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Vorabdruck aus > Ulrike Borst / Andrea Lanfranchi (Hrsg.): Liebe und Gewalt in nahen Beziehungen

Borst & Lanfranchi: Gewalt Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2011 (September)

283 S., kartoniert

Preis: 29,95 €

ISBN-10: 389670785X
ISBN-13: 978-3896707857

Verlagsinformation: Liebe und Gewalt liegen manchmal nicht weit auseinander. Dazwischen tun sich Spannungsfelder auf, die Paarbeziehungen oder den Kontakt zwischen Eltern und Kindern bestimmen: zwischen Zuneigung und Ärger, Fordern und Gewährenlassen, Struktur geben und Sichleitenlassen. In diesem Buch stehen weniger die offensichtlichen Formen von Gewalt im Vordergrund, es geht vielmehr um die Grauzonen, Wechselfälle und Übergriffe innerhalb der vier Wände einer Familie, aber auch im Beratungs- bzw. Therapieraum. Neben den Entstehungsbedingungen und den Erscheinungsformen problematischer, gewaltfördernder Muster liegt das Hauptaugenmerk auf den Hilfestellungen, die Therapeuten und Berater betroffenen Paaren und Familien geben können. Aktuelles Wissen und Arbeitskonzepte zu zentralen Fragen der therapeutischen Praxis werden vorgestellt: Wie ist der Ausstieg aus destruktiven Mustern möglich? Wer kann sich selbst helfen, wann ist staatliches oder behördliches Eingreifen nötig? Welche Rolle spielen die Väter im Hinblick auf die Erziehung und die Entwicklung von Bindung und Moral? Mit Beiträgen von: Rochelle Allebes • Eia Asen • Ulrike Borst • Ulrich Clement • Anna Flury Sorgo • Franziska Greber • Karin Grossmann • Klaus Grossmann • Bruno Hildenbrand • Ingrid Hülsmann • Rahel Jünger • Cornelia Kranich Schneiter • Andrea Lanfranchi • Dagmar Pauli • Astrid Riehl-Emde • Inge Seiffge-Krenke • Norbert A. Wetzel.

Über die Herausgeber:
Ulrike Borst, Fachpsychologin für Psychotherapie und Klinische Psychologie (FSP), Lehrtherapeutin und Lehrende Supervisorin (SG). 1989–2007 in den Psychiatrischen Diensten Thurgau (Schweiz) als Psychotherapeutin, in Oberarztfunktion und als Organisationsentwicklerin beschäftigt. Seit 2006 Leiterin des Ausbildungsinstituts für systemische Therapie und Beratung in Meilen/Zürich. Eigene Praxis für Einzel-, Paar- und Familientherapie in Zürich. Mitherausgeberin der Zeitschrift Familiendynamik. Arbeitsschwerpunkte: systemische Einzel-, Paar- und Familientherapie, Supervision, Team- und Organisationsentwicklung in der Psychiatrie und in anderen Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens.

Andrea Lanfranchi, Fachpsychologe für Psychotherapie (FSP) und für Kinder- und Jugendpsychologie (FSP). Dozent und Forscher an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, Psychotherapeut in eigener Praxis sowie Lehrtherapeut (SG) und Supervisor beim Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung Meilen/Zürich. Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen und des Editorial Boards der Zeitschrift Familiendynamik. Arbeitsschwerpunkte: Leitung von Studien beim Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung zu den Themen Migration, Schulerfolg und frühkindliche Bildung. Schwerpunkte in Lehre, Forschung und Beratung sind die Themen Familie, Schule, Erziehung und Migration.


Aus Teil II: Therapeutische Vorgehensweisen bei Gewalt
in Paarbeziehungen und Familien


Partnerschaftliche Bosheiten – Indirekte Aggression in Paarbeziehungen (S. 95-105)

Ulrich Clement



Die großen Tragödien und lauten Dramen von Paaren machen einen besonders reizvollen, aber nur geringen Teil des paartherapeutischen Geschehens aus. Viel häufiger und alltäglicher in konflikthaften Beziehungen sind die kleinen Bosheiten, Abwertungen, abschätzigen Bemerkungen oder Gesten, das ganze mimische Repertoire von: Augen verdrehen, seufzend zur Decke sehen, genervt den Blick abwenden, das gereizte Erstarren. Also die vielen aktiven Diener der vier apokalyptischen Reiter, die John Gottman (2000) als tödlich für die Prognose einer Paarbeziehung empirisch belegt hat: persönliche Kritik, Rechthaberei, Verachtung, Mauern.

Nicht die nackte Gewalt, nicht Mord und Totschlag, sondern die verdeckte, oft passive Aggression vergiftet den Alltag solcher Partnerschaften. Wie kommt es dazu? Was nährt diese partnerschaftlichen Aggressionen? Oder: pathetisch ausgedrückt: Wie kommt das Böse in die Partnerschaft?


Die böse Dynamik der guten Motive

Das Ehepaar Meier beschreibt das so: »Wir haben dauernd Streit, aber eigentlich nicht laut, sondern wir gehen uns aus dem Weg. Würden wir das nicht tun, gäbe es sofort Ärger. Aber das Aus-dem-Weg-Gehen kann ja wohl nicht die Lösung sein.«
Dieser Ärger ist unmittelbar sichtbar. Herr Meier sitzt in buddhafreundlicher Gelassenheit und spricht ruhig, geordnet und vernünftig. Genau das aber scheint seine Frau auf die Palme zu bringen. Sie ist angespannt, spürbar unter Druck und unzufrieden, kommentiert jede seiner Bemerkungen mit abwehrender Mimik, verzieht das Gesicht, presst die Lippen zusammen und unterbricht ihn, wenn er spricht. Sie antizipiert die negative Bewertung und wehrt bereits ab, ehe er etwas gesagt hat. Das führt wiederum bei ihm dazu, dass er nach einem kaum merklichen Aufseufzer betont ruhig und vernünftig weiterspricht.

Beide sind Ende 40 und gut etabliert. Herr Meier verdient als Wirtschaftsanwalt sehr gut. Frau Meier hat von ihren Eltern ein Vermögen geerbt. Sie hat nach einer kurzen Berufstätigkeit als Architektin ihren Beruf aufgegeben, um sich ganz den vier Kindern widmen zu können. Allerdings hat sie sich das anders vorgestellt: dass sie mit ihrem Mann auch noch ein gemeinsames Familienleben haben würde, nicht so, dass er nur noch arbeitet, auch am Wochenende, manchmal sogar noch sonntags, und sie nur noch mit den Kindern beschäftigt ist.

Anfangs war ihr die klassische Rollenteilung sehr recht. Mittlerweile sind die ältesten Kinder selbstständiger und brauchen sie weniger. Sie ist dadurch entlastet. Das entspricht einerseits ihrem wachsenden Bedürfnis, mehr Zeit für sich zu haben. Aber das ist auch ihr Problem: Sie weiß gar nicht genau, was sie mit der Zeit eigentlich anfangen will. Mit ihm wollte sie gern mehr unternehmen, aber da sie merkt, dass er primär mit seinem Beruf verheiratet ist, möchte sie auch nicht aus Erbarmen Zeit geschenkt bekommen. Und je quälender diese Frage für sie ist, umso mehr bedrängt sie ihren Mann, umso mehr erwartet sie von ihm, dass er die Leere füllt, die sie spürt. Aus dem Bedürfnis ist mittlerweile ein habituelles Einklagen geworden. Aus jeder Pore strömen Vorwurf und Klage.

Ihm dagegen geht es unverschämt gut. Er ist in einem Beruf, den er gern ausübt, erfolgreich. Er sei »eigentlich« glücklich mit seiner Familie – wenn sie ihm nur nicht so viele Vorwürfe machen würde. »Wir könnten eine sehr gute Ehe haben, wenn meine Frau das gelten ließe, was da ist. Die Kinder mögen mich und können gut damit leben, dass ihr Vater viel arbeitet. Das Problem ist nicht die Ehe, sondern die Unzufriedenheit meiner Frau.«

Sie erlebt genau diese Zufriedenheit als Ignoranz: »Ich habe eine unglückliche Ehe, weil mein Mann sich nur um den Beruf kümmert, mich als Frau vernachlässigt und den Kindern fremd ist, weil er nie da ist.«

Die Stimmung ist davon geprägt, dass sie versucht, seine Gelassenheit zu durchbrechen, und er versucht, ihr den Druck zu nehmen. Und beide mit guten Motiven: Er möchte Vernunft durchsetzen, sie familiäre Aufmerksamkeit.

