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20.03.2009
Felix Tretter: Ökologie der Person. Perspektiven einer Systemphilosophie und ökologisch-systemischen Anthropologie
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Pabst Science Publishers, Lengerich 2008
269 S., broschiert
Preis: 25,00 €
ISBN-10: 3899674324
ISBN-13: 978-3899674323 |
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Pabst-Verlag
Wolfgang Loth, Bergisch-Gladbach:
„Wider die maßlose Komplexitätsreduktion“ – dieses Motto stellt Felix Tretter seinem neuen Buch voran. Angesichts der zunehmend aufs Pragmatische ausgerichteten Neigung unserer Profession und angesichts eines Weges, der auf ihre Anpassung an ökonomistisch formulierte Sach-, Handlungs- oder Denkzwänge hinauszulaufen scheint, ist das ein notwendiges Signal, unter Umständen sogar ein ermutigendes. Es könnte jedoch von Vorteil sein, das aufrechte Anfechten von Simplifizierungstendenzen nicht mit einem Spaziergang zu verwechseln. Das vorliegende Buch ist dafür ein gutes Beispiel – im doppelten Wortsinn. Es ist ein gutes Beispiel, weil es redlich und klug das Aufzeigen der Komplexität der Aufgabe bewerkstelligt. Und es ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass dies Mühe macht.
Tretter ist ein in den Mühen dieser Aufgabe bewanderter Gewährsmann. Wer sich von ihm ein Stück des Weges mitnehmen lässt, lernt einen Autor kennen, dem kein Detail zu unwichtig, dem keine Querverbindung zu anstrengend, und dem keine Perspektive zu weitgehend erscheint. Furchtlos, so scheint es, nimmt er die Aufgabe an. Als LeserIn, so scheint es mir auch, braucht man jedoch eine gewisse Gelassenheit, um sich nicht verschrecken zu lassen. Tretter surft ungemein belesen, erfahren, neugierig, kreativ und kraftvoll durch die Fülle des von ihm in Jahrzehnten aufgebauten Wissensraums, dass ich nur staunen kann. Nicht immer konnte ich als Leser so schnell folgen, wie es die gelegentlich kürzelartigen Andeutungen erforderten. Tretter selbst spricht von dem vorliegenden Buch als einer „Skizze von zukünftigen Arbeiten“. Er fasst zusammen: „Das Entscheidende dieses Textes ist das Ziel, einen Weg zu einer philosophischen Anthropologie zu finden, die eine ökosystemische Orientierung aufweist und außerdem wichtige Erkenntnisse der modernen empirischen Humanwissenschaften integrativ einzubinden erlaubt. Angesichts dieser komplexen Aufgabe ist letztlich zu betonen, dass dieser Text eher eine Skizze von zukünftigen Arbeiten ist,“ – und Tretter fügt hinzu: „für den Fall, dass Interesse besteht, eine zeitgemäße Anthropologie und ein entsprechendes Menschenbild zu konstruieren“ (S.17). Es bleibt für mich offen, wessen Interesse der Autor hier meint. Ich nehme an, zunächst einmal meint er die wissenschaftlich fundierten und beschäftigten KollegInnen. Da könnten die üblichen Eifersüchteleien und Claimabsteckereien ein Hindernis darstellen. Auf Interesse dürfte Tretter dagegen im Prinzip bei PraktikerInnen stoßen, die über den Tellerrand von institutionellen, schulischen oder anderweitigen Begrenzungen schauen möchten. Doch hier scheint mir das Hindernis zu sein, dass Tretter – ehrlich und folgerichtig - keine Zugeständnisse an werbepsychologisch untermauerte Publikumsfängerei macht. Auch hier gilt: Keine Effekthascherei um den Preis vorschneller Komplexitätsreduktion. Vielleicht ist es auch keine Entscheidung gewesen, das so zu machen, sondern Ausdruck der Dynamik eines Allroundgenies - Tretter ist dreifach promoviert, ist Nervenarzt, Klinischer Psychologe und Chefarzt der Suchtabteilung in Haar, auch im nichtfachlichen Bereich vielseitig interessiert und offensichtlich „schon immer“ ein neugieriger, kreativer und freier Geist. Er kann auch außerhalb der Fachmedien einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen (1).
