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31.07.2008
Claudia Roggensack: Mythos ADHS. Konstruktion einer Krankheit durch monodisziplinäre Gesundheitsforschung
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Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2006
256 S., kartoniert
Preis: 24,95 €
ISBN-10: 3896703625
ISBN-13: 978-3896703620 |
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Carl-Auer-Verlag
Ursel Winkler, Wettenberg:
Es gibt bereits eine Flut von ADHS-Büchern und eine ansteigende, auf Hilflosigkeit von Eltern und Fachpersonal gründende Nachfrage nach „Lösungs“-Büchern, wie mit diesem Phänomen umzugehen sei. Insofern stellt sich für mich zuallererst die Frage, was denn dieses Buch nun Besonderes zu diesem Thema beizutragen vermag. Und es gibt da gleich mehrere Gründe, warum ich dieses Buch empfehlen möchte:
In erster Linie gefällt mir die konsequente Sachlichkeit der Darstellung auch von den als absurd demaskierten theoretischen Konstrukten und Interventionsansätzen von Verhaltenstherapie und medikamentöser Therapie. Die in der Diskussion um Medizinisierung auffälligen Verhaltens so oft anzutreffende unerquickliche Polemisierung fehlt gänzlich, statt dessen zeichnet sich die vorliegende Auseinandersetzung durch ausgesprochen sorgfältig recherchierte, gut durchdachte und nachvollziehbare Argumentationslinien aus.
Erklärtes Ziel der aus dem pädagogischen Kontext stammenden Autorin ist es, den aktuellen Diskurs über das ADHS-Phänomen mit Blick auf die zugrunde liegende Wirklichkeitskonstruktionen zu beleuchten und einen alternativen Zugang anzubieten, der eine entwicklungsförderliche Bewertung des als auffällig definierten Verhaltens ermöglicht. Inhalt des ersten Teils ist die Aufbereitung des bisher häufig vorherrschenden Verständnisses von ADHS auf der Basis eindimensionaler Erklärungsmodelle, die auf einer kartesianischen Leib-Seele-Trennung beruhen und durch eine medizinische Defizitorientierung gekennzeichnet sind. Die sehr theoretischen Ausführungen zu den Erkenntnispositionen des Konstruktivismus im zweiten Teil geben einen Einblick in die Komplexität dieses Themas, im Unterschied zum ersten Teil des Buches wirken sie allerdings eher abgehoben und zusammenhanglos. Der im letzten Teil unternommene Versuch, auffälliges Verhalten auf systemtheoretisch-konstruktivistischer Basis neu zu betrachten, beschränkt sich leider weitgehend auf eine Kritik der bisherigen Theorien und Therapieansätze - eine Kritik, die jedoch ausgesprochen gelungen ist und die Entlarvung von ADHS als Mythos noch einmal wie folgt auf den Punkt bringt: „Ist aber einmal abweichendes Verhalten generell zur Krankheit stilisiert worden, so wird man unschwer aller Orten auf diese Krankheit stoßen. Daher erklärt sich auch die epidemieartige Verbreitung von AD(H)S, wobei hier offensichtlich nicht ein Bakterium oder ein Virus der Überträger der Krankheit ist, sondern die medial konstruierte Wirklichkeit für eine rasante Verbreitung sorgt. Mithin handelt es sich insofern um einen modernen ‚Mythos’“ (S. 220).
Generell ist dieses Buch eher für Fachpersonal in medizinischen, schulischen, außerschulischen pädagogischen und psychologischen Arbeitsfeldern und weniger für Laien oder „konkrete-Lösungen-Suchende“ geeignet. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, was die Leserinnen und Leser, die sich zu diesem alternativen Verständnis von ADHS (wieder neu) inspirieren lassen, für die konkrete Umsetzung in ihren Handlungsfeldern entwickeln werden.
