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19.09.2007
Pierre Bourdieu et al.: Das Elend der Welt
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UVK Verlagsgesellschaft , UTB gekürzte Studienausgabe, Konstanz 2005
446 S., broschiert
Preis: 24,90 €
ISBN-10: 3825283151
ISBN-13: 978-3825283155
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UVK Konstanz
Oliver König, Köln:
„Der Soziologe muß wissen, daß das Besondere seines Standpunktes darin besteht, ein Standpunkt im Hinblick auf einen Standpunkt zu sein“ (802). Dieser Satz, fast am Ende dieses umfangreichen Werkes stehend, lässt sich wie ein Motto für das Bourdieusche Denken auffassen, in dem sich ein erkenntnistheoretischer und methodologischer Standpunkt sowie eine eng mit Empirie verknüpfte Theorie mit einer forschungsethischen und politischen Haltung verbinden. Es handelt sich hierbei keineswegs um ein weiteres Beispiel von „kritischer“ Sozialwissenschaft, die man in der Vergangenheit nur allzu oft in vorhersehbarer Zeit an ihrer politischen Voreingenommenheit oder Vereinnahmung durch die gesellschaftlichen Machtinstanzen hat scheitern sehen. Dazu durchzieht die Selbstreflexion über den gesellschaftlichen Standort des Soziologen und die kulturelle Funktion seiner Produkte viel zu sehr das gesamte Werk Bourdieus. Das konstruktivistische Credo über die Standortgebundenheit des Beobachters wird hier nicht nur behauptet, um dann davon unberührt zu modelltheoretischen Spekulationen überzugehen, die allein schon in ihrer Sprachform einen bestimmten Standpunkt signalisieren. Vielmehr betreibt Bourdieu in allen seinen Arbeiten eine fortwährende „Objektivierung der Objektivierung“, also eine kritische Reflexion des eigenen gesellschaftlichen, d.h. theoretischen, methodologischen wie auch alltagspraktischen Standortes, um auf diese Weise einen Blick aufs Ganze zu erarbeiten inklusive der eigenen Rolle darin, wohl bewusst der dabei auftretenden Paradoxien, die denen der Psychotherapie sehr nahe kommen. „Gesellschaftliche Nachfrage (nach Soziologie) ist immer auch ein Gemisch aus Pression, Befehl und Verführung – und so wäre denn vielleicht der größte Dienst, den man der Soziologie erweisen könnte: nichts von ihr zu verlangen“ (Leçon sur la leçon, 1985, 61f.), so Bourdieu in seiner Antrittsvorlesung am Colléges de France, an dem er seit 1982 forscht und lehrt. Diese einzigartig privilegierte Position nutzt er seitdem nicht nur zur Schaffung eines Netzwerkes von Institutionen und Personen, die sich seinem Denkstil verpflichtet fühlen, und die z.B. dieses Buch trotz seiner vielfältigen Autorenschaft wie aus einem Guss erscheinen lassen, sondern in den letzten Jahren mischt er sich, im Kontrast zu dem, was das obige Zitat erwarten lassen würde, immer deutlicher auch in den tagespolitischen Diskurs ein, und dies auch in Deutschland, wie seine Artikel in der Zeit beweisen, in denen er vor allem gegen den Neoliberalismus und seine Ideologie der wirtschaftlichen Sachzwänge anschreibt. Da viele seiner Arbeiten in nur kurzen zeitlichen Abständen zur Originalveröffentlichung in deutscher Übersetzung vorliegen, ist er auch hier zu einem bedeutenden Anreger geworden. Während er sich diese Ausnahmestellung durch eine Reihe theoretisch höchst anspruchsvoller Werke erarbeitet hat, genannt seien hier „Die feinen Unterschiede“ (1982) und „Sozialer Sinn“ (1987), legt er nun zum Erstaunen mancher seiner deutschen Apologeten zusammen mit einer Gruppe von 17 anderen SoziologInnen ein Werk vor, das zum größten Teil aus ca. 40 Interviews besteht und die theoretische Diskussion, die im Forschungsprozess diesen Interviews vorangegangen ist bzw. sie begleitet hat, weitgehend in den Hintergrund treten lässt. In seinem Nachwort „Deutsche Zustände im Spiegel französischer Verhältnisse“ veranlasst dies den Herausgeber der deutschen Ausgabe, Franz Schultheis vom „Zentrum für Europäische Gesellschaftsforschung“ in Konstanz, zu der Warnung vor dem möglichen Missverständnis „einer Bourdieuschen Konversion vom Saulus eines subjektlosen materialistischen Determinismus und Fatalismus hin zum Paulus einer subjekttheoretischen, ja