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04.05.2010
Konrad P. Grossmann: Ein Tagebuch langsamer Therapie. Gedanken zu Psychotherapie und Evolution
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Krammer Verlag, Wien 2009
180 S., kartoniert, mit Zeichnungen von David Lipp
Preis: 16,50 €
ISBN-10: 3901811451
ISBN-13: 978-3901811456 |
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Verlag Krammer
Andrea Brandl-Nebehay, Wien:
Konrad Grossmann ist ein gründlicher Denker, ein Systematiker unter den Systemikern, ein begnadeter Geschichtenerzähler und darüber hinaus ein äußerst fleißiger Schreiber. Zum „Fluss des Erzählens“ (2000), zu den „therapeutischen Dialogen mit Paaren“ (2002), zum Opus magnus über „Selbstwirksamkeit von Klienten“ (2005) und zu den 2007 erschienen „therapeutischen Landkarten“ gesellen sich in seinem fünften Buch diesmal also Tagebuchtexte.
Das Tagebuch als freundlicher Begleiter bei Wanderungen und Reisen und als Gefäß für dabei auftauchende Überlegungen zur neurobiologischen Fundierung von Psychotherapie. Das Tagebuch als Zeuge gewagter Quergänge zwischen Evolutionstheorie und systemischer Therapie, als Skizzenblock für integrative Therapiemodelle und als Poesiealbum, in dem berührende Therapiesequenzen festgehalten werden. Konrad Grossmann mutet uns in seinem neues Nachdenkband einige Flexibilität zu. Und lädt zu eigener Langsamkeit beim Lesen ein, falls Bedächtigkeit der LeserIn hilft, den temporeichen Gedankensprüngen in diesen Tagebuchnotizen zu folgen. (Ein Test zum survival of the fittest reader?)
Auf einer kleinen Insel vor der Küste Kroatiens werden wir in die Evolutionstheorie eingeführt, wir begegnen Charles Darwins Finken auf den Galapagos und Gregory Bateson auf seiner Spurensuche nach verbindenden evolutionären Mustern, die unterschiedlichste Phänomenbereiche der Wirklichkeit verknüpfen. Wie hat sich Leben entwickelt und diversifiziert? Eine Nacherzählung über die Evolution von Großhirn und menschlichem Bewusstsein stellt die Brücke zur Netzwerkmodellen der Neurobiologie her, wir sehen Mechanismen von Coping und Selbstregulation in neue Zusammenhänge gebettet.
In Anschluss an diesen evolutionstheoretischen Crashkurs breiten sich im zweiten Teil der Tagebücher vielfältige Überlegungen darüber aus, wie Prinzipien der Evolutionstheorie – als Theorie des Wandels gelesen – als Bezugskonzept für individuelle und interaktionelle Veränderung im Therapieprozess brauchbar sein könnten. Wie erklärt sich aus einem evolutionären Blickwinkel das Zustandekommen von Problemen und Lösungen? Welche Hinweise geben Erkenntnisse über die prägende Auswirkung früher Bindungsprozesse für eine angemessene therapeutische Haltung, und wie kann die Funktion der therapeutischen Beziehung unter diesem ko-evolutionären Blickwinkel neu verstanden werden? Geben wir Ergebnissen der jüngeren Wirk- und Prozessforschung die Chance und die Macht, vertraut gewordene Wege unseres therapeutischen Handelns und Verstehens zu verstören?
“Lay down your weary tune” – Bob Dylans poetische Antwort auf die Frage, wie sich vor dem Hintergrund eines evolutionären Verständnis von Psychotherapie hilfreiche Praxis gestalten lässt. „Therapie ist im guten Fall ein Ort, wo Menschen ihre leidvolle Geschichte erzählen können (und manchmal ist Therapie nicht mehr als das)…Wertschätzung umschreibt, dass TherapeutInnen gegebene Potenziale der Wirklichkeitsverarbeitung und -bewältigung von KlientInnen als die für sie im Moment besten Möglichkeiten verstehen. Erst vor dieser grundsätzlichen Anerkennung des Gegebenen aus ist ein kooperatives Erkunden von Alternativen sinnvoll und hilfreich.“( S.90)
Viele in die Tagebuchnotizen eingestreuten Fallvignetten und Ausschnitte aus therapeutischen Dialogen illustrieren diesen „evolutionären“ therapeutischen Zugang: Therapie als Vorgang respektvollen Erkundens, als verstehen-wollendes Nachvollziehen der jeweils individuellen Art und Weise von KlientInnen, Wirklichkeit zu selektieren und zu interpunktieren; Therapie als Wertschätzung der Veränderungsbereitschaft von Menschen in widrigen Lebensumständen.
