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20.07.2012
Frank Natho: Traumatisiert & borderlinegestört. Systemische und traumapädagogische Arbeitsweisen in der Jugendhilfe
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Edition Gamus, Dessau 2011
2. überarb. Auflage
338 S. brosch.
Preis: 24,80 €
ISBN-10: 394078902X
ISBN-13: 978-3940789020 |
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Edition Gamus
Dennis Gildehaus, Bad Zwischenahn:
Das vorliegende Buch ist vor 10 Jahren erstmals veröffentlicht worden und liegt nun in einer überarbeiteten und erweiterten Auflage vor. Der inhaltliche Gewinn einer solchen Überarbeitung zeigt sich z.B.. an einem aktuellen Interview, das der Autor mit einer Klientin mit Borderline-Diagnose geführt hat, die er 10 Jahre zuvor mehrjährig in der stationären Jugendhilfe beraterisch und erzieherisch begleitet hatte. Die Die erneute Reflexion und Infragestellung seiner Vorgehensweisen, ihre Adaption und Modifikation lassen die Neuauflage als „neues“ Buch lesen, welches das Interesse von professionellen Helfern der Jugendhilfe und systemisch orientierten Beratern und Therapeuten wecken dürfte.
In seiner Einführung thematisiert Frank Natho die nach wie vor bestehende Diskrepanz zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie bzw. zwischen Pädagogik und Psychopathologie. Er beschreibt die Bewegung von anfänglicher Euphorie bzgl. des systemischen Denk- und Handlungsansatzes in der stationären Jugendhilfe hin zu vielerorts feststellbaren Überforderung, in der sich viele Helfer heute befinden. die von ihren Einrichtung bzw. den Jugendämtern als Auftraggebern zu wenig Unterstützung erhalten. Neben diese strukturelle Überforderung stellt er aber auch die positiven Entwicklungen in der Haltung von Erziehern, Sozialpädagogen etc. in der Arbeit mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen heraus, die heutzutage viel mehr Störungen aufweisen als noch vor 10 Jahren. Dies betrifft insbesondere die Einstellung vieler Professioneller in der Jugendhilfe gegenüber der im vorliegenden Buch zentralen Borderline-Persönlichkeitsstörung: Die Bereitschaft, systemisch ausgerichtete Erziehungsarbeit mit flankierender Beratung (z.B. Supervision) leisten zu wollen, ist hier gestiegen.
Das zweite Kapitel stellt schwerpunktmäßig das Hilfesystem der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung „Förderkreis und Jugendpflege Bernburg e.V.“ in Verbindung mit dem die Arbeit begleitenden Institut „FST Halberstadt (Institut für Fortbildung, Supervision und Familientherapie)“ dar.
Eine Übersicht über das Bild der Borderline-Persönlichkeitsstörung und die Deutungen, Ängste und Vorurteile dieser Störung gegenüber auf Seiten der Helfersysteme finden sich im dritten Kapitel des vorliegenden Buches. Natho zitiert hier aus der „Klinischen Psychologie“ (???) von Davidson und Neale (1998): „…Der Borderline-Patient ist der Alptraum des Therapeuten…weil Borderline-Fälle niemals wirklich besser werden. Das Beste, was man tun kann, ist, sie weiterlaufen lassen, ohne in ihre Pathologie hineingezogen zu werden…Sie sind chronisch depressiv, entschlossen süchtig, zwanghaft geschieden, leben von einem emotionalen Unglück zum anderen. Sie hüpfen von Bett zu Bett, begehen Selbstmordversuche, fahren als Kolonnenspringer und sind traurigblickende Modelle mit Armen zusammengenäht wie Fußbälle und psychischen Wunden, die nie geheilt werden können…Ihr Ego ist so fragil wie gesponnener Zucker, ihre Psyche irreparabel fragmentiert wie ein Mosaik, bei dem die wichtigsten Teile fehlen… (S.34)“. Der Autor sieht darin auch Gründe für die Hilflosigkeit der Helfer in der stationären Jugendhilfe, in deren Köpfen ein „Mythos“ vom schwierigen, unheilbaren „Borderliner“ spukt. Er zeigt neue Perspektivenauf, die über eine störungsspezifische Fokussierung hinausgehen. Für ihn sind dabei veränderte Einstellungen zur Borderline-Thematik, konstruktivistisch-lösungsorientierte Ansätze und traumapädagogische Konzepte und Methoden wesentlich. Allerdings sind laut Aussage des Autors Durchführungen entsprechender Evaluationen traumapädagogischer Praxis in der stationären Jugendhilfe bislang unterblieben (S. 44).
