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04.10.2011
Konrad Grossmann & Ulrike Russinger: Verwandlung der Selbstbeziehung. Therapeutische Wege zur Freundschaft mit sich selbst
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Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2011
191 S., kartoniert
Preis: 21,95 €
ISBN-10: 389670947X
ISBN-13: 978-3896709479 |
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Carl-Auer-Verlag
Andrea Brandl-Nebehay, Wien:
Das Leiden an sich selbst, an der eigenen Person – sich selbst nicht zu mögen, sich abzuwerten, sich nur in den negativsten Aspekten zu sehen, – das sind die Themen, mit denen sich das neueste Buch von Konrad Grossmann und seiner Co-Autorin Ulrike Russinger auseinandersetzt. Was kann Menschen helfen, die sich in negativen Selbstbeschreibungen verfangen haben, dadurch auch zu anderen Menschen schwer Zugang finden können und Beziehungen tendenziell als bedrohlich erleben?
Es handelt sich freilich um einen rekursiven Prozess: ein negatives Selbstbild kann Beziehungen untergraben, aber auch umgekehrt haben traumatisierende Erfahrungen, erlebte Vernachlässigung und Gewalt das Potential, das Bild von sich selbst als liebenswerten, wertvollen Menschen nachhaltig zu beschädigen. Wie kann eine „langsame“ Therapie KlientInnen dabei helfen, ihre Selbstwirksamkeit (wieder) zu entdecken?
Das Selbst als Persönlichkeitsstruktur und dessen Veränderung sind wesentliche Standbeine einer theoretischen Fundierung aller psychotherapeutischen Schulen. Nicht so in der Familien- und später in der systemischen Therapie. Mit der radikalen Auflösung des Selbstbegriffes und der nahezu ausschließlichen Hinwendung zu familiären Interaktionsdynamiken wurde eine Gegenposition zu allen anderen psychotherapeutischen Modellen eingenommen. Das Interesse an Beziehungsmustern, an zirkulären Prozessen, Kontexten und Lösungsmodellen verdrängte die Beschäftigung mit innerpsychischen Strukturen. Bateson etwa spricht vom Selbst als von einem „abendländischen Irrtum“ der uns den Zugang zur Ganzheit und zur universalen Spiritualität verwehrt. Vor und nach der konstruktivistischen Wende blieb das „Selbst“ aus den fachlichen Diskursen also weitgehend ausgespart. Dieses ureigene Thema aller Psychotherapien – die Verwandlung der Selbstbeziehung –- war in der systemischen Therapie lange Zeit wenig salonfähig, weitgehend ausgeklammert, gleichsam an den Rand gedrängt.
Als in den späten 80er Jahren narratives Therapieverständnis aufkeimte, tauchte das Selbst, nun verkleidet als AutorIn von Geschichten verkleidet, wieder aus der Versenkung auf. Rund um dieses „narrative Selbst“, das Sich-selbst-Erzählen, entfaltet sich der erste Teil des Buches.
Ausgangspunkt ist dabei die Überlegung, dass wir unseren Erfahrungsstrom erzählend, in Geschichten, organisieren. Wir stellen uns selbst und unsere Welt her, indem wir uns erzählen, immer wieder erzählen, mitunter auch neu erzählen. Im Fall einer als hilfreich erlebten therapeutischen Begegnung etwa, in der eine relevante Unterschiedsbildung gelungen ist, wird eine negativ gefärbte Selbsterzählung mit neuen Bedeutungen versehen, die die AutorIn in ein heller getöntes Licht setzt. Wer aber ist dieses erzählende Ich? Und wie ist dieses „mehrfache Selbst“, durch das wir unsere Identität immer wieder neu erfinden, therapeutisch unterstützbar?