(mit freundlicher Erlaubnis aus systhema 1/2007)
Verlagsinformation:
Die Autorin zeigt am Phänomen AD(H)S auf, wie eine lineare biologisch-medizinische Erklärung zunächst dazu führt, ein Krankheitsbild zu konstruieren, das dann als Begründung für die Verabreichung von Psychopharmaka an Kinder herangezogen werden kann. Die hohe gesellschaftliche Toleranz gegenüber dieser Behandlung von Kindern ist geschichtlich beispiellos. Darüber hinaus macht sie darauf aufmerksam, dass durch diese Perspektive eine Betrachtung und Analyse des Verhaltens von Kindern in einer gänzlich veränderten Welt verhindert wird. Sie entwickelt ein alternatives Verstehensmodell, das das vielschichtige Bedingungsgefüge unmittelbar mit einbezieht. So sind auch individuelle Erfahrungen und Lebensgeschichten von Kindern immer in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu sehen. Bei Erwachsenen werden "Hyperaktivität" und Multi-Tasking-Fähigkeiten heutzutage positiv gewertet. Warum nicht auch bei Kindern? Insgesamt ein engagiertes Plädoyer für die Überwindung der medizinischen Defizitorientierung auf dem Weg zu einer pädagogischen, insbesondere schulischen Handlungsorientierung.
Inhalt:
Einleitung 5
1 Forschungsgegenstand "AD(H)S" 9
1.1 Das AD(H)S-Konzept im wissenschaftlichen Diskurs. 9
1.2 Das AD(H)S-Konzept im gesellschaftlichen Kontext. 16
1.3 Skizzierung einer Forschungsperspektive, die AD(H)S als biochemische Stoffwechselstörung ausweist. 40
2 Das AD(H)S-Konzept: Theoretische Verankerung in der traditionell kartesianischen "Leib-Seele-Betrachtung" 64
2.1 Skizzierung der kartesianischen Leib-Seele-Dichotomie. 64
2.2 Auswirkungen der Körper-Geist-Trennung auf die Betrachtung von "auffälligem Verhalten" in verschiedenen Wissenschaftsbereichen. 72
2.3 Monodisziplinäre Betrachtungsweise: Lineare Ursache-Wirkungs-Annahmen reduzieren Komplexität. 101
3 Therapien bei AD(H)S in der Tradition des kartesianischen Paradigmas 105
3.1 Lerntherapie und Implikationen einer Reiz-Reaktionsannahme. 105
3.2 Syndromvorstellungen und "multimodale Therapie". 107
3.3 Medikamentöse Therapie mittels Psychopharmaka. 109
3.4 Auswirkungen der kartesianischen Forschungsperspektive auf die Therapie/Behandlung. 122
4 Epistemologische Erkenntnisposition des Konstruktivismus 126
4.1 Skizzierung historischer Wurzeln aus unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten. 126
4.2 Systemtheorie und Kybernetik. 129
4.3 Konstruktivistische Grundannahmen: Wahrheit/Wirklichkeit und "Viabilität". 134
4.4 Das Paradigma der Selbstorganisation. 137
5 Systemisch-konstruktivistische Bewertung von Verhaltensformen 143
5.1 Kybernetisches Modell der Erfahrungsbildung/Konstruktion von "Erfahrungswirklichkeit". 143
5.2 Bewertung von Verhaltensformen des Individuums - ein Interaktionsvorgang. 148
5.3 "Soziale Systeme" im Konstruktivismus. 152
6 Neubetrachtung von "auffalligem" Verhalten 164
6.1 Dekodierung des "Störungsphänomens AD(H)S". 164
6.2 Störungsbild "AD(H)S" - Kritik der Theorie- und Therapiekonzepte. 172
6.3 Auf dem Weg zu einer systemtheoretischen Handlungsorientierung bei "auffälligem" Verhalten. 199
6.4 Systemtheoretische Handlungsorientierung im Hinblick auf Schule. 208
7 Schlussbetrachtung: Mythos AD(H)S - Eine Legendenbildung im gesellschaftlichen Kontext 217
Vorwort:
Auffälliges und störendes Verhalten von Kindern wird in den letzten Jahren zunehmend in den Medien und auch im erziehungswissenschaftlichen Kontext diskutiert. Mit der Pluralisierung und Individualisierung von Lebensformen in der Gesellschaft, die im Zeichen der Moderne1 stehen, rücken neue Fragen in das Zentrum erziehungswissenschaftlicher Analysen. Aktuelle Debatten, wie jene über die Ergebnisse der PISA-Studien, über den Wandel der Familien und die Auswirkungen der Informationstechnologien weisen auf das brüchig gewordene Modell der Normalbiographie im Kontext von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter hin. Sozialwissenschaftliche Forschungen beschreiben den Wandel einer Traditionsgesellschaft zu einer Informationsgesellschaft (vgl. FERRO/JEANMET, 2001), das Leben in einer Risikogesellschaft (vgl. BECK, 2003; GIDDENS 2001), den Werteverfall in der Gesellschaft (vgl. VON HENTIG, 2001, 2002), eine Gesellschaft unter Erosionsbedingungen (vgl. NEGT, 1999) und gar das Ende der Erziehung (POSTMAN, 1996).
