschlecht in sozialer und kultureller Sicht) statt. Die zweite zentrale Entwicklung besteht in der Verhäuslichung des Vaters, und der dritte Schritt besteht in der Herausbildung von Verwandtschaftssystemen. Wir werden diese Entwicklungen nun der Reihe nach beschreiben. Die Transformation von sex zu gender besteht darin, dass den sexuellen Beziehungen und Begierden Namen gegeben, dass diese Beziehungen kulturell gestaltet werden: Anziehung, Erotik, Liebe sind solche Begriffe. Sie entstanden nicht erst in der Neuzeit, sondern können in viel früheren Dokumenten, wovon das Alte Testament ein eher junges ist, nachgewiesen werden. Biologisch vorausgesetzt ist bei dieser Transformation, dass die Empfangsbereitschaft der Frau sich von Zyklen löst und die Frau kontinuierlich empfangsbereit wird. Erst dann lässt sich die sexuelle Beziehung kulturell steuern, das heißt: an das zentrale Motiv der erotischen Liebe binden. Die zweite Entwicklung besteht darin, dass die erotisch begründete Paarbeziehung auf Dauer angelegt wird. Das heißt, dass die aus dieser Beziehung hervorgehenden Kinder einen Vater bekommen, der regelmäßig anwesend und damit „familiarisiert“ ist. Diese Entwicklung ist insofern eine kulturelle Leistung, als es bei den Frauen evident ist, dass sie von ihren Kindern die Mütter sind. Bei den Männern bleibt es dem gegenüber offen, in welcher Beziehung sie zu ihren Kindern stehen. Diese Beziehung muss ebenfalls einen Namen bekommen, sie muss gestaltet werden. Einen Nachhall dieser Differenz finden wir noch heute, wenn sich die Gesamtzahl der Alleinerziehenden auf ca. 80 % Mütter und 20 % Väter verteilt (genaue Zahlen weiter unten), oder wenn die Literaturrecherche nach abwesenden Vätern und Müttern ein deutliches Übergewicht bei den Vätern hervorbringt: Es ist die Anwesenheit des Vaters, die erklärungsbedürftig ist, und nicht die der Mutter. Anstatt dass nun aber gerade das nicht zu erwartende, nämlich die Mutterabwesenheit, zum Thema gemacht wird, ist es die Abwesenheit des Vaters. Daraus schließen wir, dass es mit der Familiarisierung des Vaters, die menschheitsgeschichtlich an den Anfängen der Familie zu verorten ist, bis heute nicht so recht geklappt hat. Wenn es eines letzten Beweises dafür bedürfen würde, dann wären dies die „Kuckuckskinder.“ Die dritte Entwicklung an den Anfängen der Familienentwicklung besteht darin, dass Verwandtschaftssysteme entstehen. Es wird nun reguliert, wer mit wem sexuelle Kontakte unterhalten darf. Vor allem entsteht jenes Tabu, das als zentral für die Entwicklung menschlicher Kultur und Zivilisation gilt: nämlich das Inzest-Tabu. Es ist dafür verantwortlich, dass Sexualpartner nicht mehr im eigenen Familien- bzw. Sippenzusammenhang gesucht werden, sondern von Fremden gewonnen werden. Waren Fremde bisher nur Feinde, so werden sie nun zu Vertragspartnern, mit denen Allianzen geschlossen werden. Sozial und kulturell betrachtet dient das Inzest-Tabu nicht dazu, Erbschäden zu vermeiden oder den Genpool möglichst breit anzulegen. Es dient dazu, „einen Schwager zu gewinnen“, wie ein einheimischer Informant im brasilianischen Regenwald Claude Lévi-Strauss mitteilte. Sippen werden miteinander durch komplizierte Regeln des Frauentauschs verbunden. Die Frühgeschichte der Familie kann mithin betrachtet werden als ein Ringen darum, elementare natürliche Vorgänge, nämlich für Nachwuchs zu sorgen und ihn zu erhalten, in eine soziale und kulturelle Form zu bringen, sodass am Ende das Soziale und Kulturelle die Oberhand über das Natürliche gewinnt. Ähnliches beobachten wir, das sei zur weiteren Erläuterung nebenbei bemerkt, auch bei einem anderen natürlichen Vorgang, dem Essen: Es ist kein Wunder, dass gerade dieser Bereich, der tief in der menschlichen Natur verankert ist, zum Kernpunkt ritueller Veranstaltungen wie z. B. dem Abendmahl in den christlichen Religionen wurde. Gibt es Grundzüge familialen Lebens, die in allen Zeiten und in allen Kulturen Bestand haben? Einige Elemente des Bemühens um die Vorherrschaft des Sozialen und Kulturellen über das Natürliche in der Menschheitsgeschichte haben insofern eine erstaunliche Konstanz bewiesen, als sie in allen Gesellschaften (mit nur wenigen Ausnahmen) anzutreffen sind. Mutiger gesprochen: Es gibt Invarianzen des Zusammenlebens in der Familie über alle Kulturen und alle Zeiten hinweg. Mit der Behauptung von Invarianzen gilt es jedoch vorsichtig umzugehen. Claude Lévi-Strauss liefert dazu zwei Versionen, eine weitgehende und eine weniger weit gehende. Beginnen wir mit der letztgenannten. Hierzu schreibt er: Es gibt keinen dogmatischen Standpunkt hinsichtlich der invarianten Besonderheiten der Familie. Man kann nur sagen, dass die konjugale (auf eine Ehe gegründete) Familie offenbar recht häufig ist, und wo sie fehlt, handelt es sich um Sondergesellschaften. Die konjugale Familie ist offenbar eine Mittellösung, ein Gleichgewicht aller möglichen Formen, für die sich alle Gesellschaften entschieden haben. Aber dieses Gleichgewicht, so schließt Lévi-Strauss, ist auch nicht für ewig austariert. Als Beispiele führt er das Kibbuz an, beeilt