Im 4. Kapitel findet sich auf 32 Seiten eine ausführliche Fallbeschreibung. Sie zieht eine sehr spannende Kurve von anfänglich pädagogischer Arbeit über Beratung bis hin zur Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie. Dem Leser erschließt sich auf diesen Seiten ein komplexes Bild der heranwachsenden Klientin mit der Diagnose einer „emotional instabilen Persönlichkeit vom Borderline-Typus“ (S. 65). Der Autor beschreibt hier ausführlich den Spagat, den Erzieher, Sozialpädagogen, Berater und Leitungskräfte innerhalb einer Jugendhilfeeinrichtung leisten müssen, und der gelegentlich zu Resignation bis hin zum Ausscheiden aus dem Helfersystem führt.
Das 5. Kapitel geht als Exkurs inhaltlich auf die Pioniere der Systemtheorie, des Konstruktivismus und der Hypnotherapie ein und behandelt zentrale Merkmale lebender Systeme (u.a. Organisation, Struktur, Grenzen, Subsysteme, Ganzheitlichkeit, zirkuläre Kausalität, Regelhaftigkeit, Homöostase, Autopoiesis, Struktur-Determination), schlägt Brücken zur heutigen Jugendhilfe geschlagen und stellt praktische Übungen und Techniken vor.
Der Stellenwert systemischer Supervision als integraler Bestandteil systemischer stationärer Jugendhilfe steht im Zentrum des 6. Kapitels. Supervision schafft Raum zur Beantwortung von Fragen wie: „Welchen Anteil hat der Heimaufenthalt für die Aufrechterhaltung des problematischen Verhaltens im Klientensystem? An welcher Stelle der erzieherischen Arbeit wurde mit dem Klienten, mit der Familie eher kooperiert? Wo wurde eher gegeneinander gearbeitet? Welche neuen Arbeitshypothesen über Wirkzusammenhänge innerhalb des Klientensystems lassen sich finden? Welche Fragen an den Klienten, an die Familie ergeben sich daraus? Welche Interventionen werden durch neue Hypothesen sinnvoll?“ (S. 127/128). Im zweiten Teil dieses Kapitels geht der Autor auf die Rekonstruktionsarbeit am Beispiel des Familienbretts und der Familienrekonstruktion ein. Am Fall der Klientin stellt der Autor die Aufstellungsarbeit der Bezugserzieherin vor dem Hintergrund einer eingeschlichenen Verstrickung mit der Klientin vor. Dabei werden die unterschiedlichen Phasen der Aufstellung bis hin zur Auflösung der bestehenden Problematik ausführlich dargelegt.
Einen sehr theoretischen, aber dennoch inhaltlich interessanten Teil bietet das 7. Kapitel, in dem Fragen u.a. der Diagnostik, der Entwicklung, des Verlaufes, der Strukturen, und der Komorbidität von Borderline-Persönlichkeitsstörungen und der Posttraumatischen Belastungsstörung diskutiert werden Meines Erachtens ermöglicht dieses Kapitel trotz temporärer Theorielastigkeit, das Störungsbild als Ganzes besser erfassen und auf die Klientin bezogen verstehen zu können. Darüber hinaus bietet es auch einen Einblick in die derzeit vorhandenen zur psychiatrischen Klassifikationen (ICD-10 und DSM-IV) an.
Die konkrete Arbeit mit der vorgestellten Borderline-Klientin wird im 8. Kapitel anhand von Transkripten aus 8 ambulanten systemischen Beratungssitzungen zum Teil ausführlich präsentiert. Dabei ist dem Autor wichtig, dass es weniger auf die systemischen Techniken und Manöver ankommt als auf die systemische Haltung, die diesen zugrundeliegen. Vorrangig geht es um eine wertschätzende und vor allem neugierige und interessierte Haltung der Klientin gegenüber. Der Gesamtverlauf der Beratung wird dabei ebenso sichtbar wie die damit verbundenen Übertragungs- und Gegenübertragungsmomente.
Das katamnestische Gespräch fand 10 Jahre nach der letzten Beratung statt, als die damals minderjährige Klientin mittlerweile 28 Jahre alt war. Fragen zur derzeitigen intrapsychischen Verfassung, zu interpersonellen Kontakten, Beruf, Freundeskreis, Familie, Beziehung, damalige Erfahrungen in der Wohngruppe der Jugendhilfeeinrichtung, Therapie etc. werden von der Klientin offen und ehrlich beantwortet. Zum Teil entsteht ein sehr nüchterner Eindruck bzgl. der (vielleicht) erhofften Therapieerfolge. Allerdings darf nicht vergessen werden, in welch problematischen Kontext die Klientin begleitet wurde und dass innerhalb der Jahre das soziale Umfeld eher stagnierte. Insgesamt erschloss sich mir ein umfangreiches Bild über das jetzige Leben der jungen Erwachsenen mit all seinen Höhen und Tiefen.
