Carl-Auer-Verlag
Cornelia Tsirigotis, Aachen:
Aus der Krise wachsen – über Ressourcen und Resilienz
„Als jemand, der schon als Kind gelernt hat, dass zum Leben Fröhliches und Trauriges gehört, finde ich es seltsam, wenn plötzlich davon geredet wird, dass wir unsere Sichtweise selbst bestimmen, und dass es an uns liege, wenn wir nicht 'ausschließlich' an Ressourcen orientiert sind, sondern die Nuancen zwischen hell und dunkel genau so mögen wie die Gegensätze von schwarz und weiß. Natürlich gehören Helles und Dunkles zusammen, und wir brauchen keine Vorschriften, die uns zwingen, nur das eine oder das andere ins Blickfeld zu nehmen.“ (S. 27)
Das Stärken von Bewältigungskompetenzen war mir immer ein besonderes berufliches Anliegen. Ein Blick auf Ressourcen als Ausgangspunkte für neue gute Schritte hat mir dabei gute Dienste geleistet. Eine erweiterte und sehr bereichernde Sicht auf Krisenkompetenzen vermittelt mir das vorliegende Buch in sehr anschaulicher Weise.
Während ich lese, kommt die Nachricht von Rosmarie Welter-Enderlins Tod. Unter diesem Eindruck und mit der damit verbundenen Gesamtbetrachtung ihres Lebenswerkes verändert sich mein Lesefokus: der Mensch Rosmarie Welter-Enderlin rückt mir mehr in den Vordergrund. Erzählungen aus ihrer eigenen Lebensgeschichte machen die treibenden Kräfte deutlich, die in ihr Konzept des „Gedeihens unter widrigen Umständen“ fließen, wie z.B. beim Bergsteigen mit den Eltern: „…eigentlich lernten wir beim Auf- und Abstieg vor allem eins: sorgfältig auf die schützenden Faktoren in uns selbst zu achten und vor allem, den Weg und den Horizont nicht aus den Augen zu verlieren. Und trotz der Angst uns selbst zu vertrauen.“ (S. 22). Dazu braucht es mehr als den „Blick auf das Positive“, Rosmarie Welter-Enderlin grenzt sich ab von der vielfach mit systemischer Therapie in gleichem Atemzug genannten Ressourcenorientierung - in der oftmals pointiert vertretenen Form „gnadenloser Ressourcenorientierung“ - , die den Blick auf Probleme oder menschliches Leiden außer Acht lässt. Sie holt den Begriff Ressourcenorientierung aus seinem friedlich-positiven Himmel auf den guten und tragenden Boden des Lebens: „Nach meinem Menschenbild gehört zur Ressourcenorientierung auch der Blick in die Abgründe des menschlichen Lebens. Ressourcen und Stressoren sind Aspekte der gleichen Wirklichkeit (S. 21, Hervorh. i.O.).
Für Rosemarie Welter-Enderlin geht bei Resilienz um die Frage, wie Menschen mit schwierigen Lebenssituationen fertig werden, wie sie sich „biegen statt brechen“. Und letztendlich geht sie weiter, sie schließt die Möglichkeit nicht aus, dass Menschen eben nicht mit Ereignissen fertig werden, dass sie eben doch brechen. Dann geht es um Heilung, darum Brüche und Schweres in das Leben wieder zu integrieren, trotzdem weiterzumachen. „Damit ist gemeint, dass in den vorliegenden Fallgeschichten immer beide Möglichkeiten sichtbar werden: dass die vom Schicksal Betroffenen wie ein Baum im Sturm sich biegen, statt zu zerbrechen, oder dass bei aller Anstrengung eben doch ein Bruch erfolgt, den es entweder zu heilen gilt oder dessen Folgen ins Leben eingebaut werden müssen.“ (S. 10)
Kernstück des Buches sind also elf Fallgeschichten aus unterschiedlichen Lebensbereichen: Geschichten von Paaren, vom Umgang mit dem Tod des Partners, von Stress und Dauerbelastung durch Behinderung und Krankheit, vom Umgang mit Fehlern im Leben, vom Unfalltod des Sohnes, vom Leben als ungeliebtes Stiefkind… Den Titel „Biegen oder brechen?“ trägt auch das Forschungsprojekt, dem die Fallgeschichten entstammen. Aus den - von den Betroffenen zum Teil selbst aufgeschriebenen - Geschichten sind die beiden Seiten spürbar: Stärke und Zusammenbrechen, Kraft und sich fallen lassen, Verzweiflung und Hoffnung… Die dokumentierten und kommentierten Fallgeschichten lesen sich für mich auch als Geschichten einer großartigen Therapeutin. „Fallverstehen in der Begegnung“, das Herzstück des von Rosmarie Welter-Enderlin und Bruno Hildenbrand entwickelten Meilener Konzeptes, kommt auch in Auswahl, Darstellung und Reflexion zum Tragen.
Das tragende Entdecken von Bewältigungskräften und gedeihlichen Stärken im Umgang mit schwierigen Lebensumständen zieht sich durch diese Fallgeschichten, ebenso wie die behutsame und einfühlende Weise von Rosmarie Welter-Enderlin, diese Kräfte ans Licht zu bringen und zu verstärken, oder festzustellen, dass es eben nicht im herkömmlichen Sinne zu bewältigen geht. Heilungskräfte sind ihr wichtiger als Lösungskräfte. Demut und das Erkennen der eigenen Grenzen sind wichtige Schlüssel. Den Abschluss des Buches bilden auswertende Erkenntnisse und Anregungen für Therapeutinnen sowie Überlegungen zur „stellvertretenden Resilienz“, mit dem die Frage angesprochen wird, wie Therapeutinnen mit ihrer eigenen Resilienz umgehen und wie sie sie zur Unterstützung von Klientinnen nutzen.
