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Neuvorstellung zur Übersicht
28.02.2007
Jochen Schweitzer, Arist von Schlippe: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Das störungsspezifische Wissen
Schweitzer, von Schlippe: Lehrbuch II Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006

452 S., zahlr. Abb., Paperback

Preis: 39,90 €
ISBN-10: 3525462565
ISBN-13: 978-3525462560
Vandenhoeck & Ruprecht





Tom Levold, Köln:

Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe sind ein außerordentlich erfolgreiches Autorenpaar. Ihr Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung entwickelte sich zu recht zu einem echten Kassenschlager und wird gegenwärtig in der 9. Auflage von Vandenhoeck & Ruprecht vertrieben. Nun haben beide ein neues Werk vorgelegt, das erheblichen Sprengstoff für den Diskurs über die Frage enthält, was denn nun systemische Therapie ist und sein soll - eine Frage, die sich gerade angesichts der aktuellen berufspolitischen Entwicklungen und der diesbezüglichen Positionierung der Systemischen Therapie nachhaltig stellt. Dass die Autoren diesen Band flugs zum „Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II - Das störungsspezifische Wissen“ deklarieren, markiert - wenn man nicht einfach Marketinggesichtspunkte gelten lassen will - den programmatischen Anspruch dieses Bandes, an dem er sich messen lassen muss.
Doch der Reihe nach. Wie der Untertitel schon andeutet, handelt es sich um einen Materialband, der Theorie und Praxis der systemischen Theorie und Beratung nicht entlang epistemologischer oder methodologischer Fragestellungen entfaltet, sondern sich zur Aufgabe gemacht hat, anhand einer Vielzahl von sogenannten „Störungsbildern“ zusammenzutragen, was innerhalb des systemischen Ansatzes an Wissen hierzu verfügbar ist. Auch wenn es seit der Frühzeit der Familientherapie eine Vielzahl von systemischen Monografien und Aufsätzen über konkrete Problembereiche gegeben hat, ist die Orientierung an Störungen bislang nicht gerade ein Leitmotiv der Systemischen Therapie gewesen. Das Wissen über solche spezifischen Konstellationen und Behandlungsansätze ist daher recht verstreut und wird am ehesten mit einzelnen „Experten“ in Verbindung gebracht, die in ihren jeweiligen klinischen Kontexten mit spezifischen Klienten- bzw. Patientengruppen arbeiten und dieses Wissen auch in Vorträgen, Workshops und Veröffentlichungen weitergeben.
Dieses Buch versucht eine Zusammenschau dieses Wissens. In drei Abschnitten (Systemische Psychotherapie mit Erwachsenen, Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und Systemische Familienmedizin) stellen die Autoren, die übrigens von einer eindrucksvoll prominenten KollegInnen-Gruppe unterstützt worden sind, über 20 Störungsbilder im einzelnen vor.
Die Vorgehensweise ist dabei jeweils identisch. In einem ersten Schritt wird das „Störungsbild“ vorgestellt. In ihrem Vorwort betonen die Autoren, dass „es bei allen Beschreibungen von Symptomen, Diagnosen, Prognosen und Prävalenzen um Bilder von Störungen geht, nicht um Störungen an sich“ (S. 12). Da die Präsentation der Störungsbilder sich aber ganz eng an den ausführlich zitierten ICD-10 anlehnen, geht diese semantische Differenzierung leider immer wieder mal verloren. Diese Gefahr war den beiden offensichtlich klar: „(Die Störungsmetapher) … kann dazu verleiten, eine solche Störung unabhängig von der Beschreibung eines Beobachters für eine Tatsache an sich zu halten. Wir gehen in unseren Kapiteln in der Beschreibung der jeweiligen Störungsbilder durchaus in dieses Denken hinein, versuchen aber - hoffentlich erfolgreich -, die Leserinnen und Leser im weiteren Verlauf auch wieder hinauszuführen“ (11). Dies wird dadurch versucht, dass jeweils auf die Beschreibung der Störungsbilder ein Abschnitt über typische damit verbundene Beziehungsmuster folgt, in dem kurz und knapp familiendynamische Befunde skizziert werden, die im Zusammenhang mit konkreten Störungsbildern gemacht wurden. Hier finden wir die bekannten Konzepte wie Triangulierung, Verstrickung, Loyalitätskonflikte, symmetrische Eskalationen und andere Modelle der sogenannten „Kybernetik erster Ordnung“ in ihrer besonderen Zuordnung zum entsprechenden Thema wieder. Dies ist durchaus berechtigt, da die Kybernetik zweiter Ordnung ja solche Modelle nicht ersetzen kann, sondern nur einen Rahmen bietet, innerhalb dessen diese Konzepte selbst der Beobachtung und Reflexion zugänglich werden. In einem dritten Abschnitt werden dann unter dem Titel „Entstörungen“ aus dem breiten systemischen Repertoire jeweils bewährte Methoden, Techniken und Interventionen aufgeführt.