Damit ist im Bewusstsein der Partner jeder für sich von guten Motiven geleitet, die der andere aber sabotiert. Auf diese Weise entsteht aus »guten« Motiven eine »böse« Dynamik: Obwohl man es selbst so gut gemeint hat, verhindert der andere das richtige Leben. Das nimmt man ihm übel und lässt es ihn spüren.


Stagnation und Enttäuschungswut

Hier zeigt sich ein Grundmuster, das viele konflikthafte Paardynamiken charakterisiert: Ein Partner übernimmt die Veränderungsposition: »So kann es nicht weitergehen!« Der andere Partner besetzt die Nichtveränderungsposition: »Es geht doch gut!« Jeder bleibt in seiner Position, aus der heraus er den anderen ändern möchte.

Beide Positionen sind konstruktiv ohnmächtig, weil das Verhalten des Partners nicht zu ändern ist. Sie sind aber destruktiv mächtig, weil sie immerhin dem anderen seine Intention verderben können. Er kann ihre Erwartung enttäuschen, indem er sie ignoriert und unbewegt das Positive beschwört. Sie kann seine Erwartung enttäuschen, indem sie ihm Vorhaltungen macht und so die Stimmung verdirbt. So zeigt sich die partnerschaftliche Aggression in erster Linie als Reaktion auf die Enttäuschung, die die Haltung des andern für einen selbst darstellt. Aus der Sicht des Enttäuschten ist die Wut auch noch eine »heilige Wut«, also gerechtfertigt, denn jeder hat für sich eigentlich gute Motive (Weiterentwicklung, schöne Familienstimmung), kann sie aber nicht erreichen, weil er dafür den Partner braucht. Der Partner wird erlebt als der Spielverderber, also wird es ihm heimgezahlt. Enttäuschungswut ist also ein leitendes Motiv der ehelichen Gemeinheiten. Diese Wut zeigt sich nicht unbedingt tobend laut, dafür aber nachhaltig und mit repetitiver Verlässlichkeit.

Warum steigen die Partner aus diesen Sequenzen von Bosheiten nicht aus? Sie können nicht, solange die Enttäuschung von Hoffnung genährt ist. Die Dynamik der Enttäuschung resultiert aus einem Misserfolgsgefühl, das aber die Hoffnung auf Erfolg noch nicht aufgegeben hat. Deshalb muss jemand, der enttäuscht ist, nachkarten, muss es noch einmal versuchen. Im Gegensatz zur Resignation, die nach dem Misserfolg Ruhe geben kann oder ihn betrauern kann, muss die Enttäuschung weitermachen.

Resignation ist ein schließendes Gefühl, Enttäuschung ein öffnendes. Der Enttäuschte kann nicht loslassen, kann das Spiel nicht verloren geben. Weil der Enttäuschte aber den nächsten Misserfolg meist vorwegnimmt, drückt er die Hoffnung nicht freundlich und konstruktiv aus, sondern vorwurfsvoll aggressiv, was dazu führt, dass er genau das erntet, was er befürchtet. Diese Enttäuschungsdynamik ist also ein wesentlicher Prozesstreiber für die partnerschaftlichen Bosheiten.

Aber die Beschreibung der kommunikativen Dynamik erklärt noch nicht die Ursache. Dafür lohnt es sich, den Differenzierungsprozess einer partnerschaftlichen Entwicklung zu analysieren.


Differenzierung und Hassliebe


Das Differenzierungskonzept in der Paartherapie steht im Zentrum des paar- und sexualtherapeutischen Ansatzes von David Schnarch. Darunter versteht er den Prozess, durch welchen wir ein klar abgegrenztes Selbst entwickeln und dabei in nahen Beziehungen zu den geliebten anderen bleiben. Differenzierung besteht darin, zwei zentrale Motive auszubalancieren, das Bedürfnis nach Individualität und das nach Nähe. Individualität aufzugeben, um eine Beziehung zu retten oder Spannungen in einer Beziehung zu lösen, ist demnach ebenso undifferenziert wie der umgekehrte Fall, nämlich seine Individualität nur dadurch zu retten, dass eine nahe und emotional bedeutsame Beziehung aufgegeben wird.

