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15.03.2008
Stephan Günzel: Maurice Merleau-Ponty. Werk und Wirkung. Eine Einführung
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Turia + Kant, Wien 2007
191 S., kartoniert
Preis: 18,00 €
ISBN-10: 3851324641
ISBN-13: 978-3851324648 |
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Christian Bermes: Maurice-Merlau Ponty zur Einführung
Junius Verlag, Hamburg 1998
184 S., kartoniert
Preis: 13,50 €
ISBN-10: 3885069733 ISBN-13: 978-3885069737
Turia + Kant, Junius-Verlag
Tom Levold, Köln:
Ein theoretisches Anliegen von Niklas Luhmann war es, der „traditionalen Semantik des Subjekts“ zu entkommen und eine Theorie autopoietischer, operational geschlossener Systeme zu konzipieren, in denen weder das Soziale noch das Psychische noch das Körperliche ihren Sinn aus einem Subjekt als Einheit beziehen. Stattdessen reproduzieren sich die soziale und psychische Systeme vermittels ihrer Eigenoperationen (Kommunikation, Gedanken) autonom bzw. stellen - im Falle körperlicher Phänomene - nur noch Anlässe für Kommunikation oder Bewusstsein dar. „Die Beobachtungsfigur Subjekt findet sich ersetzt … durch die Beobachtungsfigur Beobachter als System. Man kann auch sagen, dass das Subjekt entsubjektiviert wird und als systemischer Beobachter entsubjektiviert wird“ (1). Ob diese Eliminierung des Subjekts gelungen - oder überhaupt sinnvoll - ist, darüber lässt sich streiten (2). Was man sicherlich festhalten kann, ist, dass der „Beobachter“ auf eine radikal abstrakte Position gehoben wird und letztlich in der Beobachtung selbst aufgeht: die Beobachtung beobachtet. Dies wirft Probleme für eine theoretische wie auch empirische Integration von Konzepten wie „Erfahrung“ und „Praxis“ auf, die nicht zuletzt für systemische PraktikerInnen zumindest auf einer alltagspragmatischen Ebene von Belang sein dürften. Andreas Reckwitz hat das für die Position eines „praxeologischen Denkens“ in der Kulturtheorie folgendermaßen formuliert: „Während Luhmanns Theorie des Sozialen auf einer grundbegrifflichen Separierung von sozialen, psychischen, organischen und mechanischen Systemen, damit auf einer Situierung des Sozialen außerhalb der Körper, des Bewußtseins und der Artefakte basiert, ist für das ‚praxeologische‘ Denken der Kulturtheorien eine Situierung des Sozialen und der Kultur in den Bewußtseinen, Körpern und Artefakten, mithin eine Grenzüberschreitung zwischen dem Kulturell-Symbolischen und den scheinbar asozialen Sphären des Körpers, der Psyche und der Materialität zentral“ (3). Den hundertsten Geburtstag von Maurice Merleau-Ponty am 14.3.2008 kann man nun zum Anlass nehmen, im Kontrast zur systemtheoretischen Entsozialisierung des Körpers dessen Bedeutung als Basis jedweder Erfahrung, Beobachtung und Praxis noch einmal in den Blick zu nehmen. Die Fundierung jeder Wahrnehmung und Erfahrung im Körper, den Merleau-Ponty als „Leib“ fasst, steht im Mittelpunkt seiner Philosophie. Diese hat heutzutage nicht gerade Hochkonjunktur, was man an den spärlichen Würdigungen seines Geburtstages in den Medien ablesen kann. Zu sehr mag seine Philosophie mit dem politisch-philosophischen Diskurs der Theorie im Frankreich der 40er und 50er Jahre (in den „Les Temps Modernes“) in Verbindung gebracht werden, womöglich auch mit seinen Wurzeln in einem katholischen Kontext, als dass er für aktuelle Debatten anschlussfähig erscheint. Dennoch scheint mir gerade in Bezug auf die Frage des Konstruktivismus, wie und auf welche Weise denn wir unsere Wirklichkeit hervorbringen, eine Beschäftigung mit Merleau-Ponty auch heute noch gewinnbringend. Zwei Einführungsbände sollen den Zugang zu seinem Werk erleichtern. Stephan Günzel, Raum- und Medientheoretiker an der Universität Potsdam, und Christian Bermes, Philosophieprofessor an der Universität Trier, haben sich zur Aufgabe gestellt, das Werk Merleau-Pontys zusammenzufassen. Beide Bücher haben etwa gleichen Seitenumfang, unterscheiden sich aber im Format ebenso wie in der inhaltlichen Vorgehensweise. Günzels Buch, im Wiener Verlag Turia + Kant in für den Verlag gewohnt