Das 10. Kapitelschlägt eine Brücke zur praktischen Arbeit im Heimkontext. Detailliert werden hier folgende Themenschwerpunkte beleuchtet und Handreichungen für die praktische Arbeit vorgestellt: Störungsdiagnostik; soziographische Diagnostik; Notfall- und Rückfallplanung; Umgang mit Suizidalität; vorausschauendes Handeln; dauerhaft feste Bezugsperson; stabile Erzieherpersönlichkeit; klientenzentriertes Erziehungskonzept; Sicherstellung der sozialen Unterstützung und Begleitung; Kooperation und Wertschätzung der Eltern; Teamberatung, Supervision und Fortbildung; Vernetzung und Beratung.
Traumapädagogik bzw. traumapädagogische Interventionen und Techniken stellt der Autor im 11. Kapitel vor, meines Erachtens ein besonders wichtiges Kapitel, das aktuelle empirische Daten zur Evaluation dieses Fachgebietes und Konzepte der Resilienzforschung, Salutogenese und der Ressourcenfokussierung vorstellt. Dabei geht Natho auf vier traumapädagogische Arbeitsschwerpunkte näher ein: das Selbstfürsorgetraining, den Dissoziationsstopp, das Arbeiten mit Imaginationen und das Lebensflussmodell. Alle Schwerpunkte werden theoretisch und praktisch (aus der Praxis des FST-Halberstadt) ausführlich erklärt und in Teilen mit Abbildungen untermauert.
Ich empfehle das vorliegende Buch allen, die mit Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe in Berührung kommen, jedem systemischen Berater und jedem systemischen Therapeuten. Fasziniert hat mich das Grundinteresse des Autors, „am Fall“ zu bleiben und der vorgestellten Klientel mit Neugierde, Offenheit, Wertschätzung und vor allem mit Akzeptanz ihrer Persönlichkeitseigenschaften zu begegnen. Die praktischen Handreichungen sind sehr gut beschrieben und vereinfachen den Transfer in die eigene Praxis hervorragend… Es kann daher als Lern- und Lehrbuch zugleich verstanden werden.
Verlagsinformation:
Traumatisiert und borderlinegestört, das sind seit einigen Jahren viele Kinder und Jugendliche, die sich in Jugendhilfeeinrichtungen befinden. Um diese Kinder angemessen und störungsspezifisch zu betreuen und zu erziehen, braucht es in der Heimpädagogik neue Ansätze und Haltungen. Der Autor stellt in diesem Buch traumapädagogische und systemische Arbeitsweisen und Haltungen vor, die geeignet sind, diesen Kindern zu helfen. Dabei werden klassische Erziehungsansätze in Frage gestellt und auf ihre Wirksamkeit hin untersucht. Er deckt manche Macht- und Kontrollansprüche traditioneller Erziehungsansätze auf und zeigt, wann Konsequenzen auch Strafen sind. Er entwirft ein traumapädagogisches Konzept, welches auf Vertrauen und Beziehung setzt und erzieherische Kontrollansprüche überwiegend ablehnt. Vorgestellt wird auch ein speziell für die Jugendhilfe entwickeltes Selbstfürsorgetraining für Kinder und Jugendliche. Hierfür gibt es konkrete methodische und didaktische Handreichungen für den pädagogischen Alltag.