»Differenzierung ist die Fähigkeit, sein Selbstbewusstsein aufrechtzu­erhalten, während man anderen emotional und/oder körperlich nahe ist – insbesondere dann, wenn die anderen zunehmend wichtiger für einen werden« (Schnarch 2006, S. 55).

Wer differenziert ist, kann sowohl seinem Partner zustimmen, ohne das Gefühl zu haben, sich selbst zu verlieren, als auch ihm widersprechen, ohne das Gefühl von Verbitterung oder Entfremdung zu haben. Wer differenziert ist, muss nicht auf Distanz gehen, um bei sich bleiben zu können.
Differenzierung ist also nicht das Gegenteil von Bezogenheit, sondern eine abgegrenzte Art von Bezogenheit. Sie ist weniger ein Persönlichkeitsmerkmal als eine Prozesskompetenz in der Gestaltung der Beziehung mit nahen Personen. Die Kompetenz zeigt sich am Umgang mit der Angst, die sowohl Nähe als auch Distanz auslösen kann. So ist etwa die forcierte Deklaration von Unabhängigkeitsbestrebungen (»Ich lasse mich nicht einsperren!«, »Ich brauche meinen Raum!« usw.) nicht etwa ein Hinweis für starke, sondern für schwache Differenzierung, weil durch die heftige Betonung eher der gegenteilige Impuls, nämlich die Angst, niedergehalten werden soll.

Die Qualität und Entwicklungsfähigkeit einer Partnerschaft hängt eng mit dem Differenzierungsniveau der beiden Partner zusammen. Gering differenzierte Partner ertragen Unterschiede schlecht. Sie erleben Angst, wenn der Partner eigene Interessen hat und eigene Wege geht, und erwarten von ihm, dass er im Zweifelsfall eigene Wünsche und Interessen der Beziehung zuliebe zurückstellt. Man könnte sagen, dass für gering differenzierte Partner die Individualität des anderen eine Bedrohung ist, für hoch differenzierte Partner dagegen ein Gewinn.

Im Falle des Paares Meier haben wir es mit einer begrenzten Differenzierung zu tun: Jeder nimmt dem anderen übel, dass er anders ist. Das wird aber nicht direkt aggressiv ausgedrückt, sondern auf einem kommunikativen Umweg. Nicht: »Ich bin dir böse!«, sondern: »Ich bin so enttäuscht von dir!« Und im Wissen darüber, dass der andere sich nicht wie gewünscht verhält, wird genau das verlangt. Damit werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, die sadistische und die masochistische: Ich quäle den anderen mit meiner enttäuschungsbereiten Erwartung, und ich quäle mich selbst, indem ich den absehbaren Misserfolg meiner Botschaft erzeuge.

Der Terminus sadistisch/masochistisch spielt mit der begrifflichen Unschärfe, ob damit etwas Pathologisches oder etwas Normales gemeint sei. In der Tat gehören quälende Interaktionen zum Alltag vieler Ehen: Die Partner tun einander weh und lassen sich wehtun, fügen sich Kränkungen zu und ertragen es, sind schadenfroh, lassen sich zu Handlungen nötigen, die sie eigentlich ablehnen. Schnarch spricht in einer lakonischen Selbstverständlichkeit vom »normalen ehelichen Sadismus«.

Dieser kommt beim Paar Meier durch die gegenseitige Abhängigkeit zur Geltung: Angesichts ihrer sehr komplementären Rollenverteilung ist jeder auf den anderen angewiesen: Er braucht ihre familiäre Kompetenz, die ihm den sprichwörtlichen Rücken für den Beruf freihält. Sie braucht angesichts ihrer eigenen beruflichen Orientierungslosigkeit seinen beruflichen Erfolg. Und das ist ein starkes Motiv bei beiden: Jeder nimmt dem anderen übel, dass er ihn braucht.