Es würde mir vermutlich schwer fallen, dieses Buch inhaltlich überschaubar zu skizzieren. Doch kann ich auf Tretters eigene Zusammenfassung verweisen (S.12-17), in der er die Hauptthesen und Überlegungen dieses Buches umreißt. Für mich nachvollziehbar ist Tretters Kritik am „Reduktionismus der Wissenschaften“, genauer: an der Wandlung von Reduktion vom Hilfsmittel zum Ziel. „Die systemische Perspektive“ (allerdings m.E. im Singular selbst eine Reduktion) wird im zweiten Kapitel als Alternative vorgestellt und in fachübergreifenden, interdisziplinären Bezügen diskutiert. Ein Hauptanliegen Tretters ist, wie ich es verstehe, der trivialisierenden Instrumentalisierung von Ideen entgegenzuwirken – auch der des systemischen Denkens. Tretter schlägt in diesem Sinne vor, systemische Perspektiven zu rahmen als Systemphilosophie „mit dem Fokus auf eine systemische Anthropologie“. Das ziele „auf die Anwendbarkeit eines ganzheitlichen Menschenbildes im klinischen Kontext“ und begründe sich auch in diesem Bereich (S.15). Praktisch bedeutet das u.a., „die typischen Methoden jenseits ihrer technischen Details herauszuarbeiten“ (S.14).
Tretter zieht Befunde und Überlegungen aus einem breiten Forschungsspektrum heran, molekularbiologische, neurobiologische, soziologische, psychologische, philosophische. Er verknüpft, kritisiert profund, fügt in Richtung systemischer Modellbildung zusammen, dass es staunen macht. Für Tretter verbergen sich hinter den Kürzeln und manchmal beinahe aphoristischen Andeutungen vermutlich Welten, als Leser bin ich jedoch gelegentlich etwas verstört, etwa wenn ich unter der spannenden, weil nahe liegenden Überschrift „Die systemische Perspektive – zu abstrakt für das Konkrete“ eine halbe Seite Text finde, die mich nicht weiterbringt.
Auch wirkt es für mich etwas irritierend, wenn eine Überschrift als „Fazit zur Psychologie“ eine Richtung „auf dem Weg zur systemischen Perspektive“ konstatiert (S.159f.), doch die zur Verfügung stehende halbe Seite letztlich nur „das Erfordernis“ ableitet, sich an der Systemtheorie zu orientieren. Schade, da hätte ich mir mehr und Substanzielleres gewünscht. Allerdings scheint es mir beim Lesen manchmal so, als ob Tretter – gewollt oder ungewollt – eine Verdichtung von Koans zuwege gebracht hat. Das Motto, der Simplifizierung des Lebendigen entgegenzutreten, wird verknüpft mit wunderbar eingängigen Überschriften, Aphorismen, Bonmots, die auf den Punkt bringen (also vereinfachen), die neugierig machen – und dann ein Textstück anleiten, das aus sich selbst heraus diese Neugierde nicht wirklich befriedigt, deren Erfüllung zwar andeutet, doch manchmal sogar eher spröde zurückweist, so dass es wieder offen wird – wenn man sich nicht abschrecken lässt von der Komplexität der Aufgabe.
Die das Buch kennzeichnende Thematik der „Ökologie der Person“ wird im fünften Kapitel abgehandelt, ergänzt um zwei weitere Kapitel, ein längeres zur spezifischen „Ökologie des Jugendlichen“ und ein kurzes zur Ökologie älterer Menschen. Auch hier finde ich für mich mehr Startschüsse als ruhig entwickelte Schlussfolgerungen, eher eine hyperkomplexe Struktur von Wechselwirkungen und Kontextualisierungen als Wegweiser im Umgang mit nicht-trivialen Konstellationen. Und wenn dann einerseits „Person“ in seiner „allgemeinen Bedeutung“ verwendet wird „im Sinne von Mensch“ (S.199), jedoch der Begriff „Beziehung“ als „jenseits des Alltagsverständnisses“ (S.202), denke ich, dass da (einige) systemische Diskussionen schon konsistenter argumentiert haben.