Ich denke, wer sich mit diesem Buch beschäftigt, wird eine andere Haltung zum Blick auf Ressourcen und Stärken entwickeln, die gebraucht werden, um das Leben mit all seinen Facetten zu meistern oder zu ertragen. Der Gewinn scheint mir eher in Bescheidenheit und Demut zu liegen und zugleich in der Möglichkeit, einer großartigen Therapeutin ein letztes Mal über die Schulter zu schauen.
(Mit freundlicher Erlaubnis aus systhema 2/2010)
Verlagsinformation:
„Anna hatte es nie leicht: Nach der Scheidung der Eltern sieht sie ihren Vater nie wieder. Die Mutter ist Alkoholikerin, die jüngere Schwester drogenabhängig, der Stiefvater spielsüchtig. Als er die Familie verlässt, hat er auch Annas Erspartes verspielt. Sie verliebt sich in einen Bauern, lebt und arbeitet auf seinem Hof mit, bis er sie gegen eine andere Frau austauscht – und sie nur noch dort arbeitet. In der neuen Wohnung wird sie von einem Nachbarn sexuell belästigt. Trotz all dieser Erfahrungen ist Anna eine starke Frau geworden, die ihr Leben selbst bestimmt. Insgesamt elf solcher Geschichten hat die renommierte Schweizer Psychotherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin in diesem Buch zusammengetragen. Sie verdeutlichen, wie Menschen kritische Lebensereignisse unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen meistern und die Krise als Anlass für ihre Entwicklung nutzen. Dabei wird deutlich, dass die Quellen, aus denen Betroffene ihre Kraft schöpfen, ebenso vielfältig sind wie kritische Lebensereignisse selbst: Familie, Freunde, Rituale, Tiere, Natur, Spiritualität – jeder kann seinen eigenen Weg finden, an Schicksalsschlägen nicht zu zerbrechen. Welter-Enderlin beschreibt in ausführlichen Kommentaren, wie Therapeuten diesen Prozess wirksam unterstützen können. Ihre Berichte aus der Praxis sind eingebunden in gut verständliche Erläuterungen zum Konzept der Resilienz."
Inhalt:
Einleitung
Kurzglossar zum Thema »kritische Lebensereignisse«
Forschungsprojekt »Biegen statt brechen« – Ergebnisse einer Telefonbefragung
Leitfaden zu »Biegen statt brechen«
Das Resilienzkonzept
Forschung, Erfahrungen, Anwendungsmöglichkeiten
Quellen von Unterstützung finden
Langzeitforschung als Basis von Resilienzkonzepten.
Schutz- und Risikofaktoren und Resilienz
Zugangsweisen in der Beratung
Zum Begriff Resilienz
Grundlagen dieses Berichtes
Zu den Geschichtenerzählern
Spiritualität
Zu den Themen dieses Berichtes
Zusammenschau
Wirksamkeit von Beratung und Therapie
Widersprüche
Affektive Rahmung des beraterischen Prozesses
Geschichten
Self-Care/Selbst-Coaching: Der freundliche Umgang mit uns selbst als Professionellen
Fallgeschichten Engpässe in Paarbeziehungen und in der Therapie
1. Paare in der Krise
2. Nicht jedes Trauma muss unheilbare Wirkungen haben
3. Stressüberflutung und die Folgen
4.Leben mit Krebs
5.Die Bedeutung von Spiritualität in der Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod
6. Blicke in die Abgründe einer Lebensgeschichte
7. Ein einziger Schrei nach Liebe
8. Unfalltod eines jungen Mannes im Militär
9. Plötzlicher Tod des Ehepartners
10. Sich nach der Sonne strecken lernen Familiengeschichten
Eindrücke zu der vorliegenden Untersuchung
Stellvertretende Resilienz
Zum »guten Umgang« mit Stress
Zusammenfassung der Forschungsergebnisse von Emmy Werner zum Thema Resilienz:
Was trägt wer dazu bei?
Erfahrung mit der vorliegenden Untersuchung
Nochmals zum Thema Resilienz
Der persönliche Anteil von Therapeut oder Therapeutin am Gelingen guter Beratung
Familien-Resilienz und Lebensthemen
Resilienz und Therapie – Zusammenfassung von Froma Walsh
Über die Autorin:
Rosmarie Welter-Enderlin (1935–2010), MSW, Paar-, Familien- und Organisationsberaterin, langjährige Lehrbeauftragte an der Universität Zürich; Autorin zahlreicher Fachartikel und Bücher, darunter "Resilienz und Krisenkompetenz" (2010), "Wie aus Familiengeschichten Zukunft entsteht" (2006) und – zusammen mit Bruno Hildenbrand – "Resilienz: Gedeihen trotz widriger Umstände" (2006), "Rituale – Vielfalt in Alltag und Therapie" (2. Aufl. 2004) sowie "Gefühle und Systeme" (1998). 2003 erhielt sie den "American Family Therapy Academy Award" für herausragende Beiträge zur Familientherapie. Im Jahr 2006 ehrten zahlreiche Kollegen Rosmarie Welter-Enderlins Beitrag zur Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung mit der Festschrift "Erhalten und Verändern" (hrsg. von Bruno Hildenbrand).
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