sich aber hinzuzufügen, dass dieses Experiment der Kollektiverziehung gescheitert sei. Als weitere Kandidaten für die Bedrohung der konjugalen Familie sieht er die Zunahme eheähnlicher Verhältnisse, die wachsende Erwerbsbeteiligung der Frauen und den Umstand, dass die Kommunikation innerhalb der Altersgruppen zunehmend die Kommunikation zwischen den Altersgruppen überwiege. Das heißt, dass die Eltern-Kind-Beziehung zunehmend Konkurrenz durch die Beziehungen der Kinder und Jugendlichen in ihren Altersgruppen bekomme. Lévi-Strauss führt diese Gedanken nicht weiter, aus gutem Grund: Prognosen sind Prophetien, und Prophetien haben nichts mit Wissenschaft zu tun. Lévi-Strauss hat auch eine härtere Formulierung anzubieten. Sie lautet: Der Ursprung der Familie liegt in der Ehe. Kinder werden demnach in bestehende Allianzen hinein geboren. Diese schließen den Ehemann, die Frau und die aus ihrer Verbindung hervorgegangenen Kinder ein und bildet daraus einen Kern, dem sich evtl. noch andere Verwandte beigesellen. Es ist nicht zwingend, dass der leibliche Vater immer präsent ist. Manchmal steht an seiner Stelle auch Mutters Bruder. Die Familienmitglieder sind geeint durch juristische Bande. In Stammeskulturen gibt es derlei nicht, sondern es gibt mündlich tradierte Vereinbarungen, die dennoch ebenso verbindlich sind wie juristische. Die Partner gehen Rechte und Pflichten religiöser, ökonomischer oder anderer Art ein. Und schließlich besteht ein genau beschreibbares Netzwerk von sexuellen Rechten und Verboten und ein variabler und vielfach geschichteter Gesamtkomplex von Gefühlen, wie Liebe, Zuneigung, Respekt, Furcht usw.
Die Herausbildung des westeuropäischen Familienmodells. Bei dieser Entwicklung geht es im Wesentlichen um Ausdifferenzierung und damit Grenzziehungen – einmal um die Grenze zwischen Familie und Verwandtschaftssystem, zweitens um die Grenzen zwischen Familie und Gemeinde. Und schließlich geht es um die Grenzen innerhalb der Kernfamilie. Wir beginnen mit den Grenzen zwischen Familie und Verwandtschaftssystem. Die Spuren des westeuropäischen Familienmodells – das ist jenes Modell, von dem heute angenommen wird, dass es sich überholt habe – gehen zurück auf die Wende vom ersten Jahrtausend nach Christus zum zweiten Jahrtausend. Es entstand, als mit dem römischen Weltreich das römische Familienmodell abgedankt hatte und nach einer langen Phase der Stagnation sich Neues herausbildete. Das Neue in Bezug auf die Familie bestand nun darin, dass nicht mehr, wie noch unter römischer Herrschaft, der Familienälteste (pater familias) die Verantwortung für Haus und Hof übertragen bekam, sondern die mittlere Generation. Sie hatte den Vorzug gegenüber den Alten, noch eine längere Lebensspanne vor sich zu haben und noch weitgehend über körperliche und geistige Kräfte zu verfügen. Für die Alten musste jedoch eine Lösung gefunden werden, nachdem man sie ihrer Macht beraubt hatte. Man konnte sie nicht einfach sich selbst überlassen. So entstand das Ausgedinge – ein eigener Raum, ein eigenes Häuschen auf dem Hofgelände oder in der Stadt. Auf diese Weise wurden zwei Haushalte und zwei Familien gebildet. Auf der kulturellen Ebene wurde diese Entwicklung dadurch unterstützt, dass der Ahnenkult durch das Christentum zurück gedrängt wurde. Die frühe westeuropäische Familie war eine Einheit von Produktion und Konsumption – man lebte und arbeitete zusammen. Das damit verbundene Familienmodell ist durch vier Merkmale gekennzeichnet: durch die erwähnte Reduktion auf eine Zwei-Generationen-Familie und die entsprechende, vertraglich gesicherte Ausgliederung der älteren Generation; durch die Neo-Lokalität, was bedeutete, dass das neue Paar einen eigenen Haushalt gründet; durch ein relativ hohes Heiratsalter, weil die Heirat an die Hof- oder Geschäftsübergabe gekoppelt ist und die Alten in der Regel zögern, in den Altenteilerstand über zu gehen; und schließlich tendieren die Paare zu einer partnerschaftlichen Beziehung, denn die Altersabstände zwischen den Partnern sind relativ gering. Ein solcher Haushalt wird je nach Größe des Hofs oder Geschäfts durch Gesinde (Knechte, Mägde) erweitert. Dabei handelt es sich um life cycle servants, also um Lebensabschnittsbedienstete, die diesen Status aufgeben, sobald sie genug Geld zusammenhaben, um mit einem Partner bzw. einer Partnerin einen Hof zu kaufen oder den ererbten Hof zu übernehmen. Wie sehr eine solche Ordnung weniger eine Familien- als eine Arbeitsordnung ist, zeigt die Sitzordnung am Esstisch, die der Stellung in der Hierarchie der Arbeitsordnung entspricht. Oben sitzt der Herr über den Hof, der Bauer, neben ihm die Herrin über den Innenbereich, die Bäuerin, ganz unten der Hütejunge, und wenn es der Sohn des Bauern ist. Später kommt es allerdings zu einer weiteren Ausdifferenzierung, und die Bauernfamilie isst alleine. Die Binnendifferenzierung der Kernfamilie wird weiter getrieben, als im 17./18. Jahrhundert ein Prozess beginnt, in dem Wohn- und Arbeitsstätten voneinander getrennt werden. Der Vater verschwindet für einen erheblichen Teil des Tages aus der Familie und