Das alles ist in der den Autoren eigenen souveränen, ebenso fundierten wie geschmeidigen Art geschrieben, mit einer gut ausbalancierten Mischung von Übersicht und Detailerörterungen. Man stellt auf angenehme Weise fest, dass die beiden sich jederzeit auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens befinden.
Auf rund 450 Seiten (alleine das kleingedruckte Literaturverzeichnis umfasst 30 Seiten) wird so eine immense Fülle von Informationen und Materialien, Literaturhinweisen und Schaubildern zusammengetragen, die den Band zu einer ausgezeichneten Primärquelle machen, wenn man im therapeutischen Alltag mit einer spezifischen Problemlage oder Symptomatik konfrontiert ist. Er befriedigt dabei mit Sicherheit einen konkreten Orientierungs- und Informationsbedarf, der (gerade bei noch weniger erfahrenen Kolleginnen und Kollegen) nicht unterschätzt werden sollte.
Aber jetzt zum Sprengstoff. Laut Klappentext soll gezeigt werden, dass der „Brückenschlag zwischen dem kontext- und lösungsbezogenen Denken der systemischen Therapie und dem störungsbezogenen Denken der evidenzbasierten Medizin und Psychotherapie möglich ist“. Damit möchte das Buch offensichtlich die Bemühungen um eine Anerkennung der Systemischen Therapie als sogenanntes „wissenschaftlich begründetes Psychotherapieverfahren“ unterstützen. Erst kürzlich ist die ebenfalls an dieser Stelle rezensierte Studie von Sydow et al. über „Die Wirksamkeit der Systemischen Therapie/Familientherapie“ erschienen, an der auch Jochen Schweitzer mitgewirkt hat. Diese Studie hat alle Forschungsergebnisse über die Wirksamkeit systemischer Therapie in einer Metastudie zusammengefasst, die die (aus konstruktivistischer Sicht doch mehr als zweifelhaften) Goldstandardkriterien der sogenannten evidenzbasierten Psychotherapieforschung erfüllen. Unter strategischen Gesichtspunkten einer berufs- und wissenschaftspolitischen Positionierung hat dieses Buch natürlich einen großen Stellenwert, Auskunft über das Selbstverständnis systemischer Therapie vermag es nicht zu geben – das war aber auch nicht sein zentrales Anliegen.
In ihrem Vorwort nehmen Schweitzer und von Schlippe explizit Bezug auf dieses Buch: „Unser Buch versteht sich als das therapie- und beratungspraktische Geschwister dazu“ (13). Das überrascht nun doch, übernimmt der Geschwisterband doch ohne viel Federlesens und mit nur geringfügigen Relativierungen das Störungsverständnis des ICD-10 – er kann ja auch nicht anders, da er ja Wirksamkeit gerade in Bezug auf diese definierten Störungen nachweisen will.
In meiner Rezension des Forschungsbandes hatte ich den darin erweckten Eindruck kritisiert, als sei die Systemische Therapie nicht nur völlig problemlos mit einer klassischen klinischen Diagnostik vereinbar, sondern als sei das auch in der Praxis der Regelfall, heißt es doch dort: „Systemische Diagnostik orientiert sich an den klassischen Ansätzen klinischer Diagnostik (z.B. ICD-10, DSM-IV, standardisierte Fragebögen, Interviews und Beobachtungsverfahren), weist darüber hinaus aber noch folgende Besonderheiten auf: Neben der Symptomatik und den Problemen von Indexpatient und Angehörigen werden auch (sic!) die familiären Interaktionen … und der soziale Kontext erfasst“ (S. 51).