geradezu existentialistisch bzw. personalistisch anmutenden Sozialphilosophie und -wissenschaft“ (833). Gerade Bourdieu’s Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ zeichnet sich, worauf auch Schultheis hinweist, durch eine einzigartige Kombination von soziologischer Theorie, erkenntnistheoretischer Reflexion, quantitativer Analyse und dem Einsatz von Tiefeninterviews aus, was methodologisch in dem Credo zum Ausdruck kommt, „daß Verstehen und Erklären eine Einheit bilden“ (786, im Original kursiv). Doch ich will hier nicht durch zu umfangreiche einleitende Bemerkungen mehr akademischer Art dem Fehler aufsitzen, den die Autoren dieser Arbeit gerade zu korrigieren versuchen, indem sie nicht ihre ohnehin schon prestigeträchtige Position im Feld des wissenschaftlichen Diskurses durch eine weitere kluge Analyse absichern, sondern dieses Prestige dazu nutzen, jene sozialen Akteure zur Sprache kommen zu lassen, die ihre Anliegen zum Teil nur schwer formulieren können, bzw. seltenen die Gelegenheit haben, dies an einem derart durch die Aura der Wissenschaft „geadelten“ Ort zu tun. Es reden: das Arbeiterehepaar aus der französischen Vorstadt, ihre algerischen Nachbarn und die alleinstehende Frau, die auf diese ausländischen Nachbarn schimpft; die Mieter von Sozialwohnungen, der Hausmeister einer solchen Siedlung, sowie die Jugendlichen, die hier keinen Ort für sich finden; ein Streetworker, eine Polizistin und ein Strafrichter; ein Hilfsarbeiter, ein Facharbeiter und eine Arbeitslose; eine Supermarktkassiererin und die Gründerin eines Frauenhauses; ein Landwirt und ein Weinhändler; Schüler und Lehrer; ein alter Kommunist und ein junger Anhänger der Front National unter Le Pen und noch einige andere mehr. Und allen gegenüber wird die von Spinoza entlehnte Anweisung eingelöst: „Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen“ (13), und zwar nicht als einfach (selbst)verordnete empathische Haltung, sondern als ein methodisch erarbeitetes Verstehen, das es erst ermöglicht, „die Menschen so zu nehmen, wie sie sind“ (13). Und dieses methodisch geleitete Verstehen ist gerade dann am erfolgreichsten, wenn es die Mühe seines Vorgehens vollständig zum Verschwinden bringen kann, so dass dem Leser quasi „natürliche“ Geschichten entgegentreten. Zugleich unterscheiden sich diese Geschichten einer „teilnehmenden Objektivierung“ (14) ebenso von den Praktiken eines Betroffenheits-Journalismus, der die einzelne Person nur als Typus vorführt, wie von den verbreiteten Darstellungen von „klinischen Fällen“ in Psychologie und Medizin, die zur Illustration einer Theorie oder einer Therapieform genutzt werden. Am ehesten vergleichbar ist die Wirkung der Texte, wenn man sich einmal auf sie eingelassen hat, mit dem modernen Roman – Bourdieu nennt hier Faulkner, Joyce und Virginia Wolf – und seinem Bemühen, den „gleichsam göttlichen Standpunkt, den der Beobachter und sein Leser (jedenfalls solange, als er sich nicht selbst betroffen fühlt) so gerne einnehmen, zugunsten der Pluralität der Perspektiven aufzugeben, die der Pluralität der miteinander existierenden und manchmal direkt konkurrierenden Standpunkte entspricht“ (18). Und es ist vor allem das „positionsbedingte Elend“ nicht so sehr der weitgehend zurückgedrängten großen Not, sondern alle „Formen kleiner Nöte“, die hier ihre Sprache finden. Auch die Pluralität der Perspektiven braucht aber ihre Reihenfolge, um zur Darstellung zu kommen. Das Buch ist eingeteilt in sechs Abschnitte, in denen jeweils nach einem kurzen Einleitungskapitel die Interviews folgen, die auch wiederum mit einer Einführung versehen sind, die den sozialen Raum markiert, in dem das Interview plaziert ist. Den Abschluss bildet ein methodologisch orientiertes Kapitel zum „Verstehen“, in dem im Unterschied zum üblichen nicht Regeln vorgestellt werden, nach denen vorzugehen sei, sondern das tatsächliche Vorgehen rekonstruiert wird, sowie das genannte Nachwort von Schultheis und ein Glossar zu französischen Spezialausdrücken. Im ersten Abschnitt „Position und Perspektive“ wird vor allem anhand der „Banlieues“, d.h. den wenig