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Neuvorstellung zur Übersicht
24.06.2008
Jürgen Hargens, Bengta & Ernst Hansen-Magnusson: Psychotherapie und Medizin oder: Zusammenarbeit ein wenig anders…
Hargens et al.: Psychotherapie und Medizin verlag modernes lernen, Dortmund 2008

112 S., fester Einband

Preis: 9,90 €

ISBN-10: 3861453037
ISBN-13: 978-3861453031
verlag modernes lernen





Arfst Arfsten, Flensburg:

Wenn der Bundespräsident Horst Köhler (Der Spiegel Nr. 21-2008, S.26 -27) als Urheber des globalen Bankenskandals und der Finanzkrise Monster benennt, dann wird er sofort von einem dieser Monster, nämlich Herrn Ackermann von der Deutschen Bank, freundlich, besserwisserisch zurückgepfiffen. Er möge doch nicht dramatisieren, nicht personalisieren (ausgesprochen) und unausgesprochen: er möge nicht Tabus verletzen, nämlich, dass den angeblich kompetenten Weltwirtschaftsführern – Abteilung Banken- u. Finanzwesen - die „eigenen gut kontrollierten Finanzwerkzeuge, wie Optionen … entglitten sind und ein Eigenleben als Monster begonnen haben“. Wenn gleichzeitig im selben „Spiegel“ die Wiederwahl desselben Bundespräsidenten mit der Begründung infrage gestellt wird, er habe als Populist seine Loyalität zur Politikerkaste, die ihn letztendlich gewählt habe, verraten und er müsse schleunigst seine populistische Einstellung ändern, dann ist der zeitliche Zusammenhang rein zufällig – oder nicht?
Wenn ein unabhängiger Mensch - ausgewiesener Finanzfachmann mit langjähriger Tätigkeit in internationalen Finanzgremien - die globalen Finanzstrukturen kritisch infrage stellt, verletzt er das Tabu der Idealvorstellung vieler Menschen: Es sei doch in der besten aller Welten das kapitalistische Finanzsystem ebenfalls das Beste, Effizienteste und Krisensicherste.
Wenn ein Wirtschaftskapitän, wie Zumwinkel mit großen, international anerkannten Erfolgen in der Reorganisation einer ehemals maroden Bundespost erwischt wird bei kriminellen Handlungen der Selbstbereicherung - dann geht ein moralischer Aufschrei durch die Medien der Nation: Hier wird ein Tabu öffentlich beschädigt: Unsere Wirtschaftsführer müssen doch Lichtgestalten ohne Fehler und Selbstbereicherungsimpulse sein.
Wenn innerhalb der letzten 5 Jahre zum zweiten Mal ein KV-Vorstand „abgeschossen“ wird, dann stutzen nicht nur die Mitglieder, sondern die gesamte Bevölkerung ist beunruhigt und will es nicht fassen, dass der zweite Abschuss nach demselben Strickmuster, wie der erste (selbst inszenierte) diesmal von seinen Rivalen re-inszeniert wurde, um dann noch gleichzeitig die Doppelspitze der ärztlichen Leitung der KV, die zur gegenseitigen Kontrolle und Unterstützung eingesetzt wurde, gleich ganz beseitigt wird, mit dem Argument der Effizienz und Beseitigung von Reibungsverlusten. Mit diesem Argument wird auch die unterschwellige Empörung der Bevölkerung re-kanalisiert und der Glaube an die guten, fehlerfreien, freigewählten Autoritäten und Repräsentanten wiederhergestellt.
Was haben diese krausen, willkürlich zusammengestoppelten Beobachtungen mit dem zu besprechenden Buch zu tun?
Sobald ein Mensch in unserer Gesellschaft sich unabhängig von seiner Berufsgruppe macht und diese aus einer anderen Perspektive kritisiert, kann er Tabus verletzen und wird er leicht als Nestbeschmutzer identifiziert, öffentlich angeprangert und diffamiert, oder subtil auf vielen Ebenen infrage gestellt, intellektuell demontiert, oder der Vorgang wird total verleugnet, oder der Nestbeschmutzer wird freundlich, wohlmeinend darauf hingewiesen, dass er intellektuell nicht mehr aktuell sei, sein Informations- und Wissens-Verfallsdatum überschritten, ebenso wie seine geistige Haltbarkeitskompetenz.
Oder er wird schlicht ignoriert: Er fällt unter das Tabu des Verschweigens, Verleugnens. Dieser Kampf zwischen Erkennen, mutigem Benennen von Missständen und Fehlentwicklungen und dem Kampf gegen das Aufdecken vonseiten mächtiger Institutionen ist täglich in den Alltagsmedien ebenso zu beobachten wie als Kerndynamik in den sieben Harry Potter Romanen, die ja auch als Entwicklungsgeschichte eines außergewöhnlich begabten Kindes zu lesen sind.