geht auswärts seinen beruflichen Tätigkeiten nach. Die Mutter verschwindet aus der Arbeitsordnung der Familie, indem sie noch für den familialen Binnenbereich, jedoch nicht aber für die innerhäusliche Produktion zuständig ist. Zwar verfügt die bürgerliche Familie bis ins 20. Jahrhundert hinein über Hauspersonal, aber dies dient zunehmend den privaten Bedürfnissen. Während die Mutter also an Bedeutung im Produktionsbereich verliert, gewinnt sie im Emotionalen. Der Unterschied ist nur der, dass sich sukzessive eine Arbeitsteilung zwischen Emotionalität, die vorwiegend weiblich, und Instrumentalität, die vorwiegend männlich kodiert ist, einrichtet. Verschärft wird dies durch die weitere Verlagerung von Tätigkeiten des Familienhaushalts in die Öffentlichkeit. Zunächst wären typische Hausarbeiten (Nähen, Einkochen etc.) zu nennen, die zunehmend durch Maschinen erleichtert oder deren Ergebnisse durch industriell erzeugte Produkte ersetzt werden. Dann werden Kinderbetreuungsaufgaben zunehmend nach außen verlagert, von der Kindererziehung im Kindergarten bis zur Betreuung im Krankheitsfall. Schul- und Berufsausbildung werden zur öffentlichen Angelegenheit, und am Ende ist die Familie reduziert auf den „Hafen in einer herzlosen Welt“ (Christopher Lasch), also auf einen Sozialzusammenhang, in dem es um (emotionale) Beziehungen und sonst um nicht mehr viel geht. Dieses Gebilde erlebte seine höchste Blüte in den 1950er Jahren und ist seit dem Ende der 1960er Jahre zunehmend der Kritik ausgesetzt.
Grenzen zwischen der Familie und der Gemeinde. In der modernen Familie, in der Familie jener Phase also, in die das „Goldene Zeitalter der Familie“ fällt, wird der Zwei-Generationen-Charakter der Familie in der öffentlichen Wahrnehmung und in den gesellschaftlichen Praktiken festgeklopft. Aufgabe des bürgerlich-konservativen Staates seit dem 19. Jahrhundert ist es, die Familie zu schützen, und mit Familie ist hier die Zwei-Generationen-Familie gemeint. Im Notfall sind die direkten Verwandten in auf- und absteigender Linie, die Eltern und die Kinder also, zu Unterstützungsleistungen gesetzlich verpflichtet. Die anderen Verwandten, auch die Großeltern und die Enkel, werden nicht herangezogen. Zwischen der Familie und der Außenwelt, inklusive der Verwandten, bestehen Grenzen nicht nur der finanziellen Art. Haustüren mit und ohne Schlüssel, aber mit Türklingel, Zeiten, zu denen man anrufen darf, und Zeiten, zu denen sich das nicht gehört, Anlässe, bei denen die einen zugelassen sind und andere nicht – dies sind nur wenige Beispiele für das alltägliche Erzeugen und Erleben von Grenzen zwischen der Familie und der Verwandtschaft, der Nachbarschaft und der Gemeinde. Die Ehe, so schreiben Berger und Kellner (1965), begründet einen nomischen Bruch, denn hier treffen zwei Fremde aufeinander, die aus verschiedenen – nicht zu weit voneinander fern liegenden – Welten kommen und nun ihre eigene soziale Welt erzeugen. Diese Welt macht sie dann wiederum in gewisser Weise zu Fremden ihrer eigenen Herkunftsfamilie und ihrer eigenen Verwandtschaft gegenüber. Dass aus dieser Distanz heraus rege Beziehungen zur Verwandtschaft unterhalten werden, ist damit nicht ausgeschlossen. Tatsächlich leben die meisten Familien heute in Deutschland in einem Gebilde, das Hans Bertram eine „multilokale Mehrgenerationenfamilie“ nennt. Konkret heißt das, dass 60 % der Deutschen, die erwachsene Kinder haben, im selben Ort wie ihre Kinder leben, und 90 % der Deutschen mit erwachsenen Kindern können diese innerhalb von zwei Stunden erreichen. Das bedeutet, dass die Ausdifferenzierung der Kernfamilie und die Verdichtung von Verwandtschaftssystemen sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern Hand in Hand gehen. Dieser letzte Satz lässt sich auch so formulieren: Familien in der Moderne stehen vor einer widersprüchlichen Aufgabe. Einerseits geht es um die Kohäsion, also um den Zusammenhang der Familie nach innen, zum anderen geht es um die Adaptation, also um die Orientierung der Familie auf ihre Außenwelt. Hier kommt es auf das jeweils angemessene Mischungsverhältnis an. Zu viel Adaptation, zu wenig Kohäsion führt zur Desintegration der Familie. Zu viel Kohäsion, zu wenig Adaptation führt zu Rigidität im Familienleben. Diesen ständigen Balanceakt bewältigen die Familien in der Regel, ohne weiter darüber nachzudenken. Was ihn gleichwohl weiter kompliziert, ist der Umstand, dass im Laufe eines Familienzyklus das Mischungsverhältnis von Kohäsion und Adaptation sich ständig verändert und den sich ändernden Bedürfnissen und Orientierungen der Kinder zum Beispiel anpasst: Ist ein Familienmilieu, welches gut nach außen abgegrenzt ist und in dem der Grenzverkehr zwischen innen und außen gut geregelt ist, ein angemessener Rahmen für das Aufwachsen eines Kleinkindes, so unterstützt ein Familienmilieu, das flexibel mit Grenzen umgehen kann, die sich ablösenden Jugendlichen. Aber auch hier wird im Zweifelsfall – und dieser Fall tritt oft ein – damit gerechnet, dass die kohäsiven Kräfte der Familie wieder aktiviert werden können, sollten sie benötigt werden.