Dies ist nur eine Auswahl von Anhaltspunkten, die in der Auseinandersetzung um eine Erziehungsneuorientierung diskutiert werden. Die Ergebnisse der Bildungsstudie im Jahr 2000 (Deutsches PISA-Konsortium, 2001) zogen eine intensive öffentliche Erörterung nach sich: Neben gravierenden Differenzen in den Informationsverarbeitungskompetenzen zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Schülern und dem geringeren naturwissenschaftlichen Verständnis deutscher Schülerinnen gegenüber demjenigen von Schülerinnen aus anderen Industrienationen erregen besonders die Ergebnisse hinsichtlich des sozialen Faktors Aufmerksamkeit. Gerade in Deutschland ist der Kompetenzerwerb der Kinder eng gekoppelt mit der sozialen Lage der Herkunftsfamilien.
Nachgewiesen wurde, dass schulische Ausbildungsstätten in der Bundesrepublik Deutschland nicht in der Lage sind, diese negativen Auswirkungen der sozialen Herkunft einzuschränken. Die vollzogenen Fördermaßnahmen haben die Schüler nicht so "befördert", wie dies anderen Industrienationen nachweislich gelungen ist.
Politische Entscheidungsträger fordern bundesländerübergreifende Prüfungen, die mehr Leistungsverhalten auf Seiten der Schülerinnen auslösen sollen. Auch die professionellen Erzieher und Lehrer und ihre methodischdidaktischen Fähigkeiten gerieten in die Kritik. Stellvertretend erfolgt hier die Zurückweisung der Kritik von den entsprechenden Interessenvertretungen. Diese machen das Leistungsversagen deutscher Schülerinnen an allgemeinen gesellschaftlichen Phänomenen und Missständen fest. Die Institution "Schule" habe wegen der gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit zunehmend eine kompensatorische Funktion zu erfüllen und erhalte dafür keine strukturelle Unterstützung. Die Schule werde mit Aufgaben überfrachtet. Weiterhin wird auf die unzureichende häusliche Erziehung verwiesen. Unter den schwierigen Rahmenbedingungen, wie überfüllte Klassen, finanzielle Unterversorgung der Schulen einerseits und den gravierenden Disziplinprobleme andererseits, sei die Institution "Schule" hoffnungslos überfordert. Die Unzufriedenheit wächst und findet in den Medien ihre Resonanz.
In diesem Zusammenhang findet auch das hier vorgestellte Phänomen "Aufmerksamkeitsdefizit mit und ohne Hyperaktivität (AD(H)S)" seine Einordnung. Denn die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit steht in engem Zusammenhang mit der Leistungsfähigkeit der Kinder.
Ziel dieser Arbeit ist es, den aktuellen Diskurs über das AD(H)S Phänomen darzulegen und mittels einer mehlperspektivischen Zusammenschau, unter Einbeziehung systemisch-konstruktivistischer Konzepte, die bislang vorgenommenen Wirklichkeitskonstruktionen zunächst zu "dekonstruieren". Darauf folgend sollen alternative, hilfreiche Konstruktionen aufgestellt werden, die zusätzliche, entwicklungsfördernde Bewertungen und Handlungsoptionen bei "störendem Verhalten" im pädagogischen Bereich implizieren.
Im ersten Hauptteil der Arbeit (Fofschungsgegenstand AD(H)S) werde ich zunächst Bezug nehmen auf den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs, um dann mich mit einem historischen Exkurs über das "Zappelphilipp-Phänomen" dem Untersuchungsgegenstand zu nähern.
Anschließend erfolgt eine Darlegung des gesellschaftlichen Kontextes, in dem sich der Untersuchungsgegenstand zeigt. Schwerpunkt der Betrachtung werden diejenigen Veränderungen sein, die die gesellschaftlichen Bedingungen der letzten Jahrzehnte bestimmen und damit auch zu einem Wandel in der Erfahrungsbildung von Kindern und Jugendlichen beitragen.
Im Anschluss daran wird das aktuell favorisierte Konzept, das "AD(H)S als Folge einer Stoffwechselstörung" darstellt, betrachtet.
Der zweite Teil der Arbeit lautet: Das AD(H)S-Konzept: Theoretische Verankerung in der traditionell kartesianischen "Leib-Seele-Betrachtung". Ein besonderer Schwerpunkt ist hier die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kausalitätsvermutungen im Hinblick auf AD(H)S. Die jeweiligen ätiologischen Hypothesen belegen eine Betrachtung unter dem Einfluss des kartesianischen Paradigmas. Die daraus resultierende Gegenüberstellung von physischen und psychischen "Gegebenheiten" lässt sich im Hinblick auf das AD(H)S-Konzept und seine Vorläufermodelle nachweisen. Die unterschiedliche Einschätzung der Störungsmodelle soll auch vor ihrem historischen Hintergrund innerhalb des letzten Jahrhunderts betrachtet werden.
Im dritten Hauptteil der Arbeit werde ich die unterschiedlichen Therapien bei AD(H)S erläutern. Die Frage, welches Verständnis von Auffälligkeit bei Kindern vorliegt, kann nicht nur theoretisch, sondern auch vor dem Hintergrund der jeweils eingeleiteten Maßnahmen beantwortet- und somit einer Betrachtung unterzogen werden. Hier sind die Implikationen und Auswirkungen des kartesianischen Paradigmas auf die eingeleiteten Maßnahmen bei AD(H)S insofern zu überprüfen, inwieweit sie sich für das betroffene Kind als hilfreich erweisen. Einen besonderen Stellenwert erhält in dem Zusammenhang die pharmazeutische Behandlung der Kinder mit Methylphenidat. Ein Exkurs über Psychopharmaka führt in die Ursache-Wirkungs-Problematik ein.
Im vierten Hauptteil werde ich die Epistemologische Erkenntnisposition des Konstruktivismus skizzieren, da diese die Grundlage für das hier vorgestellte neue Verständnis von "Auffälligkeit" bildet. Die inhaltlichen Schwerpunkte sollen hinleiten zu einem neuen Verständnis von AD(H)S, das nicht auf einer Medizinisierung beruht.
Der zentrale Gedanke ist die Idee der autopoietischen, d. h. der sich selbst erschaffenden Organisation lebender Systeme (MATURANA/VARELA 1987). Die epistemologische Position des Konstruktivismus leugnet die Möglichkeit einer objektiven Realitätserkennung. Zunächst erfolgt die Annäherung über die Skizzierung historischer Wurzeln und die Darlegung konstruktivistischer Positionen. Im Anschluss daran erfolgt eine Beschreibung der zentralen Vorstellungen, die im sozialwissenschaftlichen- und auch im psychiatrischen Bereich eine Aufnahme und Weiterentwicklung erfuhren.
Der fünfte Hauptteil stellt die Systemisch-konstruktivistische Bewertung von Verhaltensformen vor. Kybernetische und systemtheoretische Überlegungen führen weg von der ausschließlich individualpsychologischen Betrachtung und hin zu einer systembezogenen Auffassung. Das kybernetische Modell zur Erfahrungsbildung wird in den Forschungen zur Kommunikationstheorie (RUESCH/BATESON 1995, WATZLAWICK 1974) aufgegriffen.
Um die bereits begonnene Dekonstruktion von AD(H)S weiter zu spezifizieren, möchte ich im sechsten Hauptteil zusätzlich die systemisch-konstruktivistische Perspektive hervorheben. Diese Dekonstruktion erfolgt im Hinblick auf "Symptome" und Klassifikationen. Zudem erfolgt eine Auseinandersetzung mit den traditionellen Kausalitätsvermutungen unter Einbezug systemisch-konstruktivistischer Annahmen.
Das Kapitel schließt mit systemtheoretischen Überlegungen im Hinblick auf eine Handlungsorientierung im "System Schule".
Am Ende der Darstellung wird AD(H)S als Legendenbildung ausgewiesen. Die gesellschaftlichen Determinanten führen im Medienzeitalter zu einem Mythos, der auf der monodisziplinären Gesundheitsforschung basiert.
Über die Autorin:
Claudia Roggensack, Dr. phil., Dipl.-Päd., Förderschullehrerin, Weiterbildung in systemischer Beratung. Seit 1980 in verschiedenen Arbeitsfeldern der Sonderpädagogik bzw. Integrativen Förderung tätig. Mehrjährige Erfahrung auch in außerschulischen Bereichen und freien Praxen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Pädagogik der Universität Mainz. Leiterin des Forschungsprojektes: "Konzeptentwicklung für eine LehrerInnenweiterbildung zum Thema: ,AD(H)S' ". Schulleiterin einer Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen und Lehrbeauftragte der Universität Mainz.
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