Zurück zum Gegenstand der Buchbesprechung. Bei der Lektüre dieses kleinen (DIN A6, 111 Seiten), seriös (mit Äskulapstab) aufgemachten Büchleins ist der Leser fasziniert, wenn er sich nicht durch die systemisch konstruktivistische Sprache, die fundierte wissenschaftlich saubere Begrifflichkeit verstört fühlt. Sie erscheint dem medizinisch oder tiefenpsychologisch geschulten Leser ungewohnt, fremd, störrisch.
Gewinnt aber die Lern- u. Neugier des Lesers und muss er sich nicht dem Zauber dieses Buches entziehen, dann entdeckt er, wie viel Freude und Überraschung systemisches Denken und Handeln machen kann.
Die Beschäftigung mit „hoffnungslosen Fällen“, Zwickmühlensituationen und Ohnmachtkonstellationen war schon immer ein Steckenpferd systemischer Denker und Praktiker. Hier wird das Steckenpferd zum eleganten Vollblüter, der hoffnungslose Patienten, verzweifelte Ärzte und ratlose Psychotherapeuten locker und freudig aus vermeintlichen Katastrophen und „schicksalhaften Verläufen“ heraus trägt. Es muss nur jemand wagen, das Pferd zu satteln, seine Regeln zu formulieren, sie selbst einzuhalten und zu kultivieren.
Das wirkt zunächst wie Zauberei, solange das theoretische Fundament nicht wahrgenommen, sondern tabuisiert, entwertet und nicht in den Kanon der anerkannten psychotherapeutischen Heilkünste aufgenommen wird (wie geschehen).
Wird dieses Tabu durchbrochen, so kann der Leser den Zauber der Schlichtheit und Eleganz einer unkonventionellen Strategie genießen. Hier ist eine Revolution geglückt! Eine neue Form der Supervision(?) und Kooperation von „heilkundlich Tätigen“, die sonst schwer zusammenfinden.
Alle Beteiligten gewinnen ungemein an Erkenntnis: die Leser entdecken Anregung und Wohlbefinden aller Beteiligten: Patient, systemischer Psychotherapeut und einladende Ärzte. Großer Gewinner ist auch das Medizinsystem, dass nicht länger kostenintensive, diagnostische und therapeutische Sackgassen finanzieren muss.
Gewinn aber auch für die Kultur der Kooperation der „heilkundlich Tätigen“: der Ärzte in Praxis und Klinik und der Psychotherapeuten.
Aber was ist revolutionär daran, dass Ärzte bei nicht gelingenden diagnostischen und therapeutischen Prozessen den Patienten und gegebenenfalls mitbeteiligte Angehörige einladen zu einem Gedankenaustausch über den Behandlungs- und Heilungsprozess in Gegenwart eines systemischen Psychotherapeuten?
Revolutionär ist der andere Weg nämlich die Entscheidung, dass die im Behandlungsprozess Beteiligten miteinander sprechen, Erfahrungen, Gedanken, Gefühle austauschen und bei nicht befriedigendem Prozess sich nicht gegenseitig Schuld zuweisen, Verantwortung delegieren, sondern sich freundliches, wohlwollendes Interesse und Neugier schenken.
Zudem ca. eine Stunde Zeit - allerdings unbezahlt.
Revolutionär ist das Eingeständnis der Ärzte, bisher nicht erfolgreich gewesen zu sein, kein zielführendes Konzept zu haben, ihr diagnostisches und therapeutisches „Pulver“ weitgehend verschossen zu haben.
Revolutionär in dieser Situation ist: nicht dem Patienten die Schuld am eigenen Versagen zu geben, nicht an den Fachärzten und hinzugezogenen Klinikern zu resignieren, nicht den Patienten einem Psychotherapeuten zuzuweisen, der dann zu beweisen hat, was er vermutlich nicht kann.
Revolutionär ist: den systemischen Therapeuten – hier Herrn Hargens - um sein Kommen zu bitten und sicher sein zu können, dass der Wunsch nicht unzumutbar ist, das eigene Selbstbewusstsein nicht gekränkt wird, dass er gern, neugierig, anregend und mit Hilfe seiner ausgefeilten, hochprofessionellen Technik das forschende Gespräch zu überraschenden Erkenntnissen begleitet.
Jürgen Hargens, Bengta und Ernst Hansen-Magnusson zaubern nicht, sondern beschreiben - wissenschaftlich fundiert- ihre künstlerische Handhabung einer Technik und ihres Denkens, das sie in unprätentiöser, leichter, fast selbstverständlicher Form dem Leser zur Verfügung stellen. Fast beiläufig beleuchten sie die Alltagsbegegnung von Patient und Arzt und Psychotherapeuten, entlarven Mythen der professionellen Psychotherapie wie z.B. die Voraussetzung, dass Patienten motiviert sein müssen, sich zu ändern und freiwillig den Therapeuten aufsuchen.
Dem setzen sie die Erkenntnis entgegen: Zur Therapie kommt man durch einen selbst erlebten, oder einen sekundären, durch andere veranlassten Leidensdruck – und damit bestenfalls bedingt freiwillig (wie sie unter Bezug auf Rotthaus verdeutlichen, S. 29).
So entlarven sie den Überweisungsmodus vom Arzt zum Psychotherapeuten als eine Geschichte des Scheiterns, der Enttäuschung, des Verlassens: der Patient wird aus dem ärztlichen Denksystem, der Sprache und dem Handeln als ungeeigneter entlassen und dem Denk-, Sprach- u. Handlungssystem des Psychotherapeuten zugewiesen, obwohl es ihm - dem Patienten - oft (oder meistens) nicht einleuchtet, zusätzlich zum körperlichen auch noch ein psychologisches Problem haben zu sollen.
Eine Überweisung impliziert eben zweierlei: Das oft unausgesprochene Eingeständnis des Arztes, nicht weiter zu wissen und die unausgesprochene Botschaft, der Patient sei entweder ein besonders schwerer, kein richtiger organischer Fall oder vielleicht gar nicht richtig krank (Seite 32). Entsprechendes gilt selbstverständlich auch umgekehrt, wenn Psychotherapeuten Patienten an Ärzte überweisen.
Die Technik, solche Grundannahmen so zu verwandeln, dass Konsultationen regelrechtes und übliches Vorgehen im Alltag sind, dass sie für die Selbstkritik und Fähigkeit aller Beteiligten zu lernen sprechen, beherrschen die Autoren schlicht, aber kunstvoll.
Ergänzt werden alle Kapitel durch anschließende mögliche Fragestellungen, die den Leser zur Selbstreflektion anleiten.
Nach der gründlichen, theoretisch fundierten Ausleuchtung der vielfältigen Aspekte des Unternehmens Trialog mit all seinen Gefahren und theoretischen Implikationen, der durchdachten Einstellung und Einstimmung auf die gemeinsame Arbeit ist dann die Beschreibung der Praxis überraschend einfach und verständlich.
Die respektvolle Begegnung der Fachkundigen miteinander und mit dem Patienten gestaltet durch eine wertschätzende, zielorientierte Befragung klingt und wirkt so selbstverständlich, befreiend und wohltuend, dass die überraschende Wirksamkeit dieses Trialogs fast selbstverständlich anmutet.
Dass der Trialog befreiende und entwicklungsfördernde Wirkung hat, ist dem mit dem Begriff der Triangulierung vertrauten Leser nicht überraschend: die Ergänzung des Dialogs der Symbiose ( zwischen Patient und Arzt) durch Aufnahme eines beteiligten Dritten – in der Kindheitsentwicklung der Position des Vaters, der Sprache, des Gesetzes, oder der Gesellschaft im Entwicklungsdialog zwischen Mutter und Kind- befreit diese von der dialogischen Bezogenheit und führt sie zur bewussten Auseinandersetzung mit anderen Aspekten und Rahmenbedingungen des Zusammenlebens.
In der Kommunikation ist dieser Aspekt der Ergänzung für die Dialogpartner durch den Beobachter gegeben. Dieser ermöglicht die Befreiung der Gesprächspartner aus den jeweiligen eigenen subjektiven Wahrheiten und Überzeugungen zu weiterführenden, ergänzenden, gesellschaftlich relevanten (Wahrheiten) Beschreibungen.
Die drei Autoren haben seit zehn Jahren ein Supervisions- zu einem Kooperationsmodell weiterentwickelt zu einem hervorragenden Lernmodell und zu einer Praxis, die sie mehrfach beschrieben haben.
Nun ist hinreichend bekannt: Propheten haben es im eigenen Lande schwer - wobei es müßig ist, über die Ursachen zu lamentieren.
Was hilft, ist: Erfahrung mit diesem Konzept zu wagen. Der Rezensent konnte in mehreren Sitzungen die Stringenz und Effizienz dieses Ansatzes auch im tiefenpsychologischen Kontext erleben. Erforderlich ist lediglich ein Respekt des Ratsuchenden vor dem systemisch konstruktivistischen Denken und Handeln des Beraters, ebenso wie der Respekt des Psychologen vor der Kompetenz und der Berechtigung des ärztlichen Handelns - ebenso wie der Respekt vor der Sinnhaftigkeit des Denkens, Fühlens und Handelns des so genannten Patienten/Klienten. Wenn diese Grundvoraussetzung zwischen Ratsuchendem und Berater tragfähig ist, kann sich der Patient der Dynamik ebensowenig entziehen wie die beiden Erstgenannten.
Möglicherweise erfordert der Ansatz eine Kenntnis – jedenfalls den Respekt vor dem systemisch, konstruktivistischen Denken und Handeln. Da im Prozess immer auch die Reflektion der Beteiligten über das, was sie gehört und erfahren haben steht, erscheint mir die Ankopplung dieses Kooperationsverfahrens an Supervisions- u. Balintgruppenarbeit sinnvoll.
Die Fähigkeit, respektvoll mit alternativen Heilansätzen umzugehen, erfordert von allen Beteiligten ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und Selbstkritik. Sich den Fragen des Patienten und des psychologischen Beraters gleichberechtigt offen zu stellen, eigene Ängste und Defizite zu formulieren und in Gegenwart des Patienten sagen zu können „ich weiß nicht weiter“ erfordert einen Abschied, aber auch Befreiung von der Selbstidealisierung.
Das Ergebnis ist in jedem Fall lohnend. Die beteiligten Ärzte formulierten die überraschende Paradoxie: Die Beziehung zum Patienten, die vor dem Gespräch von Angst, Bedrohung, Insuffizienz, Ratlosigkeit und Ohnmacht geprägt war, verwandelt sich und wird intensiver, freudvoller, entspannter, intimer, vertrauter, bei gleichzeitiger Respektierung der Distanz. Paradoxerweise führt das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht dazu, den Behandlungsprozess zielführend zu gestalten - zu einer Freilegung alternativer Wege durch das gemeinsame, zeitlich begrenzte Aushalten einer Krisensituation, die alle Beteiligten verbindet und zu einer Prozessintimität führt. (Dieses Phänomen ist aus allen Gruppenprozessen zur Bewältigung von Krisen bekannt, von Schwangerschafts-Training, Entbindung und Sterbebegleitung, wie in gelingenden Selbsterfahrungsgruppen und anderen).
Die beteiligten Ärzte berichten - verschmitzt lächelnd - wie sie den Patienten auch nach Jahren noch anders begegnen, nämlich vertraut, verbunden, aber nicht kumpelhaft, sondern durch Regeln geschützt und getragen von dem Erlebnis intensiver Nähe und unglaublicher Überraschung durch die Freilegung eigener Gestaltungskräfte.
Daneben ist der materielle Nutzen nicht gering einzuschätzen:
Unbefriedigende Pseudo-Therapien werden kanalisiert in fachgerechte, zielführende Behandlungen, auch mit Hilfe hinzugezogener Fachärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter oder andere Fachleute, durch die Reduktion der Zahl der Arztkontakte u.-besuche, regelhafte Reduktion der Schmerzmittel bei Schmerzpatienten und die Erfahrung: Es ändert sich immer was zum Positiven als Minimum bis hin zum Maximum : unglaublich, dass dieser Patient noch lebt.
Die spezifische Situation eines Hausarztes ist auch dadurch gekennzeichnet, dass er mit seinen Patienten alt wird und im optimalen Falle sie nur durch den Tod verliert oder sie ihn. Er wird sie also nicht los, er muss sie aushalten und sie ihn - und hier ist eine Technik, die es Patient und Arzt erlaubt und ermöglicht, auch „Monster“ auszuhalten - dem Arzt, nicht für den Patienten selbst zum „Monster“ zu werden, das den anderen bedroht, verfolgt und sich seiner bemächtigt, in einen Zustand von Ohnmacht, Versagen bis zur Handlungsunfähigkeit versetzt. Dadurch wächst in jeder Sitzung die Motivation, in diesem zauberhaften und schrecklichen, alles fordernden Beruf weiterzumachen. Einen gemeinsamen Ort zu etablieren, an dem man Gedanken und Phantasien über den Beziehungspartner (Arzt und Patient gleichberechtigt) äußern kann, die man im ärztlichen Gespräch vorher nicht anzusprechen wagte.
Voraussetzung ist besonders bei Ärzten, die Angst zuzulassen und auszusprechen: Jemand guckt mir in die Karten, deckt Fehler auf, verführt mich zur Offenheit in Gegenwart des Patienten. Hier liegt der Unterschied zur Supervision und dies war auch die Geburtsstunde dieses Modells, idie revolutionäre Frage: Warum beziehen wir nicht den Patienten in die Supervision mit ein (Hargens 1998)?
Ich spinne mal diese Erfolgsmodell einfach einmal weiter: Der psychologische Psychotherapeut Jürgen Hargens und die beiden Ärzte Hansen-Magnusson bilden in jährlichen Kursen pro Jahr „Trialogfachleute“ aus, diese stehen - auf Krankenkassenkosten außerhalb des Budgets - Arztpraxen für die Beratung besonders kostenintensiver, stagnierender, therapeutischer Prozesse zur Verfügung. Im Rahmen eines Forschungssonderprojekts des Flensburger Lehrstuhls Gesundheitspsychologie werden die bisherigen Behandlungskosten pro Patient und Jahr evaluiert und verglichen mit denen der nächsten zwei Jahre.
Hargens hatte schon früher zusammen mit einer psychologischen Kollegin familientherapeutische Sitzungen in der Wohnung der Klienten durchgeführt und ein Setting entwickelt, das Zugang zu den Ressourcen der Patienten fördert.
Das beschriebene Kooperations-Projekt begann vor 10 Jahren im Rahmen einer Netzinitiative, die von der KV Schleswig-Holstein und der AOK forciert wurde. Im Flensburger Ärzte-Netz waren die Psychotherapeuten (psychologische und ärztliche) von Anfang an integriert und durch innovative, integrative( meist gemeinsam mit Fachärzten, Krankengymnasten und Ernährungsberatern) Projekte vertreten wie z.B. Psychotherapeutische Anlaufsprechstunde und Koordinierungsstelle; Behandlungsprojekt „Faber“ für Essgestörte; Projekte für die Behandlung chronischer Schmerzpatienten, Tinnitus- u. Schwindelpatienten; Konsiliarprojekt zur Behandlung stagnierender Therapien (Leiter Jürgen Hargens); Projekt psychotherapeutische Betreuung onkologischer Patienten u.a.
Nach Beendigung der finanziellen Förderung und Umwandlung des Netzes in einen Arbeitskreis zur Einführung der E-Gesundheitskarte und deren aktuellem Scheitern hat allein dieses Projekt überlebt dank der etablierten Zusammenarbeit und des Gewinns, den alle Beteiligten – unabhängig vom finanziellen Gewinn – erlebt haben auf eigene Kosten.
Es gibt Bäume, die bis zur ersten Frucht zehn Jahre Entwicklung brauchen (z.B. der Walnussbaum) und diese von erfahrenen Gärtnern gewährt bekommen. Dem Trialogprojekt wünsche ich baldige Entfaltung, denn der Ertrag ist unbezahlbar und für die Beteiligten belebend, befreiend und hoffnungsvoll.
Für mich als Fortbildungs-Praktiker habe ich folgende Konsequenzen gezogen: Ich schenke jedem Balintgruppenteilnehmer und allen mit mir kooperierenden Allgemeinärzten zur Niederlassung das Büchlein von Hargens und Hansen-Magnusson, in der Hoffnung, dass sie in kritischen Situationen, darauf zurückgreifen und wissen an wen sie sich mit Gewinn wenden können.
Alle, die im Gesundheitswesen an Verbesserung, Arbeitsfreude, Wohlbefinden und Kosteneinsparung interessiert oder dazu verpflichtet sind, sollten Dipl. Psych. Jürgen Hargens und das Ehepaar Dres. Hansen-Magnusson als Taskforce auf einschlägigen Kongressen vorstellen und herumreichen.
Welches Tabu haben die Autoren aber gebrochen? Sie setzen den Patienten als primär Kompetenten/Kundigen in allen Entscheidungsprozessen vor die Heilkundigen. Sie üben keinen Überredungs- und Überzeugungsdruck auf ihn aus, sondern stellen ihm die Befunde und Erkenntnisse aller am Untersuchungs- und Behandlungsprozess bisher Beteiligten als Information zur Verfügung und nicht als Wahrheit, der der Patient sich unterwerfen muss, und sie warten, ob und wann der Patient sich dazu äussert und stellt.
Wenn er das nicht tut, wird er in den nächsten Arztbesuchen nicht darauf angesprochen - auch wenn es den Ärzten oft schwer fällt. Vereinbarungen werden eben eingehalten. Sie bewegen sich ausserhalb des Systems der kassenärztlichen und kassenpsychologischen Vereinigung, weil Konsultationen von Ärzten am Krankenbett zwar vorgesehen und bezahlt werden, aber nur unter der Voraussetzung einer Überweisung.


Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:

Im Jahr 1997 begannen die AutorInnen ihr Projekt einer disziplinübergreifenden Zusammenarbeit als Psychotherapeut (Hargens) und Praktische ÄrtztInnen (B. und E. Hansen-Magnusson). Sie haben ihre Zusammenarbeit mittlerweile in einer Reihe von Zeitschriftenpublikationen beschrieben und fassen den vorläufigen Stand der Dinge in diesem Büchlein zusammen. Um es kurz zu machen: die AutorInnen vermitteln ein überzeugendes Bild der Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn Fachleute über den Tellerrand ihrer eigenen und vorgegebenen Raster schauen und gemeinsam bereit sind, die „Dritten im Bunde“, die KlientInnen und PatientInnen einzuladen, mit ihnen gemeinsam aufzuspüren, was im gegebenen Fall hilfreich sein kann. Nicht mehr und nicht weniger: hilfreich sein kann. Die vorliegende Skizze des Projekts verdeutlicht, wie die AutorInnen ihre jeweiligen Blickwinkel konstruktivistisch mit Grund versehen und in der Praxis so anbieten, dass die PatientInnen sich als kundig angesprochen fühlen können und für diese Kundigkeit einen womöglich neuen oder passenderen Ausdruck finden können. Die eingestreuten Beispiele verdeutlichen, dass dies der Fall sein kann, manchmal auf verblüffend schnelle Weise, auch wenn die Grammatik dieser Veränderung nicht ausführlicher thematisiert wird. Davon, dass diese Art des Zusammenarbeitens, die die AutorInnen hier beschreiben, immer noch eine Ausnahme darstellt, zeugt sowohl das empathische und zustimmende Vorwort von Friedebert Kröger, wie auch der Umstand, dass bislang noch keine Resonanz auf die Anregung der AutorInnen folgte, eigene Erfahrungen mit einem solchen Vorgehen zur Verfügung zu stellen. So bleiben – hinsichtlich einer fachpolitischen Diskussion im Gesundheitswesen, insbesondere zu ökonomischen Konsequenzen – bislang nur kursorische und beispielhafte Eindrücke. Die AutorInnen stellen sie in diesem Büchlein noch einmal zur Verfügung, und sie klingen weiterhin ermutigend. Vielleicht lässt sich mit dem Medium des Buchs größere Resonanz erreichen. Es wäre nicht nur zu wünschen, sondern m.E. auch notwendig.

(mit freundlicher Genehmigung aus systeme 1/2008)





Das Inhaltsverzeichnis als PDF





Verlagsinformation:

Praxisnah, verständlich, informativ berichten die AutorInnen über ein „etwas anderes“ Modell der Zusammenarbeit zwischen Psychotherapie und Medizin, das sich inzwischen zehn Jahre in der Praxis bewährt hat. Ein Bericht, der zum Nachdenken anregt und der zeigt, dass auch „andere Modelle“ möglich sind – und das auch erfolgreich und kostengünstig.


Vorabdruck eines Interviews mit Jürgen Hargens aus der Wunderantwort Nr. 11, Sommer 2008

Frage: In Deinem neuen Buch beschäftigst Du Dich mit einem Modell der Zusammenarbeit zwischen PsychotherapeutInnen und ÄrztInnen. Was ist das Neue oder andere an diesem Modell?

Zunächst einmal ist das Buch das Gemeinschaftswerk von einem ÄrztInnen-Ehepaar, beide arbeiten auf dem platten Lande, und mir. Das Projekt besteht schon seit zehn Jahren und ist aus der Praxis entstanden, aus der Idee, dass es fruchtbar und hilfreich sein kann, unterschied-liche Kompetenz-, Wissens- und Erfahrungsbereiche in den Alltag - darauf liegt die Betonung: Alltag - einzubeziehen.
Im Grunde ist an diesem Modell nichts wirklich neu. Anders, um den für mich wichtigen Unterschied zu markieren, ist für mich das Ernstnehmen der Idee der Kundigkeit und Kompetenz aller Beteiligten, der ÄrztInnen, der PatientInnen oder, wie ich bevorzuge: der KundInnen, weil es sich um kundige Menschen handelt sowie des Psychotherapeuten, also meiner Person.
Was sich darüber hinaus - als Konsequenz unserer Erfahrung - verändert hat, ist die Art der Zusammenarbeit. Es geht nicht mehr darum, eine PatientIn oder KundIn weg zu überweisen. Mit „weg überweisen“ meine ich, dass die ÄrztIn gleichsam mit ihrem Latein am Ende ist, körperliche Medizin nichts mehr bringt und die PatientIn/KundIn so gesehen tatsächlich „weg geschickt“ wird. Uns war und ist wichtig, dass die ÄrztIn immer sichtbar beteiligt ist und bleibt - denn PatientInnen/KundInnen, bringen ihren HausärztInnen ein besonders hohes Maß an Vertrauen entgegen und zum anderen werden sie - auch nach einer Psychotherapie - wegen wieder auftretender körperlicher Leiden wieder „ihre“ HausärztIn aufsuchen.

Frage: Wenn, wie Du sagst, dass das Modell nichts wirklich Neues bietet - wozu soll es dann gut sein?

Das ist eine hoch spannende Frage. Manchmal - ich glaube, öfter als wir denken - ist ein Ernstnehmen dessen, was ich weiß, und das konsequente Umsetzen schon ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Das ist jedenfalls meine Erfahrung. Ich nehme ein einfaches Beispiel: wir sprechen von Gesundheit und Krankheit, wobei für Krankheit spezifische, kon-krete und meist auch beobachtbare Kriterien bestehen - oder festgelegt wurden. Für Gesundheit fehlen solche konkreten oder, wie ich sage, positiven Definitionsmerkmale. Gesundheit besteht dann, wenn keine Krankheit vorliegt. Konkret zu Ende gedacht, bedeutet das meines Erachtens, dass nur die jeweilige Person selber angeben kann, ob oder wieweit sie sich als gesund betrachtet. Für den therapeutischen Alltag heißt dies, die Bewertung der PatientIn/KundIn ernst nehmen, respektieren und darauf aufbauen.

Frage: Heißt das, wenn die PatientIn/KundIn meint, sie sei gesund, Du aber siehst, wie sie leidet oder - noch genauer, die Hand gebrochen hat -, dann sagst Du, sie sei gesund?