Zur Binnenstruktur von Familien. Was geschieht denn nun im Inneren von Familien, wenn sie sich gegenüber der Außenwelt abgegrenzt haben? Werden sie weltflüchtig? Das werden sie nicht, im Gegenteil. Im abgegrenzten Raum bietet die Familie ihren Mitgliedern einen Satz von modellhaften Erklärungen über sich und die Welt an, den David Reiss Familienparadigma nennt. Dabei geht es um drei grundlegende Themen: um die Betonung der graduellen Trennung von der Familie und ihre Umgebung, um den Erhalt einer über Generationen tradierten Familienkultur und schließlich darum, dass Familien in unterschiedlicher Weise ihre Beziehung zu ihrer Umwelt gestalten – die einen eher passiv, die anderen eher aktiv. Das Familienparadigma wird durch zwei Mechanismen aufrecht erhalten: durch Zeremonien und durch Regulatoren des Familienmusters. Zu den Zeremonien des Familienlebens gehören formalisierte und repetitive Muster, die das Bild der Familie von sich selber formen. Sie werden sowohl den Familienmitgliedern als auch der Außenwelt gegenüber ausgedrückt. Einerseits geht es hier um Geburtstags- und andere Familienfeiern, wie sie Evan Imber-Black und Janine Roberts (1993) unter dem Begriff der Rituale beschrieben haben. Rituale stellen eine Kontinuität von Vergangenheit und Zukunft her. Dazu gehören aber auch Zeremonien der Erniedrigung, z. B. das Verfahren, jemanden in der Familie zum schwarzen Schaf zu deklarieren. Solche Zeremonien haben die Aufgabe, problematische Aspekte des Familienlebens zu verdecken. Sie vermitteln eine andere Zeitvorstellung als Rituale, denn sie frieren die Familienentwicklung an einem bestimmten Punkt in der Zeit ein. Regulatoren des Familienmusters sind hoch routinisierte Sequenzen, die zwei grundlegende Ressourcen des Alltagslebens organisieren: Zeit und Raum. Zunächst zur Zeit. Hier geht es um Zeitregulierung im Familienablauf sowie um die Orientierung in der Zeit, sowohl kurz- wie auch langfristig. Beispielsweise stecken hinter den Handlungsmustern des Sparens bzw. Schuldenmachens je unterschiedliche Zeitmuster. Beim Raum geht es um Regulationsprozesse an den innerfamilialen Grenzen sowie um jene zwischen Familie und Außenwelt. Innerhalb der Familie bedeutet Grenzarbeit, Privatheit zu etablieren. Jenseits der Familiengrenzen geht es darum, wie sich die Familie den öffentlichen Raum erschließt, ob sie sich eher als weltoffen oder als weltabgewandt verhalten. Reiss gibt dafür das Beispiel, ob die Familie Geburtstage zu Hause oder in der Öffentlichkeit feiert. Reiss’ Überlegungen machen deutlich, wie Familien gegenüber der Außenwelt ihre relative Autonomie herstellen und aufrechterhalten: Sie bedienen sich der Ressourcen der sie umgebenden Welt, also der jeweiligen gesellschaftlichen Handlungs- und Orientierungsmuster, und passen diese der Spezifik ihrer eigenen Welt an. Was dabei im gelingenden Fall herauskommen kann, beschreibt Froma Walsh unter dem Stichwort der Resilienzfaktoren in Familien. Familien fördern die Entwicklung ihrer Kinder, wenn sie die folgenden Elemente einer Familienwelt entwickelt haben: Familiale Überzeugungssysteme, die Sinngebung, positive Zukunftsorientierung und Spiritualität beinhalten, organisatorische Muster, die auf Flexibilität und Verbundenheit gerichtet sind, sowie innerfamiliale Kommunikationsprozesse, die Klarheit, Offenheit und Kooperation aufweisen, bilden aus Froma Walshs Sicht die Schlüssel zur Resilienz im Familiensystem, die die Familie benötigt, um innerfamiliale Krisen sowie Krisen, die von außen kommen und den Erhalt der Familie bedrohen, zu bewältigen. Wir erinnern an die eingangs dieses Kapitels formulierten Überlegungen, dass eine Familie, ob man sie nun weiterhin Familie oder persönliche Beziehungen nennen will, durch die Unendlichkeitsfiktion, durch personelle Unersetzbarkeit, durch emotionale Interdependenz und durch persönliches Wissen voneinander gekennzeichnet ist. Diese Elemente bilden einen Rahmen, innerhalb dessen die erwähnten Familienmuster entwickelt werden. Diesen Rahmen kann man nicht so leicht aufgeben, Unendlichkeitsfiktion und die personelle Unersetzbarkeit sind konstitutiv für ein Zusammenleben im