Auch wenn im vorliegenden Buch nun die familiären Interaktionen und der soziale Kontext einen viel größeren Stellenwert erhalten, irritiert doch die ebenfalls mehr oder weniger durchgängige Orientierung am ICD-!0-Katalog von „Störungen mit Krankheitswert“, die in gewisser Weise suggeriert, als sei eine solche Vorgehensweise quasi „state of the art“. Das ist sie nun aber in der Praxis sicherlich nicht.
Auch hier gilt, dass die Beschäftigung mit diagnostischen Klassifikationssystemen wie dem ICD-10 gewiss nicht überflüssig ist, wie es manche Systemiker vielleicht sehen mögen. Die Autoren haben dafür als gewichtiges Argument auf Ihrer Seite, dass unser gesamtes Gesundheitssystem inklusive der psychotherapeutischen Versorgung diese Systeme nutzt, um Zuständigkeiten klären und abrechenbare Leistungen definieren zu können. Wer an diesem System teilhaben möchte, muss sich also tunlichst diesbezüglich qualifizieren und benötigt entsprechende Informationen. Dieses Argument ist aber erst einmal rein pragmatisch: Da der systemische Ansatz sich weit entfernt vom psychotherapiepolitischen Mainstream befindet, müssen Systemiker zwangsläufig unterschiedliche Sprachspiele beherrschen, um für sich und ihre Klienten innerhalb dieses Systems erfolgreich wirken zu können.
Die Beherrschung unterschiedlicher Sprachspiele und ihr kontextangemessener Gebrauch bedeuten aber noch lange keinen „Brückenschlag zwischen dem kontext- und lösungsbezogenen Denken der systemischen Therapie und dem störungsbezogenen Denken der evidenzbasierten Medizin und Psychotherapie“. Und auch im vorliegenden Buch ist nicht erkennbar, wie dieser Brückenschlag denn eigentlich aussehen soll. Er erschöpft sich eher in einer additiven Haltung des „sowohl als auch“, die es anscheinend möglich machen soll, einen innersystemischen konstruktivistischen Diskurs zu pflegen und gleichzeitig die Festlegungen der evidenzbasierten Psychotherapie zu akzeptieren: „Die systemische Therapie hat zwar die Tradition einer gewissen Skepsis (sic!) gegenüber der etikettierenden und festschreibenden Kraft von Diagnosen übernommen. Sie betrachtet diese aber im Sinne einer kooperativen und lösungsorientierten Therapiestrategie nicht mit einer Anti-, sondern einer Sowohl-als-auch-Haltung. Sie ergänzt (!) die klassische Frage ‚Ist die Diagnose richtig oder falsch?‘ durch die Frage ‚Wem nutzt (schadet) die Diagnose wobei? Wozu passt sie?‘ Und je nach der Antwort auf diese Frage hilft sie Patienten, Angehörigen und Behandlern, für sich selbst jene Diagnosen zu präferieren, die ihnen die besten Handlungsmöglichkeiten eröffnen“ (20).
Hier werden beiläufig mit einer Art Weichspülertechnik grundlegende Differenzen aufgelöst, die zum Kernbestand systemischer Identität gehören. Der systemische Ansatz, wie er sich im letzten Vierteljahrhundert herausgebildet hat, beruht auf einer Radikalisierung der Beobachterperspektive, die eben nicht nur „eine gewisse Skepsis gegenüber der etikettierenden und festschreibenden Kraft von Diagnosen“ hat, sondern vor allem auf den wirklichkeitserzeugenden Charakter von Diagnosen kritisch fokussiert, denn welchen Sinn sollte eine Diagnose haben, wenn nicht Etikettierung? Vor diesem Hintergrund lässt sich auch schlecht behaupten, dass „die klassische Frage ‚Ist die Diagnose richtig oder falsch?‘“ um die pragmatische Frage nach dem Nutzen „ergänzt“ würde. Ein systemisches Verständnis würde eher nahelegen, die Frage nach richtig oder falsch als irrelevant und irreführend zu betrachten, da sie durch die Hintertür ein Wahrheitskriterium einführt, von dem sich die systemische Epistemologie längst befreit hat. Eine „Sowohl-als-auch-Haltung“ an dieser Stelle bietet an, die Orientierung an Wahrheitsfragen (richtig oder falsch) zwanglos mit einer pragmatischen Orientierung (Viabilität) kombinieren zu können und unterschlägt dabei, dass das Viabilitätsargument (u.a. von von Glasersfeld) gerade als Alternative zum Wahrheitsprinzip, nicht aber als komplementäre Perspektive eingeführt wurde. Eben nicht „Sowohl-als-auch“!