Dieses »Ich brauche dich« kann ein wunderschönes intimes Bekenntnis sein, das auch den beglückt, der es ausspricht. Aber hier hat das die gegenteilige Note: »Ich hasse dich dafür, dass ich dich brauche.«


Die Hassliebe ist alltäglich, sie gehört gewissermaßen zur Grundausstattung jeder Partnerschaft. Sie kann auch dann aktualisiert werden, wenn die Grundbalance zwischen Bindungswünschen und Autonomiewünschen gefährdet ist. Das ist eine Balance, die nicht nur individuell, sondern auch zwischen den Partnern hergestellt werden muss. Wie das Kollusionsmodell von Jürg Willi(1975) beschreibt, werden die beiden Bestrebungen oft zwischen den Partner arbeitsteilig delegiert, sodass der eine mehr die Bindungswünsche, der andere mehr die Autonomiewünsche vertritt und jeder dem Partner vorwirft, dass er die Wünsche ausspricht, die man an ihn delegiert hat.

Die Hassliebe kann dann relativ schnell aktiv werden, wenn dem eigenen Autonomiewunsch der Bindungswunsch des Partners gegenübersteht (wenn also in dem Moment, in dem ich etwas für mich tun will, der Partner mich mit seinen Bindungswünschen dabei stört).
Oder, umgekehrt: wenn ich gerade Nähe suche und der Partner mich mit seinem Bedürfnis nach Abstand damit ins Leere laufen lässt.

Diese Ambivalenz und die verschiedenen Varianten von Hassliebe kommen meist in sehr verdeckten Formen zum Vorschein. Beispiele:
  • das genervte Bekenntnis: »Ja, natürlich liebe ich dich«
  • den anderen auflaufen lassen und dabei unschuldig tun (»Ich habe ganz vergessen, dass wir heute Abend verabredet waren«)
  • dem anderen gereizt einen Gefallen tun, indem man inhaltlich zustimmt, im Tonfall aber ablehnt (»Ich mach ja schon«)
  • den anderen zu Liebesgeständnissen nötigen, indem man ihn im Streit fragt: »Warum liebst du mich eigentlich?«
Sex eignet sich sehr gut für solche indirekten Formen von Aggression und Varianten von Hassliebe:
  • dem Partner zu verstehen geben, dass er einen leider nicht erregen kann
  • dem Partner einen Orgasmus vorspielen und ihn dafür verachten, dass er es nicht merkt
  • dem Partner den Orgasmus verweigern und ihn dafür verachten
  • den Partner mit der eigenen Lustlosigkeit auflaufen lassen
  • beim sexuellen Zusammensein an einen anderen Partner denken und den realen Partner damit abwerten oder dafür verachten, dass er es nicht merkt
  • Gnadensex: sich zum Sex herablassen und dem Partner die Gnade eines Geschlechtsverkehrs erweisen
  • die sexuellen Angebote des Partners dummloben (»Er ist total lieb und gibt sich unheimlich Mühe«).
Solche Bosheiten sind Alltag. Sie sind indirekt, sind nicht böse mit offenem Visier, sondern scheinheilig, weil sie verleugnet werden, weil sie naiv und unschuldig tun. Die Verleugnung des Bösen macht sie schwer greifbar. Aber die Ambivalenz der Hassliebe kann in kritischen Partnersituationen schnell aktiviert werden. Wir hassen manchmal den Partner nicht obwohl, sondern weil wir ihn lieben, weil er uns durch die Liebe verletzlich und abhängig macht, weil er unser großartiges Autonomie-Ideal infrage stellt.


Partnerschaftliche Entwicklungen

Wie ist bei diesem Risiko partnerschaftliche Entwicklung möglich? Der klassische Dreiklang »Verliebt – verlobt –verheiratet« hört dort auf, wo es eigentlich interessant wird, beim Beginn der Ehe. Der Verlauf einer langjährigen Paarbeziehung ist besser und nüchterner durch einen anderen Dreiklang beschreibbar, nämlich »Verliebt – gebunden – desillusioniert«. Die desillusionierte Phase, in der die Partner ein realistischeres Bild voneinander und von ihrer Beziehung bekommen, ist ein entscheidendes Durchgangsstadium.

Die normale Desillusionierung liegt in der Einsicht, dass der Partner nicht der ist, den man gern hätte, sondern nur der, der er wirklich ist. Das Gefühl, ideal zusammenzupassen, begeistert füreinander zu sein, weicht der Ernüchterung, dass man es im günstigen Fall miteinander hinbekommt oder einander zumindest erträgt, und im schlechten Fall, dass man sich mangels Alternativen oder aus Angst vor dem Alleinsein trotzdem nicht trennt, das aber dem anderen übel nimmt. Die Enttäuschungswut lässt sich dann als Symptom einer Übergangskrise sehen, das als Reaktion auf die normale Desillusionierung in partnerschaftlichen Entwicklungen auftaucht. Stagnation enttäuscht. Mit Enttäuschung lässt sich leben. Veränderung hingegen macht Angst. Mit Angst lässt sich nicht leben. So bietet sich der Ärger über die Stagnation als regressive Möglichkeit an, der Angst vor Veränderung zu entkommen.

Beim Paar Meier haben wir es nicht mit der frühen Desillusionierung zu tun, die sich nach ein paar Monaten Verliebtheit einstellt, wenn sich die Frage erhebt, ob aus dem Rausch eine Bindung werden kann. Offenbar ist hier nach 20 Jahren Ehe etwas anderes passiert, ein Auseinanderdriften von Lebenskonzepten, die sich anfänglich gut zu ergänzen schienen. Heute haben beide Partner den Eindruck, vom anderen getäuscht worden zu sein.

Sie war davon ausgegangen: Wenn mehr Zeit ist, kümmert er sich um die Familie. Er hatte angenommen, dass sie respektiert, dass er über das Finanzielle und Freundliche seinen Beitrag zum Gesamtgeschehen leistet.

Jetzt lösen sich langsam die Kinder, und für die Frau, mittlerweile 48 Jahre alt, stellt sich die Frage, was sie aus ihrem Leben machen will, wenn sie nicht mehr in erster Linie Mutter ist. Das macht Unbehagen und Unsicherheit.

In einer emotional unsicheren Situation bietet sich der Partner mit einer diabolisch wichtigen Funktion an, nämlich als schuldige Projektionsfigur. Schuld daran, dass man eigene Lebensthemen nicht erledigt hat, dass man unerlöst ist. Er ist sauer auf sie, weil er sie braucht, um ihm den Rücken freizuhalten. Sie ist sauer, weil sie beruflich und persönlich (»für mich was tun«) nicht weiterkommt.


Liebe und Macht

Von Adorno stammt das Zitat: »Geliebt wirst du einzig dort, wo schwach du dich zeigen kannst, ohne Stärke zu provozieren.« Das gilt, solange die Liebe lebt, solange die Schwäche noch liebenswert ist, solange Innigkeit die Grenzen zwischen den Partnern weich und die Interessen gleichmacht. Sobald aber der Unterschied der Intentionen und Lebensziele deutlich wird, sobald die Gefühle nicht mehr dieselben sind, erlangen zwischen den Partnern Mechanismen Bedeutung, die wenig lustig sind, nämlich Mechanismen der Macht: Wer ist stärker? Wer hat welche Karten? Wer gerät in die Verliererposition? Das ist traurig und tut weh nach Zeiten der geteilten Intimität. Es sind kalte Gesetze, die hinter einer bislang warmherzigen Beziehung plötzlich ihre erbarmungslose Härte zeigen. Aber umso mehr ist es ratsam, sie sich vor Augen zu führen, um ihnen nicht ganz ausgeliefert zu sein.

Wer weniger will, ist mächtiger.
Eine besonders ungerechte, aber wirksame Regel. Sie wird dem, der weniger will, häufig zum Vorwurf gemacht. Das ist nutzlos. Er kann gar nichts dafür, mächtiger zu sein. Mit dem emotionalen Rückzug wird er es von selbst, auch ohne es zu wollen.

Wer Angst vor dem Alleinsein hat, ist schwächer.
Wer liebt und sich geliebt weiß, empfindet keine Angst vor dem Alleinsein. Aber wer diese Angst spürt, kann nur schwer souverän handeln. Hat er Angst vor dem Verlassenwerden, braucht er den Partner, der sich zurückzuziehen droht, umso mehr.

Wer Bedürftigkeit zeigt, ist unattraktiv – außer für Sadisten.
»Ich brauche dich« gehört zum Grundvokabular der Liebenden. Nichts schöner, als das zu sagen oder es zu hören. Im liebenden Zustand ist das ein wunderbares Gefühl für beide Seiten. Sobald aber die Beziehung in Bewegung gerät, wird die Bedürftigkeit zur unattraktiven Schwäche.