Nun, ganz so einfach ist es wohl nicht. Das für uns in diesem Modell Wichtige ist anzuerkennen, dass es sehr unterschiedliche Sichtweisen auf ein Ereignis gibt. Und dass es in der therapeutischen Arbeit darum geht, die Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieser Sichtweisen zu würdigen - immer zum Wohle der PatientIn/KundIn. Das heißt für uns ganz konkret, dass wir bei jedem Zusammentreffen sehr dezidiert danach fragen, was die PatientIn/KundIn sich von diesem Treffen erwartet. Und - gleich wichtig - was sich die ÄrztIn von diesem Treffen er-wartet. So ist es möglich, immer von Anfang an auf unterschiedliche Perspektiven Bezug zu nehmen, ohne - und das kann anfangs eine Herausforderung sein - darum zu kämpfen, wer „wirklich Recht hat“.
Bestehen Unterschiede in der Beschreibung und Bewertung, dann geht es - da stehen wir klar in der lösungsorientierten Tradition - darum, gemeinsam herauszuarbeiten, was für das Treffen ein gutes Ergebnis ist.

Frage: Das klingt doch beinahe so wie eine „klassisch lösungsorientierte Sitzung“.

Ja, das stimmt. Mit, wie wir glauben, einem kleinen Unterschied, der große Wirkung hat - es sind drei ExpertInnen beteiligt und die Kompetenz und Expertise jedes/jeder Einzelnen zählt. Wir haben gelernt, uns von der Idee zu verabschieden, nach dem „Wahren“ und „Richtigen“ zu suchen. Wir sprechen miteinander in unterschiedlichen Konstellationen, immer aber in Anwesenheit der Beteiligten. Und - ein weiterer kleiner, aber feiner Unterschied - sowohl der klassisch medizinische wie der klassisch psychotherapeutische, für uns also: lösungsorienterte Bereich haben ihre Berechtigung. Wie auch die Lebenspraxis der KundIn - in unserem Buch finden sich dazu ein paar Beispiele.

Frage: Und was kommt nun bei alldem heraus?

Wir haben zwei kleine Nachuntersuchungen gemacht und die zeigen belegbar Erfolge - was Anzahl der ÄrztInnen-Besuche wie Kosten betrifft. Das sind Schlaglichter, denn uns fehlen ganz einfach in unserem Alltag die entsprechenden Mittel einer wissenschaftlich sauberen Erhebung. Und Interesse hat bisher auch niemand anderer daran gezeigt.
Ein hoch spannendes Nebenprodukt des Modells ist die sich verändernde Beziehung der Beteiligten - entspannter, wertschätzender und offener. Anders gesagt: entlastender. Und wir alle lernen von einander. Auch dazu haben wir ein schönes Beispiel beschrieben.

Frage: Wenn ich das alles höre, dann frage ich, wieso das Modell nicht in breiter Form übernommen wird?

Nun, das ist, glaube ich, ganz einfach - es liegt einfach quer zu den traditionellen Strukturen des Gesundheitswesens, aber auch zu den traditionellen Strukturen der Ausbildung. ÄrztInnen wie PsychotherapeutInnen werden dazu angehalten, „Einzelkämpfer“ oder, um eine weniger kriegerische Vokabel zu gebrauchen, „Einzelvorturner“ zu werden und das Lernen von Team-arbeit und Kooperieren über Fächergrenzen scheint nicht beliebt.
Was nichts daran ändert, dass wir Freude daran haben, viel gelernt haben und weiter lernen und auch nicht aufhören, immer einmal wieder auf das Modell zu verweisen. Aus der Systemtheorie ist ja bekannt, dass Systeme die Tendenz zur Homöostase haben. Und das ist ja auch gut so, denn es verlangsamt einige Prozesse. Insofern kann ich nur noch einmal betonen, was wir auch geschrieben haben: „Wir möchten anregen, Strukturen nicht als gegeben hinzunehmen, sondern mit ihnen (im besten Sinne des Wortes) zu spielen, um andere Möglichkeiten zu erschließen - immer orientiert am Wohle aller Beteiligten.“


Über die Autoren:

Jürgen Hargens, Jg. 47, Dipl.-Psychol., Psychol. Psychotherapeut, eigene Praxis seit 1979 (erst Flensburg, seit 1981 Meyn)
Bengta Hansen-Magnusson, Jg. 55, praktische Ärztin, seit 1986 Landarztpraxis in Wanderup
Ernst
Hansen-Magnusson, Jg. 52, Dr. med., Arzt für Allgemeinmedizin, seit 1986 Landarztpraxis in Wanderup





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