Wir brauchen diagnostische Einschätzungen, um begründet und nachvollziehbar Handeln zu können, müssen aber gleichzeitig uns selbst daraufhin beobachten, welche Wirkungen unser explizites oder implizites Diagnostizieren auf unser Handeln, die therapeutische Beziehung und den spezifischen therapeutischen Kontext hat. Darum kommen wir nicht herum. Aus diesen Gründen ist die Frage, was denn eine systemische Diagnostik ausmacht, von größtem Stellenwert.
„Für das konkrete Vorgehen in der systemischen Therapie sind bislang (!) psychopathologische Krankheitsklassifikationen und die darauf aufbauende Differenzialdiagnostik weniger bedeutsam als in manchen anderen Ansätzen. Ob sich das angesichts des derzeitigen Trends besonders in der Psychotherapieforschung zu störungsspezifischen statt schulenspezifischen Therapien ändern wird, ist derzeit noch schwer abzuschätzen“ (24). Allerdings lässt sich dieses Buch möglicherweise auch als Intervention zugunsten dieses Trends verstehen, was angesichts der vielen Arbeiten der Autoren verwundert, die doch in eine ganz andere Richtung weisen.
Erstaunlich ist die Behendheit, mit der die Autoren bereit sind, sich an ICD-10-Kategorien auszurichten. Über alternative Positionen zur systemischen Diagnostik ist gerade mal ein einziger längerer Absatz zu finden. Der ICD-10 wird als rein deskriptiv, quasi neutral, beschrieben, der Vorteil wird in der Ablösung des Krankheitsbegriffs durch den Störungsbegriff gesehen und in dem Verzicht auf ontologische und ätiologische Festlegungen. Für ein Lehrbuch ist das in keiner Weise hinreichend. Gerade die Geschichte des ICD-10 ist doch insofern interessant, als hieran exemplarisch die Konstruktion von Krankheiten und Störungen im Kontext gesellschaftlicher und sozialer Entwicklungen hätte aufgezeigt werden können (immerhin gehörte noch bis zur Einführung des ICD-10 1992 die Homosexualität unter der Klasse 302.0 zu den Krankheitsbildern des ICD-9). Es bleibt aber bei einem unspezifischen Hinweis darauf, dass Krankheiten „als Ergebnisse gesellschaftlicher Entscheidungen darüber, was als krank angesehen werden soll und was nicht“ anzusehen sind (17). Auch wie Diagnosen denn im klinischen Alltag tatsächlich behandelt werden, bleibt wenig ausgeleuchtet. Ein sozialwissenschaftlicher Blick darauf könnte ernüchternd wirken. Den Optimismus, dass die vermeintliche Neutralität des ICD-10 im Gesundheitssystem ein rein pragmatische, d.h. weniger zu- und festschreibende Haltung bewirken könne, kann ich aus meiner Erfahrung als klinischer Supervisor jedenfalls nicht teilen.
Die Psychotherapie im allgemeinen ist von ihren Ursprüngen in einen Kampf um ihre Medizinalisierung verstrickt gewesen. Diese Auseinandersetzung hat auch schon den psychoanalytischen Diskurs in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt. Dabei ging es letztlich weniger um epistemologische Fragen als um Anerkennungsfragen und den gesellschaftlichen Status der Psychotherapie. Von Anfang an gab es gute theoretische und praktische Gründe, Psychotherapie nicht als medizinanaloge Behandlung von Patienten zu betrachten, sondern als ein soziales Verfahren, in dem vermittels Interaktion neuer oder veränderter Sinn gestiftet wird, der eine heilsame Wirkung auf Symptome zeitigt und Lösungen für Probleme aufzeigt. Als Leitwissenschaft für diese Betrachtungsweise kommt aber eben nicht die (evidenzbasierte) Medizin in Betracht, sondern eine selbstreflexive Sozialwissenschaft im weitesten und besten Sinne des Wortes. Die Fokussierung auf Kommunikation, Beobachtung und Reflexion in der Systemischen Therapie stellt diese deutlich in einen solchen Zusammenhang. Allerdings hat sich die Medizin-Metapher der Psychotherapie (nämlich Psychotherapie wie ein zu verabreichendes dosierbares, in seiner Wirkung kontrolliert überprüfbares Medikament anzusehen) nicht nur in der Politik, sondern vor allem bei den Stakeholdern der Psychotherapie (Verbandsfunktionären, Krankenkassen, Forschern) weitgehend durchgesetzt. Betroffen sind davon aber nicht nur die Systemischen Therapeuten, sondern alle, die eine beziehungsorientierte Psychotherapie betreiben wollen.
