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Vorabdruck aus Merlin Donald: Triumph des Bewusstseins. Die Evolution des menschlichen Geistes
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Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008 (August)
348 S., gebunden
Preis: 24,90 €
ISBN-10: 3608944877 ISBN-13: 978-3608944877
Verlagsinformation: "Merlin Donalds brillantes Buch widerlegt die vorherrschenden Theorien derjenigen Naturwissenschaftler und Philosophen, die das menschliche Bewusstsein als Abfallprodukt der Evolution abtun. Für ihn sind es die Kultur und das neuronale System, die das menschliche Bewusstsein zu dem gemacht haben, was es ist. Genau dieser hybride Geist macht den evolutionären Vorsprung des Menschen aus. Die Fähigkeiten des Bewusstseins liefern den Schlüssel für die umwälzenden Entwicklungen, die der Mensch auf der Leiter der Evolution zurückgelegt hat. Wie ist es zu erklären, dass unser Gehirn dem anderer Primaten so stark ähnelt und ihm doch so dramatisch überlegen ist? Warum stattet unser Hirn das Zentrum unseres Ichs mit so viel Autonomie und autobiographischem Vermögen aus? Donald zeigt die Vielschichtigkeit des Bewusstseins auf und erläutert, wie es sich auf der Grundlage der Kultur entwickeln konnte. Für den Autor ist der menschliche Geist ein hybrides Produkt, in dem Materie, nämlich unser Gehirn, mit einem unsichtbaren symbolischen Gewebe, nämlich der Kultur, verwoben ist, woraus ein weit verzweigtes kognitives Netzwerk entsteht. Allein dieser hybride Charakter unseres Geistes ermöglichte es der menschlichen Spezies, die Grenzen zu überschreiten, denen die übrigen Säugetiere unterworfen sind."
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Auszug aus Kapitel 3: Der Bewusstseinsclub (140-147)
Mobilisierung von Ressourcen
Wir sollten über der Tatsache, dass sich das Bewusstsein aus vielen Komponenten zusammensetzt, nicht seine grundlegende Geschlossenheit aus dem Auge verlieren. Aufgabe des Bewusstseins ist vor allem, Ressourcen gezielt zuzuweisen. Wenn wir von bewusstem Handeln sprechen, meinen wir damit, dass ein Mensch oder ein Tier in der Lage ist, für die Lösung eines gerade anstehenden Problems zusätzliche mentale Ressourcen zum Einsatz zu bringen. Ein mit Bewusstsein ausgestatteter Geist geht nicht nach Schema F vor. Er wägt ab und experimentiert, so wie etwa ein Affe, der im Experiment ein Rätsel zu lösen versucht, um sich aus einer so genannten Puzzle box zu befreien. Ein solcher Geist nimmt nicht nur passiv Sinneseindrücke auf und reagiert nicht nur nach eingeschliffenen Mustern. Er erkundet und sichtet aktiv seine Umwelt, gliedert Wahrnehmungen in kohärente Bündel oder Episoden, ruft diese selektiv aus der Erinnerung ab und operiert mit Prognosen über das, was als nächstes geschehen wird. Er erlernt nicht einfach blind konditionierte Reaktionen, sondern registriert spezifische Einzelheiten jedes Lernvorgangs, schätzt die verschiedenen Wahrscheinlichkeiten von Ergebnissen ab, zu denen eine Handlung führen könnte, und macht sich die konditionierten Reize vielleicht sogar zunutze, um die Reaktionen, die sie auslösen, für andere Zwecke einzusetzen. Die Anpassungsfunktion, die das Bewusstsein erfüllt, ist somit eine ganz praktische: bei Bedarf zusätzliche Ressourcen verfügbar zu machen. Das ist eine weit energie-effizientere Lösung, als wenn ein Lebewesen die ganze Zeit auf Hochtouren läuft. Sie ist auch deshalb ökonomischer, weil sie domänenübergreifend operiert und daher in so gut wie jeder Situation einsetzbar ist, mit der eine Spezies es zu tun bekommt. Weniger Bewusstsein bedeutet demnach geringere Anpassungsfähigkeit. Ein Lebewesen mit schwach ausgeprägtem Bewusstsein ist weniger aktiv, weniger zielstrebig, weniger neugierig und weniger aufmerksam, reagiert und lernt langsamer und vermag manche Signale in seiner Umgebung, die ihm eigentlich nützlich sein könnten, gar nicht zu registrieren. Die Fähigkeit, das eigene kognitive System bei Bedarf gezielt zu optimieren, ist ein klarer Anpassungsvorteil. Man kann das Bewusstsein als eine evolutionäre Errungenschaft besonderer Art betrachten, deren verschiedene Funktionen der Optimierung