Rahmen der Familie oder der persönlichen Beziehungen. Und wenn es dennoch zur Auflösung kommt, dann nicht in Form des legendären „ich gehe dann mal Zigaretten holen“, sondern in langwierigen und in der Regel leidvollen Prozessen. Mit dem Verweis auf Familienmuster und seinen zentralen Aspekten Welterklärung (familiale Wissens- und Überzeugungssysteme), Organisation und Kommunikation ist das Thema der binnenfamilialen Struktur aber noch längst nicht erledigt. Es ist nur der Boden bereitet für den Auftritt der Hauptfigur. Sie heißt: die sozialisatorische Triade. Überall dort, wo drei zusammen sind, kommt es zu unvermeidlichen Strukturierungsprozessen, in denen es um Gegensätze geht – sei es, dass diese Gegensätze erzeugt, sei es, dass sie aufgehoben werden. Die elementare Zahl des Sozialen ist die Zahl 3. In der Familie heißt 3: Vater, Mutter und Kind. In diesem Beziehungsgeflecht, das bereits vor der Geburt des Kindes in Gestalt einer „Triade der Fantasie“ zu wachsen beginnt, kommt es kontinuierlich zu 2:1-Konstellationen in wechselnder Zusammensetzung: Mutter + Kind : Vater; Vater + Kind : Mutter; Vater + Mutter (= Paar) : Kind. Diese Konstellationen bedeuten jeweils Einschluss und Ausschluss gleichermaßen. Weil sie aber ständig wechseln, ist es nicht immer dieselbe Person, die ausgeschlossen ist. Anders formuliert: Als Mitglied einer solchen Konstellation, die die Entwicklungspsychologinnen Elisabeth Fivaz-Depeursinge und Antoinette Corboz-Warnery (2000) die kooperative Allianz bzw. Familienallianz nennen, erlebt man ständig Prozesse des Ein- und des Ausschlusses in wechselnden Konstellationen: Der Sohn hat eine andere Beziehung zur Mutter als zum Vater und umgekehrt, er lernt die Vielfalt dieser Beziehungen durch entsprechende Konstellationswechsel regelmäßig kennen, und er kann beobachten, wie die jeweils ausgeschlossene Person reagiert – zieht sie sich beleidigt zurück, greift sie ein, wo sie nichts zu suchen hat, schaut sie wohlwollend aus der Position der außen stehenden Dritten auf die Interaktion in der jeweils aktiven Dyade? Zu diesen drei 2:1–Konstellationen komm noch eine vierte: alle drei zusammen. Elisabeth Fivaz-Depeursinge und Antoinette Corboz-Warnery (sie seien stellvertretend für viele andere genannt) machen von der Fähigkeit, in triadischen Konstellationen zu agieren, abhängig, ob ein Kind gut gedeihen kann oder nicht. Ihren Beobachtungen zufolge können Kinder ab dem dritten Monat die vier Konstellationen identifizieren, wenn die Eltern bei der Herstellung der jeweiligen Allianzen kooperieren. Ab dem neunten Monat kann ein Kind aktiv in diesen Konstellationen interagieren – wiederum vorausgesetzt, den Eltern gelingt es, eine stabile trianguläre Struktur mit wechselnden Konstellationen zu schaffen. Diese Struktur prägt ein Familienleben über die Veränderungen durch die Familienentwicklung hinweg nachhaltig. Des Weiteren besteht in Familien eine Tendenz, sowohl problematische als auch gelingende trianguläre Strukturen an die nächste Generation weiter zu geben. Das hängt damit zusammen, dass die interpersonale Beziehungsstruktur in der Familie und die innerpsychische Struktur eine hohe Parallelität aufweisen. Persönlichkeitsstrukturen bilden sich heraus in triangulären Prozessen in der familialen Interaktion, in der Familienallianz im oben definierten Sinne also. Ausgestattet mit dieser Persönlichkeitsstruktur begründen die so sozialisierten – besser: individuierten – Personen ihre eigene Paarbeziehung, die sich ggf. zur Familie entwickelt. Und wenn dann die Anlässe zum Identitätswandel knapp gehalten werden, wenn jemand das, was ihm oder ihr die Eltern in Familienallianz vorgegeben haben, nicht gestaltet, prägt die Triadenstruktur der Herkunftsfamilien unmittelbar die triadische Allianz in ihrer eigenen Familie. Anders gesprochen: In jedem Fall prägt die Familienallianz die Persönlichkeitsstruktur, aber sie ist kein unüberwindbares Schicksal. Sie ist zur Gestaltung freigegeben. Je nach dem, wie die Gestaltungsspielräume genutzt werden, kommt es in der nächsten Generation zu vergleichbaren, zu mehr oder weniger angemessen triadischen Konstellationen.