Dazu einige Stichworte und Überschriften, unter denen diese Fragen aufbereitet werden: Selbstregulation steht als Zauberwort auf der Seite gelingender, positiver Selbsterzählung. AutorInnenschaft für das eigene Leben bedeutet, mitbestimmen zu können, welche Anteile des Selbst von Augenblick zu Augenblick in Abstimmung mit unseren Werten, Bedürfnissen und Zielen jeweils aktiviert werden oder aber in den Hintergrund treten. Unter Stress werden komplexe physiologisch-affektive Verarbeitungsprozesse in Gang gesetzt, die Amygdala reagiert auf bedrohliche Reize und setzt stressverarbeitende Prozesse in Gang: Furcht-, Panik- und Freeze-Abläufe. In der kognitiven Verarbeitung wird diesen Erfahrungen von Bedrohung Sinn und Bedeutung zugeschrieben; im Fall negativer kognitiver Verarbeitung geschieht dies vorrangig unter einem Defizitfokus, verbunden mit eingeschränkter Selbstwahrnehmung, Selbstfeindschaft und mangelnder Selbstfürsorge. Wie die AutorInnen beschreiben: „Selbstverletzendes Verhalten, gewalttätiges Ausagieren, Selbstmedikation durch Alkohol, zwanghaftes Kontrollieren, soziales Vermeidungsverhalten, Rückzug, Risikoverhalten und anderes – sie alle sind Ausdruck prozessualer Selbstanteile, die sich zu einem bestimmten, mit Stress behaftetem Zeitpunkt unserer Biografie als verfügbare bzw. bestmögliche Lösungen von Belastungserfahrung bzw. als hilfreiche Selbstfürsorgestragien erwiesen haben“ (S.27).
Der zweite Abschnitt des Buches – „Verwandlungen“ – widmet sich therapeutischen Zugängen, Haltungen und Methoden, die sich bei der Transformation der Selbstbeziehung von KlientInnen bewähren. Es geht um die Förderung des Narrativen Selbst, die Wiedergewinnung der AutorInnenschaft für das eigene Leben, um die Anregung erweiterter Selbstwahrnehmung, um das Aufspüren positiv wie negativ attribuierter Selbstanteile, um die Stärkung der Selbstfreundschaft und das Erlernen von Selbstfürsorge.
Mit zahlreichen Fallvignetten illustriert, breitet sich hier der gesammelte Erfahrungsschatz von hypnosystemischen, narrativen und anderen systemischen Techniken aus. Wer sich für hypnosystemische Zugänge interessiert, wird viele Anregungen für die Arbeit mit Tranceinduktion, mit Imaginationen und der Utilisation von Ressourcen sowie Beispiele für die Ego-State-Arbeit finden. Wer Freude am kreativen Spielen mit inneren Personen und Selbstanteilen hat, wird die Falldarstellungen zu Parts Party und anderen Techniken der Teilearbeit schätzen. Wer narrative Zugänge favorisiert, wird in der Beschreibung externalisierender Vorgehensweisen und den Möglichkeiten des Re-Membering und Re-Authoring neue Inspiration finden. Wer seine KlientInnen mag und sich um sie sorgt, dem wird in den Abschnitten „Sorge für das Innere Kind“ und „Rituale der Selbstversöhnung“ das Herz aufgehen.
Der Arbeit mit traumatisierten KlientInnen ist das vorletzte Kapitel gewidmet, in dem die hohe Kunst des Verstehens und des hilfreichen therapeutischen Umgehens mit jenen Menschen dargestellt wird, die durch erschreckende Vorgänge und Ereignisse in ihrer Selbstachtung, Selbstfreundschaft und Selbstfürsorge beschädigt wurden. Breiten Raum nimmt dabei die Beschreibung des SARI-Modells ein, ein phasenspezifisches Vorgehen bei Traumafolgestörungen:
„Nach einer Eingangsphase der Sicherheit und Stabilisierung (safety and stabilization) soll Zugang zu den traumatisierten Erfahrungen geschaffen werden (accessing), was zu einer Restabiliserung des Selbst (resolving and restabilization) sowie im besten Fall zu einer Integration der traumatischen Erfahrung und Ausbildung einer besser integrierten Identität (integration and identity) führt“ (S. 145).