und Intensivierung kognitiver Verarbeitungsprozesse dienen. Automatisierte Routineabläufe erfordern dagegen keine Mobilisierung zusätzlicher Ressourcen. Die Mobilisierung ist jedoch notwendig, wenn das Gehirn mit außergewöhnlichen, besonders unübersichtlichen oder sich sehr rasch verändernden Situationen konfrontiert ist. Es wäre unökonomisch, wenn die zusätzlich verfügbaren Ressourcen sich nur innerhalb spezifischer mentaler Module herausbilden würden und nicht auf andere Bereiche übertragbar wären. Dabei entstünden Optimierungssysteme, die sich jeweils ausschließlich für die Zwecke etwa der verbesserten Auge-Hand-Koordination, der räumlichen Wahrnehmung, des Hörens oder des Sprechens eignen. Diese modulare Lösung wäre angesichts der hochkomplexen Anforderungen, welche die von höheren Säugetieren besetzten Nischen stellen, wenig effizient. Die Aufgaben, die sie zu lösen haben, sind ihrem Wesen nach modalitätsübergreifend und erfordern Verhaltensweisen, in denen viele Komponenten zusammenwirken. Zum Beispiel kann sich eine Gefahr in Gerüchen, Geräuschen oder Bodenvibrationen ankündigen. Für eine angemessene Reaktion muss das Tier einen mehr oder weniger großen Teil seiner gesamten Kapazitäten mobilisieren. Ein Säugetier steht nur selten vor einer Aufgabe, die nur ein einziges Modul anspricht und mit einer akkurat auf dieses Modul begrenzten Reaktion zu lösen ist. Ein Beispiel für eine klar umschriebene, nur auf ein Modul zielende Aufgabe ist der Gesangswettbewerb zwischen Vögeln. Dagegen verlangen die meisten Aktivitäten von Säugetieren, ob nun Paarungsrituale, Kampf, Flucht, Jagd oder geselliges Verhalten, eine umfassende Flexibilität. Unter diesen Umständen wäre ein nichtmodularer Mechanismus am geeignetsten. Wenn unser Bewusstsein in seiner ganzen Dynamik zum Einsatz kommt, erzeugt es einen Optimierungseffekt, den wir subjektiv als »Konzentration« oder »mentale Spannung« erleben. Diese Wirkung ist insofern neutral, als sie bei praktisch bei jeder Art von Verhalten oder Denken eintreten kann, sei es beim Tennisspielen, einer intellektuell fordernden Aktivität wie Schachspielen oder verschiedenen Formen des emotionalen, sozialen und ästhetischen Erlebens. Wut und Rachedurst, Täuschungsmanöver und Intrigen, Dramatik und ehrfürchtiges Staunen: Die Mobilisierung von Bewusstseinsressourcen kann alle diese Aspekte intensivieren und schärfer hervortreten lassen. Schon ein begrenztes Maß an Bewusstseinsfähigkeit erhöht die mentale Autonomie einer Spezies, auch wenn evolutionstheoretisch gesehen die Wirkung zunächst einmal darin besteht, dass das Tier mehr Flexibilität und größere Unabhängigkeit vom unmittelbaren Geschehen in seiner Umwelt gewinnt. Jede Fertigkeit eines Lebewesens kann in der realen Welt aus heiterem Himmel gefordert sein; vielleicht muss es auch sämtliche Fähigkeiten auf einmal zum Einsatz bringen. In der Konkurrenz, die zwischen den Landsäugetieren herrscht, bedeutet Flexibilität einen Überlebensvorteil. Eine universell einsetzbare Steuerungsfunktion ist dabei wesentlich effizienter, weil sie die Reaktion des gesamten Organismus auf praktisch jede Herausforderung, vor die ihn die Umwelt stellt, koordinieren kann. Das Bewusstsein ist demzufolge dazu da, die Ressourcen des Gehirns zu optimieren und zu koordinieren und die verfügbaren Kapazitäten für die anstehende Aufgabe zu bündeln, wie auch immer sie aussehen mag. Die für solche breit angelegten kognitiven Operationen zuständigen Systeme sind keiner einzelnen kognitiven Domäne zugeordnet, sondern im Hinblick auf die Architektur des Gehirns als domänenübergreifend zu betrachten. Bei Säugetieren ist die domänenübergreifende Mobilisierung von Ressourcen so weit verbreitet, dass sie als etwas ganz Gewöhnliches erscheinen mag. Doch sich in einer Umwelt von derartiger Komplexität zurechtzufinden und zielgerichtet und konsistent zu handeln ist eine Leistung, die die Möglichkeiten der allermeisten Nervensysteme weit übersteigt. Ohne hocheffiziente Exekutivfunktionen könnten die höheren Säugetiere in ihren anspruchsvollen Umweltnischen nicht überleben. Außerdem müssen sie auch in der Lage sein, irrelevante Handlungsimpulse zu unterdrücken.