Wozu ist also die Familie gut?
Unser Eilmarsch durch die Menschheitsgeschichte, soweit die Familie betroffen ist, hat folgendes Ergebnis gebracht: Im Übergang von der Kultur zur Natur wird die triebgesteuerte Paarung durch die persönliche Beziehung abgelöst, der Vater wird familiarisiert, und es bildet sich ein Verwandtschaftssystem mit geregelten Allianzen und klaren Regeln für Partnerwahl und für die Ausübung von Sexualität. Als nächstes differenziert sich die Kernfamilie aus dem Verwandtschaftssystem aus und reduziert sich auf ein aus zwei Generationen bestehendes Gebilde. Aus der Ausgrenzung aus dem Verwandtschaftssystem heraus nimmt die Kernfamilie strukturierte Beziehungen zum Verwandtschaftssystem und zur allmählich entstehenden Öffentlichkeit außerhalb des Verwandtschaftssystems auf. Privatheit und Öffentlichkeit haben sich ausdifferenziert. In jedem Bereich herrschen andere Regeln für Nähe und Distanz, für Aufgaben und Verbindlichkeiten – eine Stelle kann man kündigen, die Mutterschaft nicht. Den Chef kann man auf Distanz halten, wenn er einem in seine privaten Angelegenheiten hineinziehen will, die eigene Partnerin nicht. Denn für den Chef ist man ein Rollenträger, für die Partnerin eine ganze, ungeteilte Person. Die Aufgabe der Familie besteht nun darin, ihre Kinder in eine Welt einzuführen, die in Bereiche unterschiedlicher Nähe und Distanz differenziert und insgesamt recht komplex geworden ist. Dazu dienen die triadische Struktur familialer Sozialisation, die familienspezifische Vermittlung von Welt in eigenen Deutungssystemen, innerfamiliale Organisations- und Kommunikationsstrukturen. Dauer und Verlässlichkeit der innerfamilialen Beziehungen, garantiert durch die Unendlichkeitsfiktion und durch die Nichtersetzbarkeit von Personen, stabilisiert durch die erotische und affektive Beziehung des Paares, sichern die Stabilität und Dauer der Familie als einem Ort sozialisatorischer Interaktion.
Ist die Familie am Ende? Und wenn ja: was kommt danach?
Im vierten und letzten Band des Werkes „Geschichte der Familie“ ziehen Martine Segalen und Françoise Zonabend hinsichtlich der Familie in Frankreich das Fazit, dass das vorherrschende Familienmodell der Kernfamilie weiterhin einen festen Bezugspunkt bildet. Andere Modelle würden akzeptiert, blieben jedoch in der Minderheit. Ebenso bleibe das normative (westeuropäische) Familienmodell wirksam. Soweit die französische Position: Krisenszenarien und Auflösungsprophetien haben in diesem Land, in dem Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen ungebrochen gepflegt werden, keine Konjunktur. Anders ist die Situation in Deutschland. Ob die Familie am Ende sei, ist das dominante Thema vom Feuilleton bis hin zur Familiensoziologie. Axel Honneth, ein Sozialphilosoph, schreibt, die Ehe und die Kernfamilie habe ihre selbstverständliche Legitimität in der Werteordnung der bürgerlichen Gesellschaft verloren. Dies weise auf einen Wandel in den kulturellen Einstellungen gegenüber der Familie hin. Des Weiteren habe die Familie das Monopol auf das Zusammenleben und auf die Kindererziehung verloren. Dies beschreibe einen Wandel in den sittlich-rechtlichen Praktiken. Und schließlich bildeten Ehe und Familie kein biographisches Leitmuster mehr. Dies weise auf einen Wandel in den persönlichen Motiven zur Paar- und Familiengründung hin. Was hier so lakonisch vermeldet wird, beschreibt ein Erdbeben bei einer Vergesellschaftungsform, von der behauptet wird, sie weise elementare Strukturen auf. Ungeachtet dessen fordert Lothar Krappmann lakonisch, in Zeiten gestiegener Trennungs- und Scheidungsraten Ruhe zu bewahren. Die Kinder müssten eben lernen, mit dem Vorhandensein multipler Mutter- und Vaterschaften zurechtzukommen. Auch müssten sie sich mit einem mit jeder Trennung weiter wachsenden Verwandtschaftsnetzwerk anfreunden. Und schließlich müssten sie sich dauerhaft auf die Abwesenheit von Vätern und entsprechend auf die Wiederkehr des Matriarchats einrichten. Was das für die historisch über lange Zeiträume gewachsene Struktur der Familie der Moderne, nämlich die triadische Struktur der Kernfamilie und ihre Leistungen für die Sozialisation des Kindes bedeutet, vor allem: was an die Stelle der Triade treten soll, daran verwenden die Autoren kein Wort. Anders Rosemarie Nave-Herz. Sie hat für die deutsche Familienforschung etwa die Rolle, wie sie Martine Segalen für Frankreich hat, und sie stellt folgende Diagnose zur Zukunft der Familie: Im Prinzip ändere sich nicht viel, denn fast alle Menschen in Deutschland würden in ihrem Leben irgendwann einmal eine Familie gründen. Je nach dem, ob man Querschnittsdaten (ständiger Anteil von 30 % Unverheirateten) oder lebenslaufbezogene und damit Längsschnittsdaten (fast jedermann gründet irgendwann in seinem Leben eine