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30.01.2010
Timo Hoyer: Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich – Ein Porträt
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Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008
623 Seiten mit 35 Abb., gebunden
Preis: 39,90 €
ISBN-10: 3525404085
ISBN-13: 978-3525404089 |
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Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:
Eigentlich wollte ich dieses hier vorgestellte Buch nur in Ruhe lesen, ohne Gedanken an eine Besprechung. Wenn ich nun doch darüber schreibe, mag das etwas aussagen darüber, dass ich dieses Buch nicht nur mit wachsendem Interesse gelesen habe, sondern es auch für ein herausragendes Beispiel dafür halte, wie über die Kernstücke unserer Profession nachgedacht werden kann anhand der Spuren, die jemand mit seinem Leben darin hinterlassen hat.
Alexander Mitscherlich also. Während meines Studiums in den 1970er Jahren sagte er mir etwas, Psychosomatik, Aggressivität, es gab einiges an Querverbindungen, die dazu führten, dass ich ihn las, gelegentlich und nicht systematisch. Wie viele Querverbindungen es hätte geben können, ist mir erst nach der Lektüre dieses Buches deutlich geworden – jetzt, wo Mitscherlich in der Versenkung verschwunden ist, und mir seine theoretischen und professionspolitischen Arbeiten eigentlich nur noch wenig sagen dürften als jemandem, der sich in systemische Perspektiven vertieft hat und aus dieser Warte argumentiert. Und doch ist es so. Womöglich mag es damit zu tun haben, dass sich die wesentlichen Dinge andere Behausungen suchen als Theorien, Schulen oder Zeitgeist. Die wesentlichen Dinge scheinen sich unter wechselnden Namen in wechselnden Zusammenhängen quasi inkognito zu bewegen. Mitscherlich gibt als Person vielen dieser wichtigen Dinge eine Adresse – und scheint doch ebenso wenig frei gewesen zu sein wie andere, diese wesentlichen Dinge immer mit seiner Person in Deckung zu bringen. Als Person muss er anstrengend gewesen sein, da findet sich Grandioses ebenso wie gelegentlich larmoyant oder selbstgerecht Klingendes.
Timo Hoyer hat, das will ich sagen, mit diesem Buch ein großartiges Werk zur Verfügung gestellt. „Alexander Mitscherlich zu porträtieren bedeutet, ihn in Aktion zu zeigen:“, schreibt er im Prolog, „im gesellschaftlichen Spannungsfeld, bei der Netzwerkarbeit, im Denk-, Lern- und Schreibprozess; es bedeutet, seine Entwicklungen zu verfolgen, seine Erfahrungen zu beschreiben, und ihn sowohl als Subjekt wie als Objekt kultureller Wirkungen in den Blick zu nehmen. Das ist ein Porträt an der Grenze zur intellektuellen Biographie, ein biographisches Porträt, in dem sich die Epoche spiegelt, und kein psychologisches“ (S.12). Das klingt nach vollmundig, ist es aber nicht, sondern skizziert, was Hoyer tatsächlich gelingt. Mitscherlichs Weg wird in seiner Dynamik ebenso deutlich wie in seiner Widersprüchlichkeit, in seiner Brillanz ebenso wie in seiner manchmal geradezu taktiererischen Doppelbödigkeit. Und doch wird ein Ganzes daraus, mit einem starken Eindruck von dem Preis, den es kostet, gelebte Vielfalt immer wieder in eine Art Urstromtal zu lenken, dem eine Vorstellung von Kohärenz und Richtung entspricht.
Es mag skurril wirken, wenn man sich Mitscherlichs frühe Schwärmereien für nationalkonservative Ideen vergegenwärtigt und sie als Gegenbild zum späteren Profil aufsetzt, dem Mitglied der humanistischen Union, dem Frontmann einer gesellschaftskritischen und emanzipatorischen Sozialpsychologie, deren aufklärerische Basis in einer konsequenten Übersetzung der Psychoanalyse in praktisches Mitgefühl und „Compassion“ bestand. Wie Hoyer diese Dynamik in Worte fasst, sortiert, nachvollziehbar macht und Wegstränge und Bedeutungsknäuel entwirrt, ist beeindruckend und korrespondiert auch in seiner sprachlichen Umsetzung Mitscherlichs literarischen Qualitäten (wobei Mitscherlich den Preis dieser Qualität durchaus zwiespältig erlebt zu haben scheint: das eine anstelle einer Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistung erlebt). Mitscherlichs Wirken in der Kürze einer Rezension zu skizzieren, ist nicht möglich. Stichworte: der „Berichterstatter des Bösen“ (die Dokumentation der Nürnberger Prozesse gegen NS-Ärzte) und der Kämpfer gegen Relativierung und Vergessen, der unermüdliche Gründer (die Zeitschrift „Psyche“, die Klinik für psychosomatische Medizin in Heidelberg, das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt), der stete Austausch mit Philosophen, Denkern und Frontleuten der internationalen Psychoanalyse, der Organisator internationaler Kongresse, der Pate des Wiederauflebens der Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland, der gefragte Kommentator und Mitbeweger des gesellschaftlichen Wandels in den 1960er Jahren.
Mitscherlich scheint den Typus verkörpert zu haben, der in der Lage ist, sowohl zu strukturieren, zu organisieren, zu politisieren, als auch seine ideellen Wurzeln nicht zu verleugnen. Seine zunächst widersprüchlich erscheinende Entscheidung für die pure Freudianische Version der Psychoanalyse wird verstehbar als Bekenntnis zur emanzipatorischen Aufgabe unserer Profession, zum Beispiel. Letztlich scheint mir, dass ein solch umfassendes Gebilde, wie das von Mitscherlich erdachte und erarbeitete, nur von seinem Autor zusammengehalten werden kann. Die Nachwelt verfolgt es in Stücken, anders scheint es kaum möglich. Die Dynamik des Werks in seinem Gesamten hat doch schon seinen Autor immer wieder über die Maßen beansprucht, und die Erfahrungen mit der Umsetzung in die Praxis scheinen Mitscherlich oft genug niedergeschlagen zu haben. Zumindest hinsichtlich seiner fachlichen Ambitionen. Ein Kapitel eigener Art ist die Diskrepanz zwischen Mitscherlichs engagierter und einfühlsamer Analyse familiärer Dynamiken und Notwendigkeiten und seinem eigenen Wirken als Vater und Ehemann, beides mehrfach. Hoyer erspart den LeserInnen am Ende nicht eine Skizze der Bitterkeit, die aus manchen Äußerungen von Familienangehörigen spricht. Mitscherlich selbst deutet da nur an, hält sich bedeckt, doch das offenbar Gewordene scheint tragisch genug.
Hoyer gelingt ein wunderbares Porträt. Er unterlässt jeglichen Versuch, einem „ohnehin fragwürdigen Attribut der Größe“ zu frönen. Und dennoch gelingt ihm eine Würdigung dieses für Nachkriegsdeutschland so – ja – notwendigen Menschen, dass klar wird, wie außerordentlich sein Wirken war.
Und manchmal habe ich beim Lesen das Wort „psychoanalytisch“ durch „systemisch“ ersetzt – und siehe da, die Schlachten von damals scheinen in neuem Gewand geschlagen zu werden, man glaubt es kaum. Beim Lesen dachte ich, wieviel Kraft es kostet, immer wieder von Neuem zu beginnen, dem Wirken des Bestehenden das Wirken des noch Vorgedachten zur Seite zur Stellen, beim Verzweifeln die „zwei“ nicht zu vergessen und daraus Spielraum zu gewinnen, also weiterzumachen, und wie notwendig das ist. Ich denke, solche Lektüre wäre sinnvoll und notwendig auch im systemischen Terrain – die Bezüge sind keine direkten, aber indirekt ungemein.
(mit freundlicher Genehmigung aus systhema 3/2009)
Zur website des Autors Timo Hoyer
Bei einer so großen aufsehenerregenden Publikation ist das Medienecho erheblich. Hier eine Reihe weiterer Rezension von Tobias Freimüller für H.Soz.u.Kult , von Ludger Lütgehaus in der NZZ, von Hans-Martin Lohmann in der FR, von Christian Schneider in der SZ, von Inge Breuer im Deutschlandfunk, von Micha Brumlik in der Zeit und von Caroline Fetscher im Tagesspiegel.
Verlagsinformation:
Alexander Mitscherlich, der im September 2008 hundert Jahre alt geworden wäre, gehörte zu den markantesten Persönlichkeiten, die der geistigen Physiognomie der Bonner Republik ihren Stempel aufgedrückt haben. Als Mediziner und Wissenschaftler trug er entscheidend dazu bei, die Psychosomatik und die Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland institutionell zu verankern. Als Publizist traf er nach dem Ende der Adenauer-Ära mit seinen Bestsellern »Medizin ohne Menschlichkeit«, »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft«, »Die Unwirtlichkeit unserer Städte« und »Die Unfähigkeit zu trauern« neuralgische Punkte. Und als öffentlicher Intellektueller entwickelte er sich aus dem antidemokratischen Milieu der Weimarer Republik heraus zu einem streitbaren Demokraten, der mit Leidenschaft zu den brennenden Problemen der Zeit Stellung bezog. Timo Hoyer verfolgt den Werdegang von Deutschlands bekanntestem Psychoanalytiker von der Kindheit an bis zu dessen Tod 1982. Das Porträt von Mitscherlichs intellektueller Entwicklung, seines wissenschaftlichen Wirkens und seines gesellschaftlichen Engagements ist zugleich das Porträt einer Epoche. Zahlreiche erstmals veröffentlichte Quellen und Abbildungen machen diese Biographie einzigartig.
Inhalt:
1. Engagement und Wissenschaft
2. Wege zur Humanität
3. Bildungsprozesse
4. Im Schatten des Hakenkreuzes
5. Ablösung von den Ersatzvätern
6. Nachkriegsjahre
7. Gründungsgeschichten I–III
8. Aufbau der Bonner Republik
9. Berichterstatter des Bösen
10. Im Zenit
11. Schlusspunkte
Über den Autor:
Priv.-Doz. Dr. phil. Timo Hoyer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main.
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