An Hand von beeindruckenden Falldarstellungen werden weiters traumakonfrontative Verfahren, Video-Screen-Arbeit („belastende innere Filme ressourcenorientiert betrachten“), Brainspotting (Auftauen „eingefrorener“ Erinnerungen) und Techniken des EMDR („Mit dem Zug durch die Vergangenheit fahren“) anschaulich präsentiert.
Mit dem abschließenden Kapitel, das Prinzipien „langsamer Therapie“ zusammenfasst, schließt sich der Bogen, den dieses lernintensive Buch aufspannt. Wie in einer weit geöffneten Schatztruhe lässt sich in diesem Buch kramen und fündig werden, wenn man gerade nach Anregungen für eine sich schwierig gestaltende Therapie sucht. Und gleichzeitig leistet es Pionierarbeit, in dem es den vorübergehend eingeengten Blick systemischer Theoriebildung zurück auf das Selbst lenkt und dafür ein schlüssiges Modell anbietet.
In der „Verwandlung der Selbstbeziehung“ verbündet sich fundierte theoretische Auseinandersetzung mit lebendig geschilderter, engagierter Praxis, in der sich die jahrelange therapeutische Erfahrung beider AutorInnen authentisch widerspiegelt. Und nicht nur der Schlusssatz macht dieses Buch sehr lesenswert: „Therapie leistet in verdichteter Form nichts anderes als das, was das Leben im guten Fall selbst leistet: Es macht uns weiser und toleranter, gelassener in Bezug auf die eigene Person, versöhnter mit dem, wie wir sind, wie wir waren und wie wir sein werden“ (S.183)
Verlagsinformation:
Viele Menschen leiden nicht nur an Symptomen, sondern vor allem an sich selbst. Hartnäckige psychisch bedingte Leidenszustände und schmerzliche Beziehungsmuster können bis zur Selbstverachtung und Selbstzerstörung führen. Im Rahmen einer „langsamen Therapie“ kann durch ressourcenorientierte Erzähldialoge sowie durch erlebnisaktivierende Techniken ein Umlernen erfolgen. Selbstachtung und Selbstfürsorge können wieder gewonnen werden. Die praktische therapeutische Arbeit wird durch viele Fallbeispiele lebendig und nachvollziehbar illustriert. Es werden vor allem hypnosystemische, skulpturierende und traumaspezifische Methoden sowie Beispiele für die Ego-State Arbeit vorgestellt.
Inhalt:
I. Über das Selbst
1. Das Mehrfache Selbst 2. Selbstbeziehung und biopsychosoziale Problemstellungen 3. Karten des Selbst 4. Die Genese des Narrativen Selbst 5. Lösungstheoretische Implikationen
II. Verwandlungen
1. Die Förderung eines positiven Narrativen Selbst 2. Die Anregung erweiterter Selbstwahrnehmung 3. Die Stärkung von Selbstfreundschaft 4. Zur Praxis von Selbstfürsorge 5. Arbeit mit traumatisierten KlientInnen 6. Langsame Therapie
Über die AutorInnen:
Konrad Peter Grossmann, Univ.-Doz. Dr. phil., Psychotherapeut, Supervisor, Lehrtherapeut für systemische Familientherapie (lasf Wien), Lehrbeauftragter an der Universität Klagenfurt und der Fachhochschule für Soziale Arbeit/Linz. Publikationen zu den Themenbereichen narrative Therapie, Paartherapie, therapeutische Wirkforschung und Interventionstheorie.
Ulrike Russinger, Magistra der Psychotherapiewissenschaften und diplomierte Sozialarbeiterin, Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin für systemische Familientherapie (lasf Wien). Therapeutische Schwerpunkte und Publikationen: Essstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Arbeiten auf der „Inneren Bühne“, Umsetzung systemischer Konzepte in institutionellen Kontexten. |
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