Familie) heranzieht, gelangt man zu völlig konträren Schlussfolgerungen. Neuere Entwicklungen zeigen jedoch, dass bei bestimmten Populationen Sonderentwicklungen zu beobachten sind. So berichten Fachleute der Kinder- und Jugendhilfe, dass in strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands es zunehmend zu einem Lebensziel junger Frauen werde, nach einem gescheiterten Schulabschluss ein Kind zu bekommen, sich diesem in einer gesellschaftlich anerkannten Rolle zu widmen und von Erziehungsgeld und Hartz IV zu leben. Männer sind in diesem Lebensentwurf als dauerhaft Anwesende nicht vorgesehen. Die Statistik untermauert diese Beobachtung. Das Statistische Bundesamt teilt im Jahr 2003 mit, dass die nichteheliche Familiengründung in Ostdeutschland zur mehrheitlichen Form des Übergangs zur Elternschaft geworden sei. 2000 lag ihr Anteil bei über 50 %, in Westdeutschland bei knapp 20 %, und nur ein Teil dieser Mütter heiratet später den Vater des Kindes. Eine andere Entwicklung betrifft die der Entwicklung zur „elternlosen Familie“, wie Tilman Allert plakativ formuliert. Er beschreibt einen Trend in der Familienpolitik, Eltern, vor allem Mütter, von Kinderzerziehungsaufgaben zu entlasten und stattdessen Angebote öffentlicher Kinderbetreuung bereit zu stellen. Diese Politik wird erstaunlicherweise auch von konservativer Seite getragen. Gleichzeitig wird von derselben Politik im 7. Familienbericht der Bundesregierung (2006) das Modell der warm-modernen Fürsorge (Arlie Hochschild) favorisiert. Es handelt sich dabei um ein Modell, bei dem beide Eltern für ihr Kind sorgen, entsprechend Zeit sich freihalten und öffentliche Erziehungsangebote nur in dem Maße in Anspruch nehmen, das dem Kind und seiner Entwicklung gemäß ist.
Unkonventionelle Familien sind solche, in denen die Triade abwesend ist
Halten wir also fest: Die Rede vom Zerfall oder gar vom Ende der Familie in der Vorstellung des westeuropäischen Familienmodells ist voreilig, die Triade ist nach wie vor relevant – wenn nicht als immer und überall praktizierte Familienform, so doch als normatives Modell. Diese Annahmen bilden die sozialisationstheoretischen Grundlagen dieses Buches. Uns interessieren unterschiedliche Formen der Abwesenheit der Triade sowie die Frage, wie man mit diesen Familienformen in Beratung und Therapie umgeht. Abwesend sein können der Vater oder die Mutter, an ihre Stelle tritt ein anderer Mann oder eine andere Frau. Dies wäre die Situation in der Stieffamilie. Wo der Vater und die Mutter gleichzeitig abwesend sind, handelt es sich entweder um eine Adoptivfamilie oder um eine Pflegefamilie. Sie unterscheiden sich darin, ob die Abwesenheit der Eltern ein für allem Mal beschlossen ist, wie in der Adoptivfamilie, oder auf unbestimmte Zeit gilt, wie in der Pflegefamilie. Wo der Vater abwesend ist und an seine Stelle eine weibliche Person tritt, haben wir es mit einer gleichgeschlechtlichen Paarbeziehung und heterologer Insemination zu tun. Wir werden darstellen, wie die Akteure die Abwesenheit in der Triade gestalten, welche Konflikte dabei entstehen und welche Lösungen für diese Konflikte gefunden werden. Einige dieser Lösungen (beileibe nicht alle) erweisen sich als wenig tragfähig. Aus diesen Erkenntnissen werden wir Vorschläge für Beratung und Therapie entwickeln. Ein letztes: Ganz am Anfang dieses Kapitels haben wir erwähnt, dass in Europa und in den meisten der anderen Erdteile das westeuropäische Familienmodell normativ leitend geworden ist. Dies ändert nichts daran, dass wir, sobald wir eine gedanklich zwischen Triest und St. Petersburg gezogene Linie gen Osten überschreiten, es mit völlig anderen Familienmodellen zu tun haben, u. a. mit dem balkano-anatolischen Familienmodell (Karl Kaser). Ganz zu schweigen von Familienmodellen in anderen Weltgegenden, zum Beispiel in Westafrika oder in Asien. Wollten wir in die folgenden Analysen diese Familienmodelle mit einbeziehen, müssten wir ein ganz anderes Buch schreiben. Wir müssten uns mit der Frage auseinandersetzen, was es heißt, dass nicht Eltern, sondern entfernte Verwandte die geeigneten Erzieher eines Kindes sind, wie dies in vielen Staaten Westafrikas der Fall ist. Wir müssten uns mit der Clanverfassung und ihrem zentralen Thema, der Ehre, auseinandersetzen, dem jede individuelle Orientierung sich unterzuordnen hat. Wir müssten uns mit Gesellschaften, in denen die Vorschriftsheirat gilt, befassen. Diese kann mal mehr, mal so gut wie gar nicht unterlaufen werden. Damit wäre unsere Kompetenz erheblich überfordert, und daher bleiben wir bei dem, was wir zu können meinen: über Sozialisationsprozesse im Kontext des westeuropäischen Familienmodells und seine Variationen sowie über Fragen von Beratung und Therapie, die damit zusammenhängen, nachzudenken und die Ergebnisse dessen hier mitzuteilen.
Literatur
Einen ausgezeichneten Überblick über die aktuelle Diskussion zu Definitionsfragen in Sachen Familie gibt die Zeitschrift (2003) Erwägen, Wissen, Ethik 14(3): 485–576.
Welche Rolle wissenschaftliches Wissen in Beratung und Therapie spielt, behandeln Rosmarie Welter-Enderlin und Bruno Hildenbrand (2004): Systemische Therapie als Begegnung. Stuttgart: Klett-Cotta (4. Auf.).
Das Zitat „Wir dürfen nicht länger dem Glauben frönen …“ stammt von Claude Lévi-Strauss, Vorwort. In: (1996): Geschichte der Familie, Band 1 (Altertum), hg. von André Burguière, Christiane Klapisch-Zuber, Martine Segalen et Françoise Zonabend. Frankfurt am Main: Campus-Verlag, S. 9–15.
Zum Übergang von der Natur zur Kultur vgl. Claude Lévi-Strauss, Die Familie, in: ders. (1985): Der Blick aus der Ferne. München: Fink, S. 73–104; Wolfgang Lipp (2000): Die Familie: Biologische Grundlagen, frühe kulturelle Entwicklungen. Zeitschrift für Familienforschung 12(3: 61–87.
Zur Sozialgeschichte haben wir neben den oben erwähnten vier Bänden zur Geschichte der Familie folgende Werke herangezogen: Peter Laslett a. Richard Wall (1972): Families and household in past times. London: Cambridge University Press; Michael Mitterauer (1990): Historisch-anthropologische Familienforschung. Wien u. a.: Böhlau; Heidi Rosenbaum (1981): Formen der Familie. Frankfurt am Main: Suhrkamp; Christopher Lasch (1987): Geborgenheit. Die Bedrohung der Familie in der modernen Welt. München: dtv.
Zur zeitgenössischen Familiensituation beziehen wir uns vor allem auf: Peter Berger u. Hansfried Kellner (1965): Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. Soziale Welt 16: 220–235; Hans Bertram (2000): Die verborgenen familiären Beziehungen in Deutschland. Die multilokale Mehrgenerationenfamilie. In: Martin Kohli u. Marc Szydlik, (Hg.): Generationen in Familie und Gesellschaft. Opladen: Leske & Budrich, S. 97–121; Marc Szydlik (2000): Lebenslange Solidarität? Generationenbeziehungen zwischen erwachsenen Kindern und Eltern. Opladen: Leske & Budrich; D. H. Olson; H. I. McCubbin and associates (1984): Families. What makes them work. Beverly Hills, CA: Sage; David Reiss (1981): The family’s construction of reality. Cambridge, Mass., & London: Harvard University Press; Evan Imber-Black u. Janine Roberts (1993): Rituale in der Familie und Familientherapie. Heidelberg: Carl-Auer Verlag; Froma Walsh (2006): Strengthening family resilience, 2nd Ed. New York, London: The Guilford Press; Siebter Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Drucksache 16/1360 des Deutschen Bundestags, Berlin 2006; Arlie Hochschild (1995): The culture of politics: traditional, postmodern, cold–modern and warm-modern ideals of care. Social Politics 2(3): 331-347.
Zum Thema Triade beziehen wir uns auf: Elisabeth Fivaz-Depeursinge u. Antoinette Corboz-Warnery (2001): Das primäre Dreieck. Heidelberg: Carl-Auer Verlag; Dieter Bürgin u. a. (1996): Prä- und postnatale Triangulierung. In: Rosmarie Welter-Enderlin, Bruno Hildenbrand (Hg.): Gefühle und Systeme – die emotionale Rahmung beraterischer und therapeutischer Prozesse. Heidelberg: Carl-Auer Verlag, S. 145–154; Michael Buchholz (1983): Dreiecksgeschichten – Eine klinische Theorie psychoanalytischer Familientherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zum Identitätswandel: Anselm Strauss (1968): Spiegel und Masken – Die Suche nach Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zum „Ende der Familie“: Axel Honneth (1993): Zum Wandel familialer Lebensformen. Merkur 47(1): 59–64; Lothar Krappmann (1988): Über die Verschiedenheit der Familien alleinerziehender Eltern. In: Kurt Lüscher, Franz Schultheis u. Michael Wehrspaun(Hg.): Die „postmoderne“ Familie. Konstanz: Universitätsverlag, S. 131–142; Rosemarie Nave-Herz (1998): Die These über den Zerfall der Familie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 38: Die Diagnosefähigkeit der Soziologie: 286–315.
Zum „balkano-anatolischen Familienmodell“: Karl Kaser (1995): Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan – Analyse einer untergehenden Kultur. Wien u. a.: Böhlau.
Statistische Angaben: Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik, hg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2003). ----------------------------------------------------------------------------------------------
mit freundlicher Genehmigung des Carl-Auer-Verlages
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