Hier klingt das titelgebende Rahmenthema an: die therapeutische Langsamkeit. Die Bahnung von Alternativen ist ein Wandel in kleinen Schritten. Langsame Therapie meint, kleine Veränderungen seien wichtiger als große; ein Fokus, eine Leitunterscheidung pro Therapiestunde; „einen Unterschied säen und der Seele von KlientInnen bei ihrem Wachsen zuschauen“ (S. 147).
Tagebücher haben es – wie andere Werke freilich auch – in sich, vor allem über ihren Autor zu erzählen. Nicht immer fühle ich mich anschlussfähig an Konrad Grossmanns Überlegungen des Tages, erlebe mich über viele Seiten hin überfordert und der blanken Ignoranz überführt. Aber dann stoße ich auf Fallgeschichten, auf Wegzeichen, Sätze und Gedanken, die ich ob ihrer literarischen Kraft immer wieder lesen muss; ein Tagebuch zum Heulen schön.
Verlagsinformation:
Prinzipien der Evolution lassen sich mit Gregory Bateson als gemeinsames Band lesen, das unterschiedlichste Phänomenbereiche der Wirklichkeit verknüpft. Die Evolutionstheorie ist eine Theorie des Wandels: Das macht sie auch zu einer zentralen Bezugstheorie der Psychotherapie - einer Theorie, die individuelle und interaktionelle Wandlungsphänomene im Kontext bio-psycho-sozialer Problemstellungen/Störungen fokussiert. Wie erklärt sich aus einem evolutionären Blickwinkel das Zustandekommen von Problemen wie Lösungen? Welche Implikationen birgt eine evolutionäre Lesweise für die therapeutische Haltung und die Praxis systematischer Therapie? Welchen Randbedingungen und Prinzipien unterliegt ein therapeutisches Entwickeln von Lösungen? Welche Funktion und Bedeutung kommt der Therapiebeziehung unter eine ko-evolutionären Blickwinkel zu? Jenseits dieser Fragen thematisieren diese Tagebuch-Eintragungen all das was mich seit vielen Jahren bewegt: die Integration psychotherapeutischer Modellbildung und Therapiepraxis; eine neurobiologische Fundierung von Psychotherapie; die Einbeziehung von Ergebnissen therapeutischer Wirk- und Prozessforschung sowie der Bindungsforschung in therapeutische Theoriebildung; und sie erzählen von therapeutischen Begegnungen, die mein Arbeiten und leben prägen und bereichern, von Weggefährten und Wanderungen.
Inhalt:
I: Einübungen in evolutionäres Denken
Zusammentreffen Eine evolutionäre Lesweise von Therapie Durch Raum und Zeit Affektlogische Grundströmungen Bewältigungsversuche Schnittmuster sozialer Beziehungen Die Regulation des Selbst
II: Haltungen und Praktiken
Lay down your weary tune Die Anregung von Vielfalt Die Bahnung von Alternativen
III: Wegzeichen
Mehrfache Lösungspfade Langsame Therapie
IV: Wie zwei Schiffe
Mitpassagiere Both sides now Affektlogische Verwandlungen Die Verwandlung von Bewältigungsstrategien Ausklang
Über den Autor:
Konrad Peter Grossmann, Univ.Doz. Dr., Psychotherapeut, Psychologe, Lehrtherapeut für systemische Familientherapie (la:sf), Mitarbeiter der Ambulanten Systemischen Therapie/ Wien; Lehrtätigkeit an der Universität Klagenfurt und der FH für Soziale Arbeit/ Linz
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