Inhalt:
1. Einführung Situation in der Jugendhilfe Pädagogische Grenzen und Herausforderungen Borderlinestörungen im Heimkontext Borderlinestörung und Traumafolgestörungen
2. Darstellung der Hilfesysteme Profil der betreuenden Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen Das systemische Arbeitskonzept Profil des begleitenden Institutes
3. Einführung in das Störungsbild Das Bild der Borderline-Persönlichkeitsstörung Aktuelle pädagogische Ansätze und ihre Wirksamkeit Begriffsbildung Neue Perspektiven
4. Fallbeschreibung und Darstellung der Arbeitsschritte Familienanamnese der Klientin Selbstbeschreibung der familiären Situation Genogramm der Klientenfamilie Erste Phase – die Integration in das Heim Erste psychologische Beratung Reden ist Silber, Schweigen ist Gold? Kontakte zum Elternhaus / Arbeit mit den Eltern Erste Eskalation Zweite Phase – zwischen Klinik und Heim Die Mitarbeiter – Herausforderung und Überforderung Erster Aufenthalt in der Psychiatrie – aller Anfang ist schwer Zweiter Aufenthalt in der Psychiatrie Zwischen Hoffen und Bangen Dritter Aufenthalt in der Psychiatrie – ein hoffnungsloser Fall? Dritte Phase – Stabilisierung Umzug in den eigenen Wohnraum Rückblick – Vom Nutzen erzieherischer Präsenz
5. Grundhaltungen der systemischen Arbeit Wissenschaftlichkeit, Methode und Menschenbild Systemisches Menschenbild Merkmale lebendiger Systeme Konstruktivismus Wirklichkeitskonstruktionen Erschaffung von Problemen Die Familie, einige systemische Deutungen Die Situation der Familie Familiensystem Entwicklungsphasen von Familien Postulate systemisches Handelns Systemische Diaagnostik, Hypothesen und Strategieplanung Das Genogramm, Instrument zur Hypothesenbildung und Strategieplanung Hypothesenbildung Strategieplanung
6. Supervision und Praxisberatung Supervision mit dem Erzieherteam Familienbrettarbeit in systemischer Supervision Supervision mit der Bezugserzieherin Verstrickung Exkurs Familienrekonstruktion – kleine Einführung in die Methodik Lösung der Verstrickung
7. Diagnostik, Erfahrungen und Erkenntnisse Darstellung des Störungsbildes Kriterien der Borderline-P. im Rahmen der ICD-10 Kriterien der Borderline-P. im Rahmen des DSM-Systems Diagnose Borderline bei Kindern und Jugendlichen Ursachen der Borderline-Persönlichkeitsstörung Familienmuster und Borderlinestörung Erkenntnisse, Hypothesen und Prognosen Häufigkeit, Verlauf, Suizidalität und Komorbidität Neurobiologie der Borderlinestörung und Traumatisierung Stabilität und Störungen der Persönlichkeit Impulsives, aggressives Verhalten Selbstverletzende Verhaltensweisen Selbstverletzendes Verhalten – die Lösung als Problem Umgang mit selbstverletzenden Verhaltensweisen Der Notfallkoffer Persönlichkeit und Pubertät, Entwicklungschancen und Risiken Diagnostik der Posttraumatisches Belastungsstörung Entwicklungen des Störungsbildes Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung ICD-10 Frühkindliche sexuelle Traumatisierung – Gedächtnisleistung und Sprache
8. Flankierende systemisch beraterische Arbeit Ziele der ambulanten systemischen Beratung Strategien der ambulanten systemischen Beratung Kurzdarstellung 1. Phase der Beratungsverlaufs Schlussbetrachtung der flankierenden Beratung
9. Zehn Jahre später – Das Leben geht weiter Interview mit der Klientin von damals Berufsausbildung und Jobsuche Das Leben ist noch voller Angst Meine Vergangenheit eilt mir voraus Erwartungen an Heimerziehung
10. Arbeitsempfehlungen für den Heimkontext
11. Traumapädagogik in der Jugendhilfe Die Herausforderungen und erste Konzepte Traumapädagogik, nur eine Hilfswissenschaft? Einige richtungsweisende Konzepte Ohne Beziehung keine Erziehung – Erziehung & Macht Solange du die Füße unter meinem Tisch… Wer nicht hören will, muss fühlen Konsequenz versus Strafe Grenzen von Strafung und Regeln für Bestrafung Beziehung, das A und O Die Skalierungsscheibe, ein Instrument zur Differenzierung von Beziehungen Autorität durch Beziehung und erzieherische Präsenz Weniger ist mehr! Drei-Körbe-Übung Resilienz oder was Kinder gesund erhält Resilienzforschung und Salutogenese Ressourcen – trotz Trauma und Krise gesund bleiben… Lösungsorientierte Kommunikation Generelle individuelle Ressourcen Traumapädagogische Arbeitsschwerpunkte Halt geben – Vor- und Nachteile von Regeln Selbstfürsorgetraining Drei Module Selbstfürsorgetraining Emotionale Stabilisierung, Arbeit mit Imaginationen Dissoziationsstop Entwicklung des Autobiographischen Ichs Lebensflussmodell, Anregungen zur Biographiearbeit
Über den Autor:
Frank Natho, geb. 1962, Gründer und Leiter des Institutes für Fortbildung, Supervision und Familientherapie Halberstadt (FST Halberstadt). Neben seiner Leitungs- und Lehrtätigkeit ist er in eigener Praxis als Familien- und Paartherapeut, Supervisor und Coach tätig sowie Autor mehrerer Fachbücher. |
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