Copyright © 2013
levold system design Alle Rechte vorbehalten. |
|
|
Neuvorstellung |
zur Übersicht |
24.06.2010
John G. Allen & Peter Fonagy (Hrsg.): Mentalisierungsgestützte Therapie
|
|
|
Klett-Cotta, Stuttgart 2009
470 S., geb. mit Schutzumschlag
Preis: 49,90 €
ISBN-10: 3608945210
ISBN-13: 978-3608945218 |
|
Verlag Klett-Cotta
Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:
Mentalisieren ist einer der shooting-star-Begriffe, die in den letzten Jahren im Bereich der Psychotherapie Furore gemacht haben. Umso gespannter durfte man auf die Übersetzung des vorliegenden Readers sein, der im Original 2006 erschienen ist. Das Buch ist von den Pionieren dieses Begriffs herausgegeben. Als Handbuch verspricht es sowohl Klärendes zu den Grundlagen als auch einen fundierten Einblick in die Erfahrungen einer Vielzahl von AutorInnen, die in unterschiedlichen Bereichen mit Mentalisierungsgestütztem Vorgehen arbeiten. Um es gleich zu sagen, mir gefällt, dass trotz der immens fundierten und gedanklich sowohl konzentrierten wie umfassenden Darstellung das Schillernde des Begriffs nicht geleugnet wird. Hier wird nicht so getan, als verstehe sich der Begriff von selbst, und auch das Bemühen um ein möglichst präzises Erfassen verleugnet nicht, dass es damit kaum ein einseitig definiertes Ende haben dürfte. Zu diesem seriösen und informativen Gehalt gehört auch der Hinweis, dass der Begriff nicht neu ist, sondern z.B. in der frankophonen Psychoanalyse seit einem Vierteljahrhundert verwendet wird. Allerdings unterscheidet sich der von Fonagy und anderen hier verwendete Begriffsgebrauch davon. Fonagy und KollegInnen gaben „ihm eine britisch-empirizistische und winni[c]ottianisch-interpersonalistische Ausrichtung“, wie J. Holmes in seinem klugen und anregenden Beitrag unterstreicht.
Kurz skizziert, gliedert sich das Buch in fünf Teile. Nach der sehr lesenswerten Einleitung von J. Allen und P. Fonagy werden im ersten Teil konzeptionelle und klinische Grundlagen erörtert (Allen, Holmes). Im zweiten folgt der Bereich Entwicklungspsychopathologie (Fonagy, Sharp, Gabbard et al.). Die Integration des Mentalisierens in bestehende Behandlungsmethoden kommt im dritten Teil zur Sprache, insbesondere in Kognitive und Dialektische VT (Munich, Björgvinsson & Hart, Lewis). Fünf Beiträge illustrieren Erfahrungen in der praktischen Anwendung. Unter anderem diskutieren Bateman & Fonagy ihre Arbeit mit Borderline-PatientInnen. Fearon et al. stellen ihr kurztherapeutisch-integratives Modell einer „Familientherapie für Kinder und Jugendliche“ vor. Im abschließenden fünften Teil geht es um Prävention. Hier gibt es u.a. einen sehr anregenden Beitrag von Sadler et al. zum Konzept einer mentalisierungsgestützten Erziehungsberatung. Gerade in diesem Beitrag wird deutlich, dass mit Mentalisieren kein Zauberwortartiger Hype gemeint ist, sondern dass es einen umfassenden, kooperativen, konzentrierten und engagierten Rahmen braucht. Dann können auch hochbelastete und sehr gefährdete Gemeinschaften und Familien vom Mentalisieren profitieren, obwohl es im Prinzip ziemlich voraussetzungslastig ist.
Und was wäre nun genau gemeint mit Mentalisieren. Im Buch gibt es viele Hinweise und einige Definitionen. Ich wähle die von Jon Allen aus. Er definiert Mentalisieren „als die imaginative Wahrnehmung und Interpretation des Zusammenhangs zwischen Verhalten und intentionalen mentalen Zuständen“ (S.29, kursiv i.O.). Wie J. Holmes unterstreicht, setzt das Empathiefähigkeit voraus, und u.a. auch „die Fähigkeit, sich selbst und die eigenen Gefühle von außen zu betrachten und zu beurteilen“ (S.67). Kurzum, es geht um die Fähigkeit, „andere und sich selbst als intentionale Urheber zu verstehen“ (S.80). Dies sind nun zentrale und wesentliche Momente jeglicher therapeutischer, möglicherweise sogar sämtlicher hilfreicher Entwicklungen (auch wenn sie nicht professionell begleitet werden). Insofern scheint mir nachvollziehbar, dass der Begriff des Mentalisierens einen solchen Anklang gefunden hat. Er eignet sich tatsächlich zur Reflexion des Kernstücks dessen, was mit unserer Profession gemeint sein könnte. Seine zentrale Position einerseits und seine Offenheit andererseits könnten allerdings auch dazu führen, dass der Begriff des Mentalisierens problemlos in Neigungen integriert werden könnte, mit Hilfe plausibel erscheinenden Wortgeklingels zu vernebeln, dass es sich bei allen Arten menschlichen Umgangs miteinander (und eben auch professionell gerahmten) um nicht-triviale Konstellationen handelt. Daher finde ich es sehr gut und im vorliegenden Buch überzeugend dokumentiert, dass die hier versammelten AutorInnen dem ein solides, seriöses, fundiertes und selbstkritisches Arbeiten entgegensetzen. Mentalisieren wird im hier verstandenen Sinn sowohl in seinem Profil transparent, in seinem Vorgehen nachvollziehbar und in seinen notwendigen Voraussetzungen eingebettet. Ein gutes Beispiel für professionelle Redlichkeit also.
Darüber hinaus gefallt mir an diesem Buch, dass es vom Beitrag Jon Allens zu Beginn dermaßen schön und respektvoll gerahmt ist, dass man dies in den folgenden Beiträgen stets mitbedenkt, selbst wenn es einmal etwas wirkungsmächtig erscheinen mag. Allen unterstreicht sowohl das Geschehende des Mentalisierens als Merkmal (im Unterschied zum Geschehen: insofern bleibt eine gewisse Diskrepanz hinsichtlich der Titelprägenden Mentalisierung anstelle Mentalisieren; dies auch im Original), und er unterstreicht auch die Relativität (also den auf Bezogenheit angewiesenen Kern) des Mentalisierens. Und er macht die Größenordnung deutlich, wenn er z.B. schreibt: „Kurz, so hoch wir das Mentalisieren auch preisen – das Leben besteht aus mehr, und auch die Welt hat mehr zu bieten als Beziehungen zu uns selbst und anderen“ (53). In welchem Lehr- oder Handbuch findet sich so etwas schon?! Oder: „Im besten Fall ist das Mentalisieren eine überaus liebevolle menschliche Aktivität“ (S.54). Ich traue mich kaum zu glauben, dass sich jemand traut, dies in einem wissenschaftlichen Buch zu bekennen.
Und es gibt auch wunderbare Querverbindungen zu systemtheoretischen und systemischen Perspektiven. Etwa da, wo Allen die „Unvorhersagbarkeit und Unkontrolliertheit anderer Menschen“ positiv unterstreicht. Sie machten „Interaktionen und gemeinsame Projekte lohnend; ohne dieses offene Ende müssten Beziehungen und Projekte auf der Stelle treten“ (S.49). Und wenn J. Holmes seinen Beitrag beendet mit dem Hinweis auf die dezentralisierende Wirkung einer „mentalisierungsorientierte[n] Verwendung der Gegenübertragung“ und konstatiert, „dass es keinen festen theoretischen Bezugspunkt für den umfassend mentalisierenden Therapeuten gibt, keine andere Gewissheit als die, dass es keine Gewissheit gibt“ (S.84), dann, ja dann sollte Systemischen TherapeutInnen ein Passus aus Kurt Ludewigs „Leitmotiven“ ins Gedächtnis geraten, in dem er davon spricht, dass man sich durch die Übernahme systemischen Denkens „gewissermaßen eigenhändig aus dem Paradies [vertreibt] – der fraglosen Gewißheit“ (2002, S.225). Wenn Ludewig weiter schreibt, eine „systemisch orientierte Ethik kann kein anderes Fundament beanspruchen als das der persönlichen Verantwortung“ (S.230), dann scheint mir das in der Tendenz doch – trotz aller Unterschiede – mit dem Tenor des hier vorliegenden Buches verwandt. Ich empfehle (neben dem „ceterum censeo“ hinsichtlich der Ermunterung zur wiederholten Lektüre der „Leitmotive“) das vorliegende Buch aus vollem Herzen. Der sich bei der Lektüre ergebende Blick über den eigenen Zaun war mir aufschlussreich, anregend und hilfreich.
(mit freundlicher Genehmigung aus systeme 2/2009)
Zur website von Peter Fonagy
Verlagsinformation:
Mentalisieren bezeichnet ein neues, zukunftsweisendes Konzept der Psychotherapie. In diesem Band erläutern renommierte Forscher und Praktiker erstmals die Anwendungsmöglichkeiten für etablierte Behandlungsmethoden und verschiedenste klinische Einsatzbereiche. Eine Gruppe von international führenden Experten erläutert das Konzept des Mentalisierens und gibt einen Überblick über das bisherige Wissen und die laufende Forschung. Sie zeigen Möglichkeiten (und Grenzen) der mentalisierungsgestützten Therapie auf und erläutern, wie etablierte Behandlungsmethoden, etwa die Psychoanalyse, die kognitive oder die klassische Verhaltenstherapie um die Dimension des Mentalisierens erweitert werden können. Im praktischen Teil beschreiben die Autoren die Möglichkeiten der Mentalisierungsfokussierung in der konkreten Konstellation: Familientherapie mit Kindern und Jugendlichen, auffälliges Verhalten bei Schülern (Bullying), bei Eltern von Hochrisiko-Kleinkindern, die Einsatzmöglichkeiten im stationären Bereich, bei psychoedukativen Gruppen für Patienten und ihre Familienangehörigen und in der Aus- und Weiterbildung von Therapeuten. Der mangelhaften Mentalisierungsfähigkeit nach Störungen in der Kindheit und bei Borderline-Patienten werden eigene Kapitel gewidmet. Das Handbuch wendet sich an all diejenigen, die sich für Theorie und Grundlagen der Mentalisierung und der Bindungsforschung interessieren, und an Praktiker aus dem Feld der Psychotherapie, Beratung und Betreuung.
Inhalt:
Coates, Susan W. (2009): Vorwort. S. 11-14
Allen, John G. & Peter Fonagy (2009): Einleitung. S. 15-19
Allen, John G. (2009): Mentalisieren in der Praxis. S. 23-61
Holmes, Jeremy (2009): Mentalisieren in psychoanalytischer Sicht: Was ist neu? S. 62-86
Fonagy, Peter (2009): Soziale Entwicklung unter dem Blickwinkel der Mentalisierung. S. 89-152
Sharp, Carla (2009): Mentalisierungsprobleme bei Störungen im Kindesalter. S. 153-180
Gabbard, Glen O., Lisa A. Miller & Melissa Martinez (2009): Eine neurobiologische Sichtweise des Mentalisierens und der inneren Objektbeziehungen bei traumatisierten Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung. S. 181-204
Munich, Richard L. (2009): Eine Verbindung von mentalisierungsgestützter Behandlung und herkömmlicher Psychotherapie zur Weiterentwicklung der gemeinsamen Basis und Förderung der Urheberschaft. S. 207-224
Björgvinsson, Thröstur & John Hart (2009): Kognitive Verhaltenstherapie. S. 225-243
Lewis, Lisa (2009): Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit durch das Fertigkeitentraining der dialektischen Verhaltenstherapie und durch positive Psychologie. S. 244-259
Bateman, Anthony & Peter Fonagy (2009): Mentalisieren und Borderline-Persönlichkeitsstörung. S. 263-284
Fearon, Pasco, Mary Target, John Sargent, Laurel L. Williams, Jaqueline McGregor, Efrain Bleiberg & Peter Fonagy (2009): Mentalisierungs- und beziehungsorientierte Kurzzeittherapie (SMART): eine integrative Familientherapie für Kinder und Jugendliche. S. 285-313
Williams, Laurel L., Peter Fonagy, Mary Target, Pasco Fearon, John Sargent, Efrain Bleiberg & Jaqueline McGregor (2009): Die Ausbildung von psychiatrischen Assistenzärzten in mentalisierungsgestützter Behandlung. S. 314-325
Bleiberg, Efrain (2009): Die Behandlung von Professionals in der Krise: ein mentalisierungsgestütztes spezialisiertes stationäres Programm. S. 326-346
Haslam-Hopwood, G. Tobias G., John G. Allen, April Stein & Efrain Bleiberg (2009): Verbesserung des Mentalisierens durch Psychoedukation. S. 347-372
Sadler, Lois S., Arietta Slade & Linda C. Mayes (2009): Das Baby bedenken: mentalisierungsgestützte Erziehungsberatung. S. 375-398
Twemlow, Stuart W. & Peter Fonagy (2009): Vom gewalterfüllten sozialen System zum mentalisierenden System: Ein Experiment in Schulen. S. 399-421
Stein, Helen (2009): Fördert das Mentalisieren die Resilienz? S. 422-449
Michels, Robert (2009): Epilog. S. 450-458
Über die Herausgeber:
PhD. Jon G. Allen ist Psychiatrie-Professor am Menninger Department of Psychiatry and Behavioral Sciences am Baylor College of Medicine und Psychologe an der Menninger-Klinik in Houston, Texas.
Dr. phil. Peter Fonagy, Dipl-Psych., Psychoanalytiker, ist Professor am University College, London und Forschungskoordinator am Anna Freud Centre, Hampstead/London, der traditionsreichen Stelle, die vor ihm Anna Freud und Joseph Sandler innehatten. Zudem ist er Vize-Präsident der IPV, Mitherausgeber einer Anzahl bedeutender Zeitschriften, zum Beispiel des International Journal of Psychoanalysis, des Development and Psychopathology und des Bulletin of the Menninger Clinic. Fonagy gilt als einer der weltweit führenden Köpfe der Psychotherapieforschung.
|
|
|