Klammern führt zu Distanzierung.
Wer den Partner zu sehr in die Nähe zwingen möchte, wen die Sehnsucht dazu bringt, ein Überangebot an Gemeinsamkeit zu machen, kann es leicht erleben, dass es dem Partner zu viel des Guten ist und dass er sich zurückzieht. Die Beziehungswünsche des Partners, der sich zurückzieht, werden dadurch schnell unsichtbar.

Wenn man partnerschaftliche Bosheiten als Symptome einer Übergangskrise sieht, in der das Machtgleichgewicht aus der Balance ist: Wie kann dann eine gute Entwicklung aussehen?

Solange Übergänge fällig sind, aber nicht vollzogen werden – aus Angst, allein zu sein, aus Angst, in eine ungewisse Zukunft zu gelangen –, wird der Hass auf den Partner stärker. Dieser verkörpert die abgewehrte und delegierte Seite der eigenen Veränderungsambivalenz. Aus der Sicht des veränderungswilligen Partners wird der andere als Verhinderer eines guten Lebens gesehen. Ihm wird die Verantwortung für etwas zugeschrieben, das aus eigener Kraft nicht vollzogen wird.

Solange diese projektive Zuschreibung aufrechterhalten wird, haben wir es mit einer Stagnation auf geringem Differenzierungsniveau zu tun, die sich quälend über Jahre hinziehen kann. Der Ausstieg aus dem Konfliktmuster besteht darin, den Partner aus der Verantwortung zu entlassen.
Frau Meier macht einen solchen Schritt.

In die letzte Sitzung kamen beide mit der Idee, eine partnerschaftliche Auszeit zu verabreden. »Ich habe es aufgegeben«, sagt sie. »Ich muss das für mich selber herausfinden, was ich will.« Auszeit hatten sie definiert als mehrmonatige Trennung innerhalb des Hauses und als separaten Urlaub. Die gereizte Stimmung, die sich aus ihrem vorwurfsvollen Einklagen und seinem Herunterspielen aufgeschaukelt hatte, war ganz verändert. Eher traurig, nachdenklich, mit langen Passagen des Schweigens.


Resignation als Chance


Wenn vom enttäuschungsbereiten Vorwurf der Schritt zur Resignation gemacht wird, sind Differenzierungsversuche auf dem Weg. Sie sind auch deshalb von einer traurigen Affektlage begleitet, weil sie mit einem Abschied von einer Phase zu tun haben, die zwar quälend war, aber immerhin vertraut. Die ritualisierten gereizten Auseinandersetzungen bewegten sich mit bekannten Argumenten auf den immergleichen Spuren. Der Abschied vom Vorwurf ist – verrückterweise – auch ein Verlust.

Zu den Differenzierungsschritten gehört auch ein Akzeptieren der Ambivalenz, der Hassliebe, der Bindungsambivalenz, des Nebeneinanders von guten und schlechten Motiven. Das bedeutet zu akzeptieren, dass wir als Partner auch böse sind. Ambivalente Liebe ist vielleicht weniger romantisch, aber nicht schlechter als eindeutige Liebe.

In dieser letzten Sitzung hat das Paar Meier einen Schritt gemacht, der paradox anmutet, der aber zu den großen Errungenschaften reifer Paarbeziehungen gehört: Es hat die Hoffnung aufgegeben, den Partner zu ändern. Das ist hier besonders das Verdienst der Frau. In jedem Vorwurf schwingt auch eine Hoffnung mit. Indem sie nicht mehr darauf hofft, ihren Mann ändern zu können, kann sie auch den Vorwurf – wie von selbst – bleiben lassen.

Das Prinzip Hoffnung wird in Therapien überschätzt. Meist ist sie Teil des Problems – weil sie nicht loslassen kann, und umgekehrt wird das Prizip Resignation unterschätzt. Aufgeben, nicht mehr hoffen, resignieren kann den Abschied von sinnlosen, quälenden Anstrengungen erleichtern und den Blick für neue Optionen frei machen.




mit freundlicher Genehmigung des Carl-Auer-Verlages



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