Dennoch: Auch wenn Tretters Buch sich im allgemeinen Praxisdiskurs vielleicht schwer tun dürfte: für wichtig halte ich das schon, was der Autor da anstößt. Nur käme ich „aus systemischer Sicht“ vielleicht zu einer etwas anderen Herangehensweise an Komplexität. Um es in einem Bild auszudrücken: Wenn man sich Tretters Ausarbeitungen und Ideen als eine Sammlung vorstellt, die Besucher anlocken möchte: wie wäre es, wenn die Besucher mit Tretter zusammen nachvollziehen könnten, wie sie Komplexität wahrnehmen, zu welchen Befürchtungen und Verlockungen sie darüber gelangen, und zu welchen Hilfsmitteln sie greifen, um sich und das Erfahrene zu sammeln, so dass die „Sammlung“ am jeweiligen Ende eine Andeutung der Fülle verspricht, von der mehr zu erfassen ein Inter-esse wäre, ein aufmerksames Miteinander-Sein („für den Fall, dass Interesse besteht“, ... s.o.) , na ja – nachdenkliches Grübeln eines Besuchers nach Verlassen einer beeindruckenden Ausstellung. Und ja: Trotzdem dranbleiben!
Anmerkungen:
(1) So etwa in einem Bericht über ihn in der ZEIT
(Überarbeite Fassung einer Rezension in: Systhema 22(3), 2008)
Verlagsinformation:
Ein ökosystemisches Menschenbild ist eine Weiterentwicklung des dreidimensionalen „biopsychosozialen“ Menschenbildes und – im klinischen Kontext bedeutsam – eines dreidimensionalen Krankheitsbildes. Es betont den ökosystemischen Aspekt des „Umwelt-Beziehungs-Haushalts“ des Menschen und ist so ein Gegenentwurf zu den überhand nehmenden reduktionistischen und eindimensionalen Menschenbildern, die einzelne Disziplinen wie die Biologie, die Psychologie, die Soziologie oder die Ökonomie propagieren.
Steuerungsfaktoren menschlichen Verhaltens sind nicht nur die „egoistischen“ Gene, das Gehirn, die soziale Lage, der monetäre Nutzen oder die physische Umwelt alleine, sondern das Zusammenspiel all dieser und anderer Faktoren.
Es wird gezeigt, dass die wissenschaftliche Rationalität derartiger Ansätze sowohl empirisch wie auch theoretisch begrenzter ist, als es ihre Protagonisten behaupten. Darüber hinaus ist es in Arbeitsfeldern mit Menschen, wie beispielsweise im klinischen Bereich, nicht sinnvoll, die Komplexität des Gefüges all dieser Wirkfaktoren konzeptuell zu reduzieren, sondern es ist nötig, einen wenigstens dreidimensionalen biopsychosozialen Betrachtungsrahmen zu bewahren, um der Individualität und Subjektivität der einzelnen Menschen gerecht werden zu können. Die Verbindungen zwischen den Dimensionen „Bio“, „Psycho“, und „Sozial“ sind „zirkulär“. Diese Zirkularität von Kausalketten erfordert es, die modernen (naturwissenschaftlichen) Theorien der Komplexität und der nichtlinearen Dynamik in einen anthropologischen Rahmen einzubeziehen. Ein Konzept, das den konkreten Menschen als Produkt seiner bisherigen Person-Umwelt-Interaktionen wahrnimmt, ist realistischer als personologische Konzepte oder Umwelt-Determinismen.
Neben einer solchen „ökologischen“ Perspektive soll verdeutlicht werden, dass das systemische Denken die Antwort auf die intellektuelle Herausforderung bietet, Komplexität und Entwicklung in einem Denkansatz zu verbinden. Dazu werden wichtige Arbeitsergebnisse systemischen Denkens in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte herangezogen und vor allem die Methode des systemischen Denkens vorangestellt. Hinzu kommt die ausdrückliche Einbindung konkreter Umweltbereiche, um das Sosein und das Dasein der Menschen, vor allem im klinischen Kontext, besser zu verstehen.