Körperlichkeit und Ich-Mitte
Die Vorstellung eines Homunkulus, eines kleinen Menschleins im Kopf als subjektives Wahrnehmungszentrum unseres Selbst, ist eng mit dem sehr alten experimentalpsychologischen Begriff der perzeptuellen »Ich-Mitte« verknüpft, der seit William James und Gordon Allport ein Grundelement der Persönlichkeitstheorie darstellt. Die Ich-Mitte ist kein materielles Gebilde, auch wenn es uns so vorkommen mag, als befände es sich an einem klar umschriebenen physischen Ort. William James sagt in dem Zitat, das ich an den Anfang von Kapitel 2 gestellt habe, mit Recht, dass jeder Gedanke einem Subjekt zugeteilt ist (owned), ganz als sei er ein Besitz. Dieses Besitzen ist keineswegs etwas Rationales oder Sprachliches, sondern etwas ganz und gar Körperliches. Wir besitzen unsere Erfahrung so, wie wir unseren Körper besitzen: unmittelbar, emphatisch, mit Leidenschaft. Die meisten Menschen würden ihre visuelle Ich-Mitte einige Zentimeter hinter den Augen lokalisieren. Ihr Gefühl sagt ihnen auch, dass an demselben imaginären Ort andere Sinneskanäle wie Hören, Tasterleben, affektive Tönung oder Körperempfindungen zusammenlaufen und somit den Koordinaten des visuellen Erfahrungskanals folgen, der bei den meisten Menschen der dominante ist. Die Dominanz des Sehens ist für Primaten typisch. Die Ich-Mitte eines Maulwurfs, einer Fledermaus oder eines Wals ist wahrscheinlich von einer völlig anderen subjektiven Erlebensqualität geprägt. In die Ich-Mitte fließen die vielen verschiedenen »Kartierungen« des Körpers ein, mit denen unser Gehirn operiert. Sie bilden die Datenbasis für das mentale Modell des eigenen Körpers. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass diese Karten im Nervensystem völlig isoliert voneinander existieren (allein im visuellen System gibt es Dutzende von solchen Modellen). Die Ich-Mitte als einigende Kraft führt sie alle zusammen. Eklatante Widersprüche zwischen den Botschaften zu Gestalt oder Position des Körpers nimmt die Ich-Mitte nicht lange hin. Das kohärente innere Bild vom eigenen Körper ist ein entscheidender Bezugspunkt, den wir für die Berechnung unserer Position im Raum, die Koordination der Geschwindigkeit und Richtung von Bewegungen und insbesondere für die Interpretation und Steuerung des eigenen Handelns heranziehen. Damit dies alles gelingen kann, muss das Modell ein zutreffendes Bild vom Körper im dreidimensionalen Raum vermitteln. Sämtliche bewussten Erfahrungen gehen in die Ich-Mitte ein, und zwar nicht auf einer abstrakten oder begrifflichen Ebene, sondern in Form von unmittelbaren Wahrnehmungsdaten, von Bausteinen des direkten Erlebens. Auch Emotionen und Gefühlsnuancen wie etwa »ein flaues Gefühl in der Magengrube« haben jeweils einen präzisen Bezug zum Körpermodell der Ich-Mitte. Dies zeigt sich auch in Wendungen wie »Mir wurde warm ums Herz« oder »Meine Füße sind schwer wie Blei«. Unser inneres Universum ist in einem ganz körperlichen Sinne unser eigen. Dieses Körpermodell mag an den in Kapitel 1 erwähnten kleinen Mann im Kopf erinnern, den Cartesianischen Homunkulus, gegen den viele wissenschaftliche Schulen Sturm laufen. Dieses abstrakte philosophische Konzept aus dem 17. Jahrhundert hat aber mit der Kartierung des Körpers, um die es mir hier geht, wenig zu tun. Letztere