Überlegungen zum Stellenwert von Diagnostik, eine Darstellung ihrer wechselhaften Geschichte, die Nachzeichnung des Diagnostik-Diskurses in der systemischen Therapie: all dies fehlt in den vorliegenden Band bedauerlicherweise weitgehend. Gerade das hätte man sich aber von einem Buch gewünscht, das die Autoren als Lehrbuch verstehen. Die „Sowohl-als-auch-Haltung“ wurde, so könnte man sagen, mit einem eklatanten Theorieverzicht verkauft (der leider auch in der Studie von Kerstin von Sydow et al. zu bemerken ist). Die Pragmatik hat ihren Preis.
Ein Lehrbuch wird für ein Curriculum geschrieben oder basiert auf einem bereits vorhandenen Lehrplan. Insofern stellt sich die Frage, für welches Curriculum dieses Lehrbuch eigentlich gedacht ist. Bislang ist mir kein Weiterbildungsprogramm in Systemischer Therapie bekannt, dass entlang einer Störungssystematik aufgebaut ist. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das in der Lehrpraxis der Autoren der Fall ist. Curriculare Fragen werden in diesem Buch auch überhaupt nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Vor diesem Hintergrund halte ich das Label „Lehrbuch“ für einen Fehlgriff. Mit einem Titel wie „Materialien zum störungsspezifischen Wissen in der systemischen Therapie“ wäre der Inhalt des Buches besser charakterisiert worden.
Insgesamt bleibt ein ambivalenter Eindruck: Das Buch verfügt über eine erhebliche Substanz, bietet ein breites Wissensspektrum dar und gehört keinesfalls zu den Titeln, die man nur einmal in die Hand nimmt und danach für immer ins Regal stellt. Dafür bürgt schon die Kompetenz und fachliche Reichweite der Autoren. Auf der anderen Seite gewinnt man aber doch den Eindruck einer - eher beiläufig daherkommenden, aber bedeutsamen - Fokusverschiebung im systemischen Diskurs immerhin durch zwei führende Persönlichkeiten der systemischen Szene, die von ihnen weder wirklich theoretisch ausgewiesen noch ausreichend deutlich markiert wird. Das pragmatische Motiv einer Verbesserung der Ausgangslage der Systemischen Therapie im Prozess der Anerkennung als wissenschaftlich begründetes Verfahren ist dabei nachvollziehbar - allerdings bleibt die Frage offen, welche Bedeutung dieser Pragmatismus für diejenigen identitätsstiftenden Konzepte des systemischen Ansatzes haben wird, die keineswegs als Komplementärperspektive zum gegenwärtigen Selbstverständnis einer evidenzbasierten Psychotherapie gedacht werden können.
Auch wenn es noch nicht an der Zeit ist, dass sich der Pulverdampf der psychotherapiepolitischen Auseinandersetzungen, die zweifellos tagespolitischer Rücksichtnahmen bedarf, legen kann, scheint eine gründlichere inhaltliche Debatte dieser Fragen doch in der nächsten Zeit angesagt zu sein. Dieser Band könnte einen Anlass dazu bieten.

Literatur:

Sydow, Kirsten von, Stefan Beher, Rüdiger Retzlaff & Jochen Schweitzer (2006): Die Wirksamkeit der Systemischen Therapie/Familientherapie. Göttingen: Hogrefe


Michael M. Schlicksbier-Hepp, Wilhelmshaven: Teufelspakt? Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II - Das störungsspezifische Wissen

Prof. Dr. rer. soc. Jochen Schweitzer, Diplompsychologe mit Professur in Heidelberg, gab zusammen mit Prof. Dr. phil. Arist von Schlippe, Diplompsychologe, psychologischer Psychotherapeut und Lehrstuhlinhaber in Osnabrück und Witten/Herdecke, vor zehn Jahren den inzwischen als Klassiker bekannten ersