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12.11.2012
Tim Parks: Sex ist verboten
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Verlag Antje Kunstmann, München 2012
320 S., gebunden
Preis: 19,95 €
ISBN-10: 3888977738
ISBN-13: 978-3888977732 |
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Verlag Antje Kunstmann
Ronald Milewski, Bochum:
Sex ist verboten. Reden, lachen, tanzen, singen, lesen, schreiben, fasten, die Knie zeigen, Schmuck tragen – alles verboten, Alkohol, Nikotin, Fleisch - sowieso. Mit jemandem vom anderen Geschlecht Blickkontakt aufnehmen – verboten. Männer und Frauen meditieren, essen, wohnen und schlafen getrennt. Weder Kuschel- noch Sexualhormone sollen den Geist trüben oder einseitig ausrichten. Handys und persönliche Dinge sind bis zur Abreise im Schließfach zu deponieren: „Persönliches ist Gift. Persönliches lenkt ab. Fördert Beziehungen.“ Ort des Geschehens: ein buddhistisches Retreathaus irgendwo in England. Es könnte auch auf dem Kontinent stehen. Auf jedem Kontinent dieser Erde, in diesem Augenblick.
Nach seinem Roman „Die Kunst stillzusitzen“ verarbeitet Tim Parks ein zweites Mal seine persönlichen Erfahrungen mit dem Buddhismus. Tat er dies beim ersten Mal eher sachbuchgemäß dokumentarisch, so tut er dies jetzt romanhaft und so dramatisch wie es ein zehntägiges Schweige- und Meditationsretreat zulässt. Ort des Geschehens ist das „Dasgupta-Institut“, Ort des Dramas die Gedankenwelt der Hauptperson Beth Marriot. Weitere Personen sind Geoff Hall, ein Verleger, das Servicepersonal des Instituts, die Kursleiter, die Schüler und Dasgupta, der Institutsleiter. Letzterer, leiblich nicht anwesend, verkündet seine Lehre per Videobotschaft.
Der Plot der Geschichte ist schnell erzählt. Beth Marriot hat ihr eigenes10-Tages-Retreat auf inzwischen neun Monate ausgedehnt. Sie hat sich gegen Kost und Logis im Servicebereich des Tagungshause verdingt und gebiert ihren Abgang. Service-Bereich, das heißt per Service-Video unterwiesen und streng überwacht nach Plan kochen, putzen, Boden wischen. Gartenpflege, Klempner-, Elektroarbeiten. Mit dem übrigen Servicepersonal nur das Nötigste reden, mit dem männlichen Teil möglichst nicht eng zusammenarbeiten. Beths Situation spitzt sich zu, als sie verbotener Weise das Tagebuch eines der männlichen Meditationsschüler zu lesen beginnt, das dieser verbotener Weise im Institut führt. Sie lernt den Tagebuchschreiber und seinen Namen am letzten Tag des Retreats kennen. Er, Geoff Hall, fährt Beth nach Hause. Unterwegs rauchen beide und küssen sich im Auto. Sie trinken Bier in einem Pub und widerstehen der Idee, sich ein Hotelzimmer zu nehmen. Geoff, will nur kurz nach Hause, um die Abwicklung seines bankrotten Buchverlags einzuleiten und dann ins Tagungshaus zurückkehren, um seinerseits Dienst im Servicebereich zu tun. Beide eint der Ausgangspunkt ihres Rückzugs ins Retreathaus, die persönliche Lebenskrise.
Parks gelingt es, in Rahmen dieses Plots die Zweifel europäisch geprägter Gemüter an der buddhistischen Theorie und Praxis darzustellen und gleichzeitig eben diese Theorie und Praxis zu vermitteln: Der in ihrem Vorleben allem Weltlichen zugeneigten Beth ist es vorbehalten, ihren nach neunmonatiger Abstinenz aufkeimenden sexuellen Phantasien und Erinnerungen auszubreiten und mit ihren im Alltag erprobten Verführungskünsten den Lehrkörper in Versuchung zu bringen. Geoffs Tagebucheintragungen oszillieren zwischen Zweifeln an der Lehre, Erstaunen über das in der Meditationspraxis Erlebte und Verarbeitung der eigenen als misslich erfahrenen Lebenssituation. Auszüge aus Dasguptas Reden und die Einlassungen der Kursleiter unterweisen den Leser in Lehre und Praxis.
Um vier früh Uhr aufstehen, meditieren, in fester Reihenfolge Vorträge des Institutsleiters vom Video vernehmen, in festgelegtem Ritual zu festgelegter Zeit die Kursleiter vor Ort befragen und deren im Daskupta-Handbuch für Lehrer fixierte Antworten erhalten. Während zweier Mahlzeiten pro Tag, morgens und mittags, so viel Nahrung zu sich nehmen, dass es über den Tag und die Nacht reicht. Verdauen, ausscheiden, schlafen. Den Geist entleeren, um ihn dann fraglicher Weise gleich doch wieder anzufüllen mit Drei Zuflüchten, Vier edlen Wahrheiten, Fünf Regeln, Sieben Stadien der Reinigung, dem Achtfachen Pfad der Erleuchtung und den Zehn Vollkommenheiten.