Inhalt:
1. Das Weltbild des Reduktionismus der Wissenschaften
1.1 Der Reduktionismus als methodologisches Programm der Wissenschaften 1.2 Theorie, Empirie und Praxis - nichts ist praktischer als eine gute Theorie 1.3 Gleiches und Ungleiches - Homogenität und Heterogenität 1.4 Identität, Äquivalenz, Ähnlichkeit und Invarianz - ist alles gleich? 1.5 Kausalität: Konditionalität, Determinismus und Probabilismus - wie wirksam sind „Ursachen“? 1.6 Multikonditionalität - eine Ursache kommt selten allein 1.7 Empirie impliziert Statistik - eine Schwalbe macht noch keinen Sommer 1.8 Erklärung und Prognose - hinterher ist man immer klüger 1.9 Der determinierte Mensch - vom Westen nichts Neues 1.10 Fazit - der Determinismus ist limitiert
2. Die systemische Perspektive - die Alternative zum Reduktionismus
2.1 Indeterminismus, Zufall und Chaos - „nix is g'wiss“! 2.2 Zufall und Notwendigkeit - Determination mit Unbekannten? 2.3 Komplexitäts-Problem von Multi-Komponenten-Systemen - wer hat den Überblick? 2.4 Komplexität des Genoms - wer kennt den Plan der Evolution? 2.5 Komplexität des Gehirns - Basis des Bewusstseins? 2.6 Komplexe Ordnung komplexer Strukturen - undurchschaubar? 2.7 Komplexes Verhalten - Chaotische Verläufe 2.8 Mathematik als Wissenschaft universeller Ordnung? 2.9 Die Regulation von Prozessen und das „Geistige“ 2,10 Fazit - systemisches Denken ist der Umgang mit Komplexität
3. Systemphilosophie
3.1 Was ist ein System? - Systemisch Wahrnehmen 3.2 Systemisches Denken - der Fokus im Zusammenhang 3.3 Kybernetik - Erforschung und Gestaltung von Regelsystemen 3.4 Systemtheorie - Wissenschaft der Wirkungsgefüge 3.5 Grundriss einer Systemphilosophie - ganzheitsorientierte Reflexion 3.6 Spezialisierungen der Systemphilosophie - eine Systematik 3.7 System ische Erkenntnistheorie - Systeme erkennen Systeme 3.8 Systemische Wissenschaftsphilosophie 3.9 Fazit zur Systemphilosophie - eine Vielfalt an neuen Perspektiven
4. Reduktionismus und Eindimensionalität wissenschaftlicher Menschenbilder - Defizite der „praktischen Anthropologie“
4.1 Menschenbilder und Anthropologie - Bezug zur Lebenswelt? 4.2 Homo biologicus - die „naturwissenschaftliche“ Sicht vom Menschen 4.3 Homo neurobiologicus 4.4 Psychologie - die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten 4.5 Homo sociologicus 4.6 Homo oeconomicus 4.7 Fazit
5. Ökologie der Person - die ökosystemische Perspektive
5.1 Biopsychosoziales Menschenbild - mehrdimensionale Anthropologie 5.2 Ansätze zu einer „ökologischen Anthropologie“ - Bausteine und Basis 5.3 Humanökologie - fachliche Grundlage einer „Ökologie der Person“ 5.4 Grundlegende Begriffe der Indidivualökologie 5.5 Teilmodelle einer „Ökologie der Person“ 5.5 Die „Ökologie von Gesundheit und Krankheit“ 5.6 Die Ökologie der Familie als mikrosozialökologische Perspektive - gemeinsames Haushalten 5.7 Das Makrosystem 5.8 Fazit - Lebenswelt des Menschen als Ökosystem
6. Spezielle Ökologie der Person - die Ökologie des Jugendlichen
6.1 Jugendforschung - Soziologie oder Ökologie? 6.2 Grundsituation - Entwicklung im Kontext 6.3 Multioptionalität der Umwelt - hohe Komplexitätsdifferenz zum Indiviuuum 6.4 Umwelt „Familie“ - zur Ambivalenz zwischen Autonomie und Geborgenheit 6.5 Umwelt „Schule“ - Trainingsmilieufür die Arbeitswelt 6.6 Freizeitsettings 6.7 Fazit - Lebenswelt Jugendlicher als Ökosystem
7. Die Ökologie des älteren Menschen
7.1 Fazit - Lebenswelt älterer Menschen als Ökosystem
8. Grenzfragen der Anthropologie |
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