eleganter Ausstattung erschienen, schmal und leicht hochformatig, beginnt mit einem kurzen biografischen Überblick, der die wesentlichen Stationen Merleau-Pontys zusammenfasst: katholisches Elternhaus, früher Vaterverlust, Aufnahme in die Ecole Normale Supérieure, wo er die wegweisende Bekanntschaft u.a. mit Sartre und Beauvoir macht, Tätigkeit als Philosophielehrer, Mitherausgabe der „Les Temps Modernes“, Lehrstuhl für Kinderpsychologie und Pädagogik an der Sorbonne, und schließlich die Professur für Philosophie am berühmten Collège de France, ohne dass dabei intensiver auf seine persönliche Entwicklung eingegangen wird. Im Vordergrund stehen eher Begegnungen mit Lehrern und Kollegen, die Einfluss auf die wissenschaftliche Entwicklung Merleau-Pontys hatten. In einem kurzen Abschnitt über das Werk differenziert Günzel drei maßgebliche Themenbereiche des Philosophen, Psychologie, Philosophie und Politik. Als Raumtheoretiker fokussiert Günzel dabei entsprechend auf die Konzeptualisierung des Raumes und Raumerlebens bei Merleau-Ponty: „Kurz gesagt, bildet die Raumthematik die philosophische Klammer von Merleau-Pontys Bemühung um Wahrnehmung, Leiblichkeit und Sinn und dadurch den theoretischen Dreh- und Angelpunkt seiner Hauptschriften“ (S. 21f.). In Kapitel III werden dann die zentralen „Denkfiguren“ in Merleau-Pontys Werk entfaltet: „Leib“, „Struktur“ und „Chiasmus“. Merleau-Ponty zufolge „ist der existierende Leib (1.) eingelassen in die Struktur (2.) eines umgebenden Feldes, wodurch beide in einem Chiasmus (3.) verbunden sind“ (S. 32). „Chiasmus“ leitet sich vom griechischen Wort „Kreuz“ ab und steht bei Merleau-Ponty für die Überkreuzung von Phänomenbereichen, deren vermeintliche ontologische Getrenntheit in der Wahrnehmung des Leibes aufgehoben wird: „So wird die einfache Verflechtung, bildhaft gesprochen, als Möbiusband in eine Doppelhelix (…) überführt: Nicht nur ist ein erster Chiasmus (von Körper und Geist) im Leib selbst vorhanden, sondern es besteht zugleich auch eine Verflechtung des Leibes mit den Dingen, sowohl auf physischer wie intelligibler Ebene“ (S. 56). Diese Begriffe werden allerdings weniger entlang der Texte Merleau-Pontys herausgearbeitet, sondern in einer dichten Reflexion des theoretischen und wissenschaftshistorischen Feldes, innerhalb dessen sich Merleau-Ponty als Theoretiker positioniert hat (Hegel, Husserl, Marcel, Sartre, Ehrenfels et al.), was die Lektüre durchaus sehr verkompliziert, da der Umfang eines Einführungsbandes hier immer nur knappste Verweise erlaubt. Sehr viel besser gelungen erscheint mir das vierte Kapitel, in dem der Raumtheoretiker die Merleau-Ponty‘sche Konzeption detaillierter nachzeichnet. Die Kapitelüberschriften machen deren Entwicklung schon ansatzweise deutlich: „Kartesische Topologie: Raum und Cogito“, „Phänomenologie: Zweifel und Dialektik“, „Orientierung: Umwelt und Milieu“, „Vor der Geographie: die Landschaft“ und „Fleisch: Die Erde als Urarche“. Auf spannende Weise wird beschrieben, wie Merleau-Ponty sich von der Descartes‘sche Unterscheidung zwischen dem „Bereich der Sprache, der Ideen und Vorstellungen als Raum der Zeichen und des Sinns (und) dem Raum der Dinge und Körper, dem Bereich physikalischer Objekte“ befreit (S. 61) und die menschliche Erfahrung und Erkenntnis selbst an den Raum und die Raumerfahrung knüpft. Eine „reine Beobachtung“ ist ebenso wie „reines Bewusstsein“ oder „reine“ Kommunikation erweist vor diesem Hintergrund der leiblichen Eingebundenheit aller Lebensäußerungen als rein abstrakt und praxisfern. Das umfangreichste Kapitel ist der Rezeption Merleau-Pontys in unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern gewidmet: Strukturalismus und Archäologie, Psychoanalyse und Poststrukturalismus, Politische Theorie und Soziologie, Gestaltpsychologie und Handlungstheorie, Phänomenologie und Geophilosophie, Human- und Sozialgeographie, Umwelttheorie und Ökologie, Feminismus und Dekonstruktion, Körperlichkeit und Künstliche Intelligenz sowie Bild-, Film- und Medientheorie. Für alle diese Bereiche stehen, wie bei Einführungsbüchern üblich, nur sehr wenige Seiten zur Verfügung. Daher gilt auch hier, dass der Gewinn bei der Lektüre in erster Linie in der Erschließung eines reichhaltigen Netzes an Namens- und Literaturverweisen liegt, das der ungemein kenntnisreiche Autor in einer enormen Fleißarbeit zusammengestellt hat. Der Leser, der ohne Vorkenntnisse an die Lektüre herangeht, dürfte mit der extrem komprimierten und gerafften Darstellungsweise jedoch überfordert sein. Als Einführung ist der Band daher mit Vorsicht zu genießen. Andererseits demonstriert er eindrücklich den breitgefächerten Kontext, innerhalb dessen Merleau-Ponty seine Konzepte entwickelt hat, und die enorme Wirkung, die seine Arbeit in den unterschiedlichsten Disziplinen hinterlassen hat, verbunden mit vielen Anregungen zum Weiterlesen. Ein Namensregister hilft, die Übersicht zu behalten. Der Band von Bermer verfolgt eine etwas andere Vorgehensweise. Bevor hier - ebenfalls recht knapp - auf die biografischen Stationen im Leben Merleau-Pontys eingegangen wird, wird kurz auf den Kontext der europäischen Philosophie in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts eingegangen. Die weitere, ausführliche Darstellung ist stärker auf die Entwicklung der Argumentation im Werk Merleau-Pontys bezogen und daher gut nachvollziehbar. Das zweite Kapitel „Ambiguität des Leibes, der Welt, der Sprache und des Bewusstseins“ geht dann spezifischer auf die Begrifflichkeit Merleau-Pontys ein. Ein weiteres kurzes Kapitel ist den politischen Ideen Merleau-Pontys gewidmet, der lange Zeit gemeinsam mit Sartre zu den führenden linken Intellektuellen in Frankreich zählte, sich dann aber mit diesem über die Frage der Haltung zum Stalinismus überwarf, dem Merleau-Ponty nach langem Abwarten schließlich die Solidarität verweigerte. In Anschluss an ein Kapitel über Merleau-Pontys Spätwerk, das deutlich theologische Anklänge aufweist, fasst der Autor noch einmal die Bedeutung Merleau-Pontys zusammen: „Merleau-Ponty ist weder der Gegenpol noch der Wegbereiter eines Philosophierens, das die Grenzen zwischen Rationalität und Irrationalität nicht mehr erkennen wollte und das denkende wie auch philosophierende Subjekt zu eliminieren drohte; und er ist ebenfalls nicht als Vertreter des Existentialismus zu verstehen, wie dies noch lange Zeit in den Philosophielehrbüchern postuliert und in den Schlagwortverzeichnissen registriert wurde. Merleau-Ponty muß als eigenständiger Kopf begriffen werden, dessen Philosophie zwar aus vielen Quellen schöpft, dessen Denken aber weder das Ende der Phänomenologie noch den Anfang des Strukturalismus markiert. Sein Philosophieren läßt sich nicht einfach etikettieren als Philosophie der Struktur oder Phänomenologie des Leibes. Er ist ein Denker, der nicht nur die Kategorien klassischer Disziplinierung sprengt und die Grenzen der traditionellen Philosophie hin zu den Einzelwissenschaften überschreitet, er entzieht sich auch selbst fast jedem geläufigen Register. Wenn er über Psychologie handelt, so heißt dies nicht, daß er Psychologist ist; thematisiert er Fragen der Erkenntnistheorie, so ist er doch kein Erkenntnistheoretiker; schickt er sich an, eine Ontologie zu konzipieren, So hypostasiert er nie ein unzugängliches Sein jenseits des Seienden; und präferiert er schließlich die Existenz vor der Idee, so ist er doch kein Existentialist. Merleau-Ponty offeriert eine Philosophie, die sich als philosophierendes Fragen artikuliert, die die Grenzen der traditionellen Begrifflichkeit und Systematik durchbricht und die den Propheten eines letztgültigen Sinns die Ursprünge der Sinngenese und deren Unwägbarkeiten entgegenstellt“ (S. 154f.). Ich habe beide Bücher mit Gewinn gelesen. Der Bermer-Band verlangt dem Leser etwas weniger ab, was es gerade für diejenigen attraktiver machen dürfte, die sich noch nicht mit Merleau-Ponty beschäftigt haben. Eine Lektüre des Originals können beide Bände nicht ersetzen, sie machen aber darauf neugierig. Das ist gut so, denn eine Theorie des Leibes bzw. der körperbasierten sozialen Praxis erscheint mir auch für aktuelle theoretische Debatten unverzichtbar.
Anmerkungen: (1) Detlef Krause: „Ich hatte keinen Sex mit Monica Lewinsky“. Luhmannsche Alltagsbetrachtungen. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2008, S. 63 (2) vgl. Andreas Weber: Subjektlos. Zur Kritik der Systemtheorie. UVK, Konstanz 2005 (2) (Andreas Reckwitz: Die Logik der Grenzerhaltung und die Logik der Grenzüberschreitungen: Niklas Luhmann und die Kulturtheorien. In: Günter Burkart (Hg.): Niklas Luhmann und die Kulturtheorie, Frankfurt (Main) 2004 (http://www.sozialarbeit.ch/dokumente/reckwitz.pdf).
Zur Website von Stephan Günzel
Zur Website von Christian Bermes
Ein unkorrigierter Rohumbruch von Stephan Günzel & Christof Windgätter: "Leib / Raum: Das Unbewusste bei Maurice Merleau-Ponty", ein Beitrag, der in der von Michael B. Buchholz und Günter Gödde beim psychosozial-Verlag herausgegebenen Trilogie über das Unbewusste erschienen ist.
Verlagsinformation (Günzel):
Maurice Merleau-Ponty (1908-61) gehört zu den einflussreichsten Denkern der französischen Philosophie. Gleichwohl gilt sein Denken als schwer zugänglich. Erstmals versucht eine deutschsprachige Einführung, Merleau-Pontys Werk systematisch zu erschließen und dabei zugleich vor allem die wirkungsgeschichtlichen Aspekte seines Ansatzes zu berücksichtigen.
Das Zentrum seiner Philosophie wird durch die drei Grundfiguren Leib, Struktur und Chiasmus bestimmt. Sie umkreisen den Begriff des Fleisches, der ausgehend von Merleau-Pontys Natur- und Kunstverständnis als ein Konzept von Räumlichkeit vorgestellt wird. Die Untersuchung gibt einen breitgefächerten Überblick über die Rezeption dieses Raumkonzeptes im Poststrukturalismus, in der Medientheorie, in Philosophie, Soziologie, Psychologie und Geographie oder auch in der Gender-Debatte, Handlungstheorie und KI-Diskussion. Merleau-Pontys exzeptionelle Stellung zwischen Phänomenologie und Strukturalismus macht ihn dabei nicht zuletzt zu einem Zeugen des ideengeschichtlichen Wandels, der die geistes- und kulturwissenschaftliche Theoriebildung im 20. Jahrhundert grundlegend veränderte.
Verlagsinformation (Bermes):
Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) ist eine Schlüsselfigur der französischen Philosophie im 20. Jahrhundert. Seine produktive Verbindung von Phänomenologie und Existenzialismus hat immer wieder die Grenzen von Wissenschaft und Philosophie ins Wanken gebracht und nicht nur seine Fachkollegen fasziniert. Christian Bermes zeigt in seiner Einführung, wie Merleau-Ponty die erkenntnistheoretischen Einseitigkeiten von Empirismus und Intellektualismus vermeidet und in der Leiblichkeit, Geschichte, Sprache und Lebenswelt die Konkretisierungen der endlichen Existenz des Menschen findet.
Inhaltsverzeichnis des Günzel-Bandes (PDF)
Über die Autoren:
Stephan Günzel ist Medienwissenschaftler an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er zu Computerspielen in der Perspektive "Erste Person" forscht. Publikationen zur Raumtheorie, Wissens- und Begriffsgeschichte sowie monographische Arbeiten zu Nietzsche und Deleuze.
Christian Bermes, geb. 1968, Hochschuldozent für Philosophie an der Universität Trier. Herausgeber (zusammen mit U. Dierse und C. Rapp) des Archivs für Begriffsgeschichte, Geschäftsführer des Instituts für Medien und Kultur, Geschäftsführer der Max-Scheler-Gesellschaft. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Philosophische Anthropologie, Kultur- und Medienphilosophie.
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