In „Die Kunst stillzusitzen“ beschreibt Parks den Weg seiner persönlichen Heilung von einem Jahrzehnte währenden Leiden unter einer schmerzhaften Prostatitis durch Meditation, Jahre nach der Aufgabe durch die Schulmedizin und allerlei alternativ medizinischen Experimenten. In „Sex ist verboten“ widmet er sich nun den „Nebenwirkungen“ der Meditationserfahrung und kehrt diese nach außen. Seine Alter Egos Geoff und Beth bringen Zweifel an Parks ureigenster Berufung, dem Erzählen von Geschichten, zum Ausdruck: „Was machen Geschichten denn anders als den Schmerz zu glorifizieren? Das trifft auf alle Romane zu, die ich verlegt habe, auf all die hochtrabenden Geschichten, von denen ich hoffte, sie würden die englische Literatur verändern. Sie glorifizieren das Leid. Nur ein Leben, das Leid beinhaltet, ist glamourös. …“, notiert Geoff in sein Tagebuch. Beth sieht sich gar mit der Aufforderung konfrontiert, selbst das Formulieren der eigenen Lebensgeschichte zu unterlassen: „Sie sind schon eine ganze Weile hier. Ihre Geschichten sind nicht mehr sie. Sie können sie aufgeben“, lautet der Rat einer Kursleiterin an Beth. Am Ende wird in Tim Parks Roman alles dann doch nicht so heiß gegessen, wie es zuvor gekocht wurde. Wer nicht an die Wiedergeburt glauben kann, darf es lassen, lässt Parks den Institutsleiter im Abschlussvortrag verkünden. Unumstößlich bleibt dagegen das Gebot der Praxis: „Praktizieren Sie sila, beachten Sie die Fünf Regeln, arbeiten Sie an ihren samãdhi, erforschen Sie das Feld der paññã. Nur die Praxis zählt. Eine Stunde am Morgen, eine Stunde am Abend, gefolgt von zehn Minuten mettã. Achten Sie abends unmittelbar vor dem Einschlafen und morgens gleich nach dem Aufwachen auf ihre Empfindungen, Kontinuität ist der Schlüssel zum Erfolg, meine Freunde. Gleichmut bedeutet Reinheit, und Reinheit bedeutet Befreiung.“
Beim Abschied aus dem Tagungshaus gilt es dann ein letztes Mal, die Regeln bezüglich des Körperkontaktes zu beachten: Auf dem Gelände des Instituts darf es auch zu diesem Zeitpunkt keine Berührungen geben.
Im Nachwort verrät uns Parks, was aus der Hauptakteurin achtzehn Monate später geworden ist: Wie im Institut empfohlen, trägt Beth einen neuen Namen, nennt sich Lisa und studiert Psychologie. Lisa meditiert morgens regelmäßig eine Stunde, sofern sie „am Abend vorher nicht zu viel getrunken“ hat. „Wenn etwas außer Kontrolle zu geraten droht“, helfen ihr „Dasgupta-Gedanken dabei, die Ruhe zu bewahren“. Und manchmal, manchmal denkt E-Lisa-Beth darüber nach, ob sie wohl auch „den alten Dasgupta persönlich hätte verführen können“, wenn sie sich denn je begegnet wären.
Der Heilung von einer Prostatitis ist ein zweiter Roman von Tim Parks zu verdanken, in dem der Autor seine, den Heilungsprozess begleitenden inneren und äußeren Beobachtungen zum Ausdruck bringt und nun zum Gegenstand eines dramatischen Geschehens macht.
Vermute, Tim Parks schreibt Tagebuch.
Eine weitere Rezension von Meike Fessmann in der Süddeutschen Zeitung
Und hier noch eine von Jan Wilm auf faust-kultur.de
Auch Tim Parks schreibt etwas über sein Buch auf seiner website
Verlagsinformation:
Sex ist im Dasgupta Institut verboten. Was also macht die unglaublich attraktive Beth Marriot hier? Warum verbringt eine junge Frau, deren unwiderstehliche Vitalität und selbstbewusstes Ego einst auf Eroberung und Ruhm aus waren, jetzt einen Monat nach dem anderen als Helferin im vegetarischen Restaurant eines puristischen Buddhisten-Retreats?
Beth bekämpft Dämonen. Eine Folge von katastrophalen Ereignissen hat alle ihre Hoffnungen auf Glück unterminiert. Aus diesem Trauma gibt es für sie nur einen Ausweg: die asketische Strenge einer Gemeinschaft, in der man um vier Uhr morgens geweckt wird, keinen Augenkontakt mit anderen haben darf, geschweige denn mit ihnen sprechen, und in der Frauen und Männer streng getrennt sind. Aber Neugier stirbt zuletzt. Als Beth über ein Tagebuch stolpert, muss sie es lesen und fängt an, den Mann zu beobachten, dem es gehört. Und je mehr sie sich nach der Reinheit der schweigenden Priesterin des Retreats sehnt, desto mehr begehrt sie die Priesterin selbst.
Über den Autor:
Tim Parks, geb. in Manchester, wuchs in London auf. 1981 zog er nach Italien. Sein umfangreiches Werk wurde in viele Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, es umfasst Romane wie »Stille« und »Träume von Flüssen und Meeren«, Sachbücher und Essays. Tim Parks ist Professor für Literarisches Übersetzen und hat u.a. Moravia, Calvino, Tabucchi und Machiavelli ins Englische übersetzt. Er lebt in Mailand.
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