integrierten und marginalisierten städtischen Randgebieten Frankreichs, der Kosmos der Perspektiven „von unten“ entfaltet. Und hierbei wie auch in den folgenden Abschnitten kommt ein Effekt zur Wirkung, den schon Sven Nadolny in seinem Roman „Selim“ genutzt hat, indem er die Geschichte der Bundesrepublik aus der Perspektive mehrerer Personen schildern lässt, unter denen ein türkischer Einwanderer die zentrale Position einnimmt. So ist zwar die nachkoloniale Situation Frankreichs ebenso wie die Geschichte der Bundesrepublik auch faktisch durch die unterschiedlichen Gruppen von Migranten geprägt und dies in weit stärkerem Maße, als dies die Ideologie der herrschenden politischen Klasse wahrnehmen will. Zugleich wird aber dadurch auch analytisch ein Entfremdungseffekt genutzt, der diesen Gruppen strukturell geradezu aufgezwungen wird und sich in der großen Destruktivität des Generationenkonfliktes in den algerischen, tunesischen und portugiesischen Einwanderer-Familien zeigt, in denen die Eltern die Mühen ihrer Auswanderung und ihren kleinen Wohlstand häufig mit dem Scheitern der nachfolgenden Generation oder – noch schlimmer – mit einer Entfremdung bezahlen, die ihnen im Extremfall als Verachtung von Seiten ihrer Kinder entgegentritt, von denen manche Jahrhunderte „im Zeitraum von zwei Jahrzehnten“ durchqueren (754) mussten, so eine junge Algerierin. Die Auswirkungen der sozialstrukturellen Veränderungen der letzten Jahrzehnte auf Familienstrukturen, die hier quasi im Zeitraffer zur Wirkung kommen, durchziehen das gesamte Buch, und werden im letzten Abschnitt „Widersprüche des Erbes“ nochmals explizit aufgenommen, dazu später mehr. Im zweiten Abschnitt „Ortseffekte“ wird nach einer kurzen Einführung in das Bourdieusche Konzept des sozialen Raumes bzw. des sozialen Feldes die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den französischen Vorstädten und den amerikanischen Schwarzen-Ghettos verdeutlicht. Unter dem Titel „Abdankung des Staates“ werden im dritten Abschnitt der Rückzug der sozialstaatlichen Institutionen geschildert am Beispiel der Wohnungspolitik von vor zwanzig Jahren und ihren damals durchaus vorhersehbaren Auswirkungen, sowie der heute in Angesicht dieser Konsequenzen ebenfalls stattfindende Rückzug der Institutionen sozialer Kontrolle, z.B. von Polizei und Justiz, was eine Art rechtsfreien Raum zurücklässt, unter dem vor allem die Ausgegrenzten selber zu leiden haben. Hier wird sichtbar, was sich hinter den aktuellen Debatten um Kriminalitätspolitik alltagspraktisch für die Betroffenen verbirgt. Der vierte und umfangreichste Abschnitt lässt unter dem Titel „Abstieg und Niedergang“ die Veränderungen der Arbeitswelt beispielhaft in Automobilindustrie, Handel, und Landwirtschaft lebendig werden und verdeutlicht, dass mit den sozialstrukturellen Veränderungen auch das traditionelle Arbeitermilieu verschwindet, das in Frankreich bis zum Niedergang der kommunistischen Partei noch eine ganz andere kulturelle Grundlage hatte als in der Bundesrepublik, was sich z.B. in der wesentlich größeren Vehemenz von Streiks zeigt, zuletzt der Arbeitslosenbewegung. Mit dieser Auflösung, die sich zunehmend in der Ersetzung von Stammarbeitern durch befristet Beschäftigte und dem Niedergang der Gewerkschaften zeigt, verlieren diese Gruppen ihre Möglichkeit, sich als kollektive Subjekte zu organisieren als Voraussetzung der politischen Einflussnahme. Durch die Augen der Betroffenen von „unten“ betrachtet erscheinen auch die Einführung von Gruppenarbeit oder die Einschwörung der Arbeitnehmer auf die Unternehmensziele (das ganze unterstützt von Human Relation Experten und ihren Beratern aus dem psychosozialen Feld) als Teil dieser Auflösungserscheinungen, von denen nicht nur die traditionelle Arbeiterschaft, sondern zunehmend auch die (kleinen) Angestellten und Selbstständigen aus den Mittelschichten erfasst werden. Im folgenden Abschnitt über „die intern Ausgegrenzten“ kommt die Misere des Schulsystems zum Ausdruck, dem Bourdieu schon in früheren Arbeiten zentrale Aufmerksamkeit gewidmet hat, ist es doch vor allem das Bildungssystem, in dem das durch die Familie mitgegebene ökonomische, soziale und kulturelle Kapital realisiert, erweitert oder verteidigt wird – oder eben auch nicht. So wird heute zunehmend klar, dass die Ausweitung des schulischen und universitären Bildungssystems unter dem politischen Motto der Gleichberechtigung sowohl die Entwertung der traditionellen beruflichen Bildung, d.h. von Industrie- und Handarbeit, wie auch der erworbenen Abschlüsse zur Folge hatte, die Absolventen dieses Systems ihre Mühen also schon von vorneherein abgewertet wissen. Den Zorn darüber richten die Jugendlichen dann gegen die Institution, die sie in diese Situation bringt, dies eine Grundlage zunehmender Gewalt in den Schulen sowohl gegen Lehrer wie Mitschüler. Und dieser Gewalt kann auch in den Familien aus dem hier zur Sprache kommenden marginalisierten Milieus aufgrund der Auflösung elterlicher Autorität, deren Sozialschicksal die Jugendlichen ja gerade entkommen wollen, nur wenig entgegengesetzt werden. Die Sprengkraft dieses Generationenkonfliktes wird im sechsten Abschnitt „Widersprüche des Erbes“ nochmals gebündelt, und lässt die zentrale Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung für die gesellschaftliche Reproduktion hervortreten. Zwar ist die „Weitergabe des Erbes ... heute in allen gesellschaftlichen Kategorien (wenn auch nicht in gleichem Maße) vom Urteil der Bildungsinstitutionen abhängig“, aber zugleich bleibt die Familie „der Uterus des gesellschaftlichen Werdegangs des Erben und seines Verhältnisses zu diesem Werdegang“ (651f.), und damit befindet sich die Familie „am Ursprung der allgemeinsten Form gesellschaftlichen Leidens“ (656). Bourdieu hat bis heute noch keine eigene Veröffentlichung zur Familie vorgelegt, aber das Thema durchzieht das ganze Werk, angefangen mit seinen ethnologischen Arbeiten über die kabylischen Familien Nordafrikas oder die bäuerlichen Familien aus dem Bearn im Südwesten Frankreichs, aus dem er selber stammt (in: Sozialer Sinn, 1987). Und die besondere Beschäftigung mit dem familiären Erbe im umfassenden Sinn verweist auf seine zentrale Bedeutung als Mechanismus gesellschaftlicher Reproduktion. In seinen Arbeiten kommt Bourdieu immer wieder auf den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Persönlichkeitsstruktur, zwischen gesellschaftlichen und mentalen Strukturen, zwischen gesellschaftlichem Feld und Habitus zu sprechen, wovon auch sein Interesse an Kulturanthropologie und Psychoanalyse zeugt, aber es ist selten so explizit wie hier und es bleibt zu hoffen, dass sich dies einmal in einer größeren Arbeit niederschlägt. Am Beispiel des Vater-Sohn Verhältnisses verdeutlicht er Widersprüche und Leiden, die sich aus der Kluft zwischen den eigenen Wünschen und den elterlichen Erwartungen ergeben, bzw. zwischen diesen Erwartungen und Wünschen und den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Realisierbarkeit. Sieben Erzählungen schließen sich an, die zu den am stärksten beeindruckenden des Buches gehören: Sébastian, politischer Journalist, aus einer „‘kleinst’-bürgerlichen“ spanisch-marokkanischen Familie, der von seinen ambivalenten Gefühlen gegenüber den Ambitionen der Eltern erzählt; die junge Lehrerin Corinne, hin und her gerissen zwischen ihrem bäuerlichen Herkunftsmilieu und ihrem Versuch auszubrechen; der 19jährige Frédéric aus kleinbürgerlichem Haus, Mitglied bei der rechtsextremen Front National, gefangen im Konflikt mit dem Vater; Hélène, 50 Jahre, Filmcutterin, geschieden, die exemplarisch steht für die Generation von Frauen, die ihre „Unabhängigkeit“ mühsam lernen mussten; der Algerier Abbas, pensionierter Arbeiter, der das familiäre Drama seiner Übersiedlung nach Frankreich, den Konflikt mit seinem Vater und die Kluft zwischen sich und seinen Kindern schildert; und Farida, ebenfalls aus Algerien, die von ihrem Vater jahrelang in der Wohnung eingesperrt wird und dennoch einen Weg zu ihrer Emanzipation findet. Den Abschluss bildet ein kurzes Gespräch mit einer 80jährigen, unverheirateten Frau aus bürgerlichem Milieu auf der Unfallstation eines Krankenhauses, die mit der „Wahrheit ihrer Einsamkeit“ umzugehen versucht. In einem Post-Skriptum formuliert Bourdieu nochmals den politischen Anspruch des Buches, „der Wahl zwischen zwei Übeln zu entgehen, nämlich einerseits der technokratischen Arroganz, die beansprucht, die Menschen zu ihrem Glück zwingen zu wollen, und andererseits der demagogischen Kapitulation, die die Regeln des Marktes und die Sanktion der Nachfrage einfach hinnimmt“ (824). Zwar bleibt seine Skepsis vor der „Wirksamkeit soziologischer Botschaften“ bestehen, aber immerhin „eröffnen sie doch jenen, die leiden, eine Weg, ihr Leiden auf gesellschaftliche Ursachen zurückzuführen und sich solcherart vom Gefühl eigenen Verschuldens zu befreien“ (825f.). Dennoch überrascht nach Lesen des Buches und in Kenntnis der Bourdieuschen Analyse der Reproduktion sozialer Ungleichheiten der Optimismus der Schlussformulierungen. „Was die Sozialwelt hervorgebracht hat, kann die Sozialwelt mit einem solchen Wissen ausgerüstet auch wieder abschaffen. Eines ist jedenfalls sicher: nichts ist weniger unschuldig, als den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen“ (826). Das vehemente, manchmal pathetisch klingende Eintreten für die Eigenständigkeit der Wissenschaft, vor allem ihre Verteidigung vor den Mechanismen des Marktes, bei gleichzeitiger Analyse der wissenschaftsspezifischen Voreingenommenheiten, wird hier – so deutlich wie selten zuvor bei Bourdieu – verbunden mit dem Anspruch und dem Auftrag der Soziologie, nicht akademisch zu bleiben, sondern sich einzumischen in die drängenden politischen Fragen der Zeit. Was macht nun dieses Buch bzw. den darin zum Ausdruck kommenden Denkstil für TherapeutInnen wichtig? Es bietet auch für den soziologischen Laien eine gut lesbare und mit wenig theoretischem Ballast befrachtete erste Begegnung mit einer der zentralen soziologischen Denkschulen der Gegenwart. Es bietet ein Kaleidoskop gesellschaftlicher Positionen und Perspektiven zum Wandel in Familie und Generationenbeziehungen, zu Wohnort, Schule, Beruf, Arbeit und Arbeitslosigkeit, und den Verwerfungen einer multikulturellen Gesellschaft, alles Problemlagen, die für die Bundesrepublik in gleicher oder vergleichbarer Art bestehen. Es bietet Reflexionen über eine am Gegenstand entlang entwickelte Methode des Interviews und Methodologie der Analyse und des Verstehens. Und in Übertragung auf das Feld der Psychotherapie verweist es auf auch hier mögliche Wege zwischen einer naiv subjektivistischen, auf die Macht des Erlebens und die Evidenz des Wahrgenommenen pochenden alltagspraktischen „Theorie“ und einer sich in modelltheoretische Spekulationen zurückziehenden Theorie mit geringer oder fehlender empirischer und alltagspraktischer Anbindung.
(Erstveröffentlichung in Familiendynamik Heft 4, 1997, S. 440-444)
Eine weitere Rezension der Originalausgabe von Thomas Lemke
Eine Powerpoint-Präsentation von Prof. Günter Roth über "Soziale Problemlagen und Sozialraumanalyse", die sich intensiver mit dem Ansatz von Bourdieu auseinandersetzt
"Das Elend der Welt, der Skandal der Arbeitslosigkeit und eine Erinnerung an die Sozialutopie Ernst Blochs": Ein Essay von Pierre Bourdieu, dem eine Rede zugrunde liegt, die der französische Soziologe anlässlich der Verleihung des Ernst-Bloch-Preises der Stadt Ludwigshafen gehalten hat
Pierre Bourdieu: Position und Perspektive (Auszug aus dem vorliegendem Buch)
Pierre Bourdieu: Narzissenweg (Auszug aus dem vorliegendem Buch)
Verlagsinformation:
"Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen!" - so lautet das Credo dieser außergewöhnlichen Studie unter der Leitung Pierre Bourdieus. Dieses umfassende soziologische Meisterwerk liegt nun erstmals als gekürzte Studienausgabe vor. Menschen, die sonst weder zu Wort kommen noch gehört werden, berichten über ihr alltägliches Leben, ihre Hoffnungen und Frustrationen, Verletzungen und Leiden. In ihrer Zusammenschau ergeben diese Lebens- und Gesellschaftsbilder ein schonungsloses Röntgenbild der gegenwärtigen Gesellschaft, geprägt von zunehmendem Konkurrenzdruck, struktureller Massenarbeitslosigkeit, Sozialabbau, gesellschaftlicher Marginalisierung immer breiterer Bevölkerungsgruppen.
Vorwort zur Studienausgabe
Wann und unter welchen Umständen gerät ein Werk zum Klassiker? Aller Erfahrung nach hängt dies vom Zusammenspiel einer ganzen Reihe von Faktoren ab: Verkaufserfolg, Zahl der Neuauflagen, Rezeption in Fachzeitschriften, Medienecho - insbesondere in den Printmedien und ihren Feuilletons, Ehrungen und Preise seitens anerkannter Weihe-Institutionen der jeweiligen Genres und Disziplinen, Platzierung in den Bestsellerlisten und Hitparaden empfohlener Lektüren, Präsenz im International Citation Index etc. etc. Bei wissenschaftlichen Werken kommt dann in der Regel noch, meist unbewusst und implizit, das Kriterium hinzu, dass ein zu kanonisierender künftiger Klassiker seiner Disziplin nicht mehr unter den Lebenden weilen sollte. Das hier erstmals als Studienausgabe vorgelegte Werk "Das Elend der Welt" scheint alle diese Kriterien zu erfüllen und selbst noch dazu beizutragen. Pierre Bourdieu, die aus dem Autorenkollektiv hervorstechende Figur des wohl meistgelesensten Sozialwissenschaftlers der Nachkriegszeit und weltweit bekannten und anerkannten engagierten Intellektuellen, hat uns im Jahre 2002, noch relativ jung an Jahren, verlassen. Im Rahmen seines unglaublich breiten und reichen Werkes, zu dem so wichtige Studien wie "Die feinen Unterschiede" oder "Sozialer Sinn" zählen, nahm "Das Elend der Welt" eine Sonderstellung ein: Es handelt sich um eine ebenso einfühlsame wie skalpellscharfe Sozioanalyse der französischen Gegenwartsgesellschaft, die den Nerv der Zeit so genau zu treffen schien, dass dieses soziologische Werk von fast 1.000 Seiten bereits im ersten Jahr nach Erscheinen mehr als 100.000 Mal über den Buchladentisch ging und Leser erreichte, die ansonsten an soziologischer Fachliteratur kein besonderes Interesse hatten. Das schwere Opus wurde des Weiteren zur Vorlage für Theaterinszenierungen an hervorragenden Bühnen und Inspirationsquelle für Dokumentarfilme sowie auch eine ganze Reihe weiterer wissenschaftlicher Studien. Für eine adäquate Einschätzung der Tragweite und Bedeutung dieses Werkes muss auch in Rechnung gestellt werden, dass es bald in verschiedene Sprachen übersetzt und sehr erfolgreich vertrieben wurde, was dem Vorurteil Hohn sprach, es handele sich hier um eine reine Ethnografie Frankreichs ohne von besonderem Interesse für Zeitgenossen außerhalb des Hexagons. Auch die hier unter Beweis gestellte Kontextunabhängigkeit bzw. zeitdiagnostische Qualität jenseits nationaler Sonderwege und -lagen trug ihren Teil dazu bei, aus "Das Elend der Welt" schnell ein klassikerverdächtiges Werk zu machen, welches nur seiner schon voraussehbaren Kanonisierung harren brauchte. Auch die deutschsprachige Übertragung von "La misère du monde" fand schnell eine breite Leserschaft, wurde in den Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen als herausragendes Werk gepriesen, wurde repliziert wie in der jüngst erschienenen Studie "Gesellschaft mit begrenzter Haftung" (1), zur Inspirationsquelle junger Dramaturgen wie Ostermaier (der in einem Gespräch mit Pierre Bourdieu an der Schaubühne in Berlin auf gezielte Anleihen verwies), ja wurde sogar vom frisch gekrönten Nobelpreisträger Günter Grass als Zeichen setzendes und nach Nachahmung verlangendes Vorbild für die Gesellschaftsanalyse und -kritik diesseits des Rheins gepriesen (2). Nun wäre Pierre Bourdieu zwar sicherlich sehr froh über das Erscheinen dieser Studienausgabe, dies allerdings kaum aufgrund irgendeines erwartbaren Weihe-Effektes. Ganz im Gegenteil! Bourdieu wusste allzu gut, dass die Aufnahme in den Olymp der Klassiker und ihre Aura kontemplativer Gelehrsamkeit auch eine Art hochkarätiges Staatsbegräbnis für einen zu Lebzeiten höchst unbequemen Denker und sein Werk darstellen kann und Ehrungen solcher Art auch entwaffnen können. Dass dieses Werk, welches ihm so sehr am Herzen lag, in Gestalt einer Studienausgabe jetzt einem breiteren Publikum leichter zugänglich wird und darüber hinaus in einer Form, die seinem Anliegen, zur Schulung eines soziologischen Blicks und Zugriffs auf gesellschaftliche Wirklichkeit beizutragen, gerecht wird, wäre ihm hingegen sicherlich sehr lieb und teuer gewesen. Es handelt sich ja gewissermaßen um ein Lehrstück in engagierter sozialwissenschaftlicher Forschung, mit Aufforderungscharakter es ihm nachzutun und an die heutzutage immer mehr von einem zeitgeistgemäßen und mediengängigen Essayismus verdrängte Tradition einer Soziologie als Krisenwissenschaft anzuknüpfen. Der Charakter einer Studienausgabe passt hervorragend zu einer solchen Gattung sozialwissenschaftlicher Diskurse, weil es hier wesentlich darum geht, eine spezifische Auffassung des soziologischen Handwerks zu vermitteln. Dies allerdings nicht in Gestalt eines enzyklopädischen Überflugs theoretischer Grundbegriffe und einer Litanei methodologischer Rezepte, sondern mittels der Demonstration einer spezifischen Haltung in Aktion, eines wissenschaftlichen Ethos', der sich in diesem Werk sehr unaufdringlich, dafür aber umso beeindruckender zur Geltung bringt. Der Leser wird zu einer Reise in die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Gegenwart eingeladen, eine zugleich vertraut und fremd erscheinende Welt, in der er auf Zeitgenossen trifft, die ihm aus ihren Alltagsleben berichten, von ihren großen und kleinen Nöten und Sorgen, ihren Hoffnungen und Desillusionierungen. Diese Zeugnisse werden von den Interviewern jeweils eingeleitet und kommentiert, aus ihrer vermeintlich irreduziblen Einmaligkeit individueller Schicksale herausgelöst und so kontextualisiert, dass aus diesen "Menschenbildern" "Gesellschaftsbilder" werden und der Leser sich in ihnen spiegeln kann. Was man hierbei "studieren" kann, ist eine spezifische Gebrauchsweise der verstehenden Methode der Sozialwissenschaften, die einen Weg eröffnet, sinnhaft nachzuvollziehen, warum sich Mitmenschen so verhalten wie sie sich verhalten, denken was sie denken und leben wie sie leben, ohne dass man sie dafür bemitleiden und verlachen müsste. Hierbei verbleiben epistemologische Prämissen, theoretische Prinzipien und methodologische Regeln gewollt im Hintergrund und stellen dadurch ihre Reflexivität und analytische Schärfe umso eindrücklicher unter Beweis, als hier keinerlei Zugeständnisse an Rituale akademischer Distinktion, Fachjargon und Zitierfetischismen gemacht werden. Die Kunst des soziologischen Handwerks besteht hierbei darin, wie Bourdieu es mit einer Paraphrase Flauberts auszudrücken pflegte, "das Banale gut zu malen". Diese Kunst in Form einer preiswerten Studienausgabe gerade angehenden Sozialwissenschaftlern leichter zugänglich zu machen, ist aus allen diesen Gründen sehr löblich, hat aber auch ihren Preis: Der Umfang des voluminösen Buches musste reduziert werden, was eine Reihe schwieriger Entscheidungen mit sich brachte. Schon die deutschsprachige Erstausgabe war gegenüber dem Original um rund 20% ihres Seitenumfanges gekürzt. Damals stand dem Autor dieser Zeilen, der die Übertragung ins Deutsche koordinierte, noch Pierre Bourdieu mit Rat und Tat zur Seite, dieses Mal hingegen mussten die Kürzungen in eigener Regie nach bestem Wissen und Gewissen vollzogen werden. Verzichtet wurde u.a., nicht ohne deutliche Dissonanzen und Bedauern, auf die zwei Beiträge Loic Wacquants. Dessen ethnografische Studien aus dem Innern des US-amerikanischen Ghettos dienten im Gesamtbild des Bandes als Kontrastfolie, an der leichtfertige Gleichsetzungen von Ghetto dort und französischer Banlieue hier kritisch unterlaufen werden sollten. Da es in der deutschen Studienausgabe unter den gegebenen Beschränkungen darum gehen muss, ein weiterhin möglichst breites Spektrum an Szenarien einer Soziografie Frankreichs zu präsentieren und hierbei nicht zuletzt auch soziologische Trennschärfe zwischen Banlieue dort und Vorstadt hier zu wahren, schien dieses Opfer gerechtfertigt, umso mehr als die umfassendere deutschsprachige Übertragung weiterhin zugänglich bleibt und bei Interesse und Bedarf bemüht werden kann. Es bleibt nach diesen kurzen Vorbemerkungen nur noch zu wünschen, dass die vorliegende Studienausgabe ihren Zweck erfüllen möge, indem sie eine Form engagierter und kritischer Sozialforschung lebendig halten hilft, die unsere Gegenwartsgesellschaften möglicherweise nötiger denn je zu haben scheinen.
Franz Schultheis
(1) Franz Schultheis, Kristina Schulz (Hg.) : "Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag", Konstanz 2005. (2) Siehe das von Arte am 5. Dezember 1999 beim Themenabend "Günter Grass" ausgestrahlte Gespräch zwischen Pierre Bourdieu und dem neuen Nobelpreisträger. Das Interview wurde in Teilen in DIE ZEIT und Le Monde abgedruckt.
Inhaltsverzeichnis:
Vorwort zu Studienausgabe 9 Editorische Vorbemerkung zu Erstausgabe 12 An den Leser 13
Position und Perspektive
Pierre Bourdieu: Position und Perspektive 17 Pierre Bourdieu: Narzissenweg 19 Abdelmalek Sayad: Eine deplazierte Familie 35 Rosine Christin: Trautes Heim 51 Patrick Champagne: Die Sicht der Medien 60 Pierre Bourdieu: Der Lauf der Dinge 69 Gabrielle Balazs: Eine Fehlinvestition 87 Gabrielle Balazs: Die Ehrenrettung 94 Patrick Champagne: Der letzte Unterschied 101 Ortseffekte
Pierre Bourdieu: Ortseffekte 117 Die Abdankung des Staates
Pierre Bourdieu: Die Abdankung des Staates 127 Pierre Bourdieu: Die Unredlichkeit der Institution 134 Pierre Bourdieu, Gabrielle Balazs: Drahtseilakt und double-bind-Effekt 136 Patrick Champagne: Aus der Sicht des Staates 143 Remi Lenoir: Unordnung bei den Ordnungshütern 149 Remi Lenoir: Ein lebender Vorwurf 154
Abstieg und Niedergang Michel Pialoux, Stéphane Beaud: Stammarbeitnehmer und befristet Beschäftigte 173 Michel Pialoux: Der alte Arbeiter und die neue Fabrik 183 Rosine Christin: Nachtarbeit 198 Pierre Bourdieu: Das Ende einer Ära 210 Michel Pialoux: Die Verwirrung des Delegierten 214 Rosine Christin: Stumme Zeugin 232 Pierre Bourdieu, Gabrielle Balazs: Ein labiles Gleichgewicht 238 Pierre Bourdieu: Am seidenen Faden 247 Pierre Bourdieu: Ein verlorenes Leben 258 Patrick Champagne: Der Absturz 269
Die intern Ausgegrenzten
Pierre Bourdieu, Patrick Champagne: Die intern Ausgegrenzten 283 Sylvain Broccolichi: Ein verlorenes Paradies 288 Sylvain Broccolichi, Françoise Œuvrard: Das Räderwerk 302 Rosine Christin: Die Französischstunde 310 Sylvain Broccolichi: Ein Kräfteverhältnis 314 Gabrielle Balazs, Abdelmalek Sayad: Die Gewalt der Institution 318
Widersprüche des Erbes Pierre Bourdieu: Widersprüche des Erbes 337 Charles Soulié: Ein kompromittierender Erfolg 343 Abdelmalek Sayad:Der Fluch 350 Abdelmalek Sayad: Die Emanzipation 372 Gabrielle Balazs: Einsamkeit 383
Verstehen
Pierre Bourdieu: Verstehen 393 Pierre Bourdieu: Post-Scriptum 427 Franz Schultheis: Deutsche Zustände im Spiegel französischer Verhältnisse 430
Über den Autor/Herausgeber: Pierre Bourdieu (1930 - 2002) war einer der bekanntesten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Seit 1981 hatte er einen Lehrstuhl am Collège de France.
Über die Autoren:
Gabrielle Balazs, Forscherin am Centre de Sociologie Européenne/Collège de France, Paris.
Stéphane Beaud, Dozent an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris.
Pierre Bourdieu, Professor für Soziologie am Collège de France, Paris.
Sylvain Broccolichi, Forscherin beim CNRS, Paris.
Patrick Champagne, Forscher beim INRAS/CNRS, Paris.
Rosine Christin, Mitarbeiterin beim Centre de Sociologie Européenne/Collège de France, Paris.
Remi Lenoir, Professor für Soziologie an der Universität Paris I.
Françoise Œuvrard, Forscherin beim Ministerium für Erziehungswesen, Paris.
Michel Pialoux, Maître de Conférence an der Universität Paris V.
Abdelmalek Sayad, Directeur de recherche beim CNRS, Paris.
Franz Schultheis, Leiter des Départments de Sociologie der Universität Genf
Charles Soulié, Forscher beim Institut National des Etudes démographiques, Paris.
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