erzeugt ein verdichtetes Abbild unserer Körperlichkeit und ist das tief in Wahrnehmungen und motorischen Mustern verwurzelte Fundament eines kohärenten Selbstbildes. Die Ich-Mitte als das mentale Modell des Körperselbst ist Hauptquelle des Bewusstseins von der eigenen Person. Sie übt gewaltigen Einfluss auf unser Denken aus und prägt, wie George Lakoff und Mark Johnson gezeigt haben, auch unseren Sprachgebrauch. Ihre evolutionsgeschichtlichen Wurzeln reichen zweifellos sehr weit zurück. Tiere sind mit ihrem Körper so vertraut wie mit ihrem Territorium. Bei Vögeln und Säugetieren erkennen wir an ihrem Putzverhalten oder an ihren Reaktionen auf Schmerz, wie präzise die Kartierung des eigenen Körpers ist. Sie werten die Wahrnehmung des eigenen Körpers genauso effizient aus wie Reize aus der Außenwelt. Die Grenzen zwischen Selbst und Nichtselbst, die bei Schmerzen am deutlichsten hervortreten, bilden die Grundlage der differenzierteren Aspekte unserer Identität und der vielschichtigen Ich-Welten, die Gordon Allport einst unter den Begriffen des Proprium oder der Selbstheit zusammenfasste. Bei den meisten Säugetieren ist die Ich-Mitte vielleicht nichts weiter als eine selbstbezügliche Form des Wahrnehmungsbewusstseins. Bei uns Menschen dagegen umfasst sie komplexe Repräsentationen von Ereignissen in der Außenwelt, in die das körperliche Selbst dann als eine Komponente eingefügt ist. Wenn Sie zum Beispiel die Augen schließen und den Raum, in dem Sie sich befinden, durch Tasten mit einem Stock erkunden, können Sie dadurch, dass sie die Berührungsempfindungen zu Ihrer Ich-Mitte in Beziehung setzen, ein recht genaues mentales Modell Ihrer Umgebung aufbauen. Auf diese Weise finden Blinde sich in ihrer Welt zurecht. Ich habe andernorts die Auffassung vertreten, dass unsere Fähigkeit, eine abstrakte Repräsentation der eigenen Person mit Repräsentationen von Ereignissen in der Außenwelt zu verknüpfen, zweifellos eine Grundvoraussetzung unserer schöpferischen Ausdrucksmöglichkeiten ist. Vor allem versetzt sie uns in die Lage, den gesamten Körper als gestisches Instrument der Reinszenierung einzusetzen. Sie ist letztlich das Fundament unseres subjektiven Bedeutungserlebens. Der Geist des Individuums fußt auf den Kartierungen des Körpers, die in der Ich-Mitte zusammenlaufen; eine der Hauptaufgaben des menschlichen Bewusstseins besteht darin, die Erfahrung immer wieder in diesem individuellen Bezugsrahmen zu verorten. Die Selbstreferenzialität des Menschen entspringt dem zentralen Kennzeichen des Säugetierbewusstseins, nämlich seiner Verankerung im mentalen Modell des eigenen Körpers. Wie wir die Außenwelt erleben, hängt also aufs Innigste mit der Verkörperung unseres Selbst zusammen. Sprachliche Bedeutungen haben körperliche Wurzeln. Wenn wir miteinander sprechen, bewegen wir uns keineswegs in einer immateriellen, entsinnlichten Sphäre. Das leibliche »Ich« spricht zum leiblichen »Du«. Der Austausch von Botschaften ist stets körperlich verankert, in dem hochabstrakten Ort, den wir Ich-Mitte oder Selbst nennen. Auch die Aufmerksamkeit gründet im Körperselbst. Im Gespräch entscheidet das Körperselbst darüber, was wir sagen, und die Auswahl der Elemente, die in der Erinnerung abgespeichert werden, geht letztlich allein von ihm aus. Auf indirektem Weg, über Gestik, Mimik, Zwinkern, Verbergen von Intentionen, Lippenbewegungen und so weiter, zeigt das Körperselbst zudem Bedeutungsnuancen an. Alle diese Elemente lassen sich ohne weiteres dem Strom des Bewusstseins einverleiben, weil sie sich alle auf eine gemeinsame semantische Basis beziehen, die durch die körperliche Selbstreferenzialität stets als »zu mir gehörig« markiert ist. Das gilt sogar für Menschen, die eine Amnesie erleiden oder im Zustand einer so genannten Fugue vorübergehend ihre soziale Identität verlieren. Das Körperselbst bleibt dabei unversehrt. Semantische Verarbeitungsprozesse wurzeln also stets in unserer Körperlichkeit. Das häufig zitierte Gedankenexperiment vom »Gehirn im Tank« ist nur ein Spiel mit Begriffen, denn es postuliert, dass ein vom Körper abgekoppeltes Gehirn ein Identitätsempfinden entwickeln und aufrechterhalten könnte. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das eine reale Möglichkeit ist. Wenn bei neurologischen Pa - tienten das Bewusstsein auch nur ansatzweise von körperbezogenen Feedback-Systemen abgeschnitten ist, führt das zu ausgeprägten Bewusstseinsstörungen. Theoretisch gesehen ist unser Bewusstsein vielleicht sogar körperbezogener, als uns lieb ist. Seine körperliche Verankerung ist eine Grundtatsache des mentalen Lebens. Das Bewusstsein kommt ohne ein solides körperliches Fundament des Identitätsempfindens nicht aus, ganz gleich, wie raffiniert seine symbolischen Operationen und Kunstgriffe auch sein mögen. Ohne diese Basis kommt es ins Schwimmen und verliert gleichsam den Boden unter den Füßen. Es gerät außer Kontrolle und verliert den Realitätskontakt. Auch Sprache und symbolischer Kommunikation stehen, obgleich sie noch sehr junge Errungenschaften sind, in engem Zusammenhang mit unserer Körperlichkeit. Diese Ausdruckssysteme sind ebenso »unser eigen« wie beispielsweise unsere motorischen System, das heißt, sie sind letztlich im Körperselbst verwurzelt. In einem späteren Kapitel werde ich auf diesen Punkt zurückkommen. Hier soll die Feststellung genügen: Menschliche Sprache ist möglicherweise nicht die Ursache, sondern vielmehr der größte Nutznießer der Erweiterung, die das Bewusstsein von der eigenen Person bei uns Menschen erfahren hat. Der bewusste Geist mag sich zwar in der Sprache neu erfunden und seinen Aktionsradius beträchtlich ausgedehnt haben, hat aber seine körperlichen Wurzeln dennoch behalten. Während er sich auf die aufkeimenden symbolischen Strukturen der menschlichen Kultur einstellte, sie pflegte, verfeinerte, reflektierte und dabei seine Fertigkeiten erweiterte, blieb er stets auf diese Wurzeln bezogen. Die körperliche Ich-Mitte ist ein sehr reales psychologisches Phänomen, das freilich noch nicht hinreichend erforscht ist. Sie ist Ausgangsbasis der höherentwickelten Kognitionen, als Baumeisterin und zugleich Ausdruck der Identität. Sie lenkt, da sie in der Lage ist, gestaltend in kulturelle Prozesse einzugreifen, die »Selbstinstallation« nicht nur des individuellen Geistes, sondern auch von Kulturen. Sie wacht über die zahllosen Austauschprozesse, die das kognitive Fundament der menschlichen Kultur bilden. Sie baut unsere mentale Welt auf und behält dadurch, dass sie die Operationen des Exekutivgehirns koordiniert, entscheidenden Einfluss auf sie.
Die Exekutivabteilung
Uns stehen mehrere experimentelle Paradigmen zur Verfügung, anhand deren wir die Exekutivfunktionen des Gehirns bei Menschen, Menschenaffen und anderen Affen vergleichen können. Manche Paradigmen zielen darauf, metakognitive Fertigkeiten wie etwa die Einschätzung von eigenen Erfolgen oder Misserfolgen zu erfassen, andere dienen der Untersuchung der Vorstellungen, die das Individuum von sich selbst hat, oder der Mechanismen der Selbstregulation. Wieder andere verlangen vom getesteten Individuum, dass es eine Außenperspektive auf das eigene Verhalten einnimmt. Außerdem gibt es Verfahren, mittels deren man Aufmerksamkeitsfunktionen und nonverbale Kommunikationsfertigkeiten von Menschen, Menschenaffen und anderen Affen vergleichen kann. Am aufschlussreichsten ist ein experimentelles Paradigma dann, wenn es die Grenzen dessen auslotet, wozu Primaten im Stande sind. Wir können mit seiner Hilfe dann den Bezirk kartieren, den der russische Psychologe Lew Wygotski als »Zone der nächsten Entwicklung« bezeichnete. Dieses Konzept kann dazu dienen, die kindliche Entwicklung zu erforschen und das pädagogische Handeln zu optimieren. Eltern und Lehrer können die Lernstrategien eines Kindes fördern, indem sie sich ein genaues Bild davon machen, was es zu lernen bereit ist. Sie müssen präzise einschätzen, welche Fertigkeiten im Moment noch knapp außerhalb seiner Möglichkeiten liegen. Dieser Bereich ist die »Zone der nächsten Entwicklung«. Wenn dem Lehrer eine zutreffende Einschätzung gelingt, werden Lehren und Lernen einen hohen Wirkungsgrad erreichen. Die dahinter stehende Überlegung ist einfach, aber bestechend: Es hat keinen Sinn, dem Kind etwas beibringen zu wollen, das sich weit hinter der »Zone« befindet, weil es außer Reichweite liegt und das gegenwärtige Verständnis des Kindes überfordert. Eine Aufgabe diesseits der Zone dagegen wird das Kind bereits beherrschen, so dass es sich dabei rasch langweilt. Am erfolgversprechendsten ist daher, bei der Unterweisung auf die »Zone« zu zielen. In der kognitiven Evolution ist im Prinzip dieselbe Dynamik am Werk. Die Funktionen, die am ehesten auf Selektionsdruck ansprechen, liegen knapp jenseits der Fähigkeiten, über die eine Spezies bereits verfügt; das heißt, dass nur einige wenige Mitglieder der Spezies in diesen Aspekten lernbereit sein werden. Wir könnten von der »Zone der nächstmöglichen Evolutionsschritte« sprechen, in der ein Eintreten evolutionärer Verschiebungen am wahrscheinlichsten ist. Wenn bestimmte Individuen aus einer in diese Zone hineinreichenden Fähigkeit einen Reproduktionsvorteil ziehen, wird der Genpool sich unweigerlich in die entsprechende Richtung entwickeln. Wir dürfen davon ausgehen, dass die letzten Vorfahren, die wir mit den Menschenaffen gemeinsam haben und die im Miozän lebten, in Aussehen, Gehirngröße und kognitiven Fähigkeiten in etwa den heutigen Schimpansen ähnlich waren. Nach dieser zugegebenermaßen spekulativen Annahme dürfte die Zone der nächstmöglichen Evolutionsschritte, die sich jenen Urahnen darbot, weitgehend dem Spielraum für Anpassungsleistungen entsprechen, der heutigen Schimpansen und Bonobos offensteht. Es könnte somit von entscheidender Bedeutung sein, die Bereiche abzustecken, in denen sich die grundlegenden Exekutivfähigkeiten von Menschen und Menschenaffen unterscheiden. Auf diese Weise könnte man einen Punkt markieren, an dem die Herausbildung der spezifisch menschlichen Kognition begonnen haben könnte: die Zone der nächstmöglichen Evolutionsschritte, an der jene Urahnen ansetzten, um zu Hominiden zu werden. Das Bewusstsein gründet in vielen Subsystemen des Gehirns, von denen sich einige unabhängig von den anderen entwickelt haben. Es besteht aber Grund zu der Annahme, dass sich diese Systeme bei den frühen Hominiden mehr oder weniger synchron gemeinsam verändert haben, als eine Art evolutionäres Cluster. Ein Bündel von Eigenschaften, die sich im Großen und Ganzen gleichzeitig weiterentwickeln, könnte man eine »Gruppierung« von Anpassungsleistungen nennen. Ich bezeichne das Ensemble von Fähigkeiten, die unserem Bewusstsein zugrunde liegt, gern als Exekutivabteilung der Hominiden. Unser Bild von der Exekutivabteilung ist noch unvollständig und nicht sehr detailliert, doch ich bin sicher, dass sie die in Tabelle 3.1 aufgeführten Fähigkeiten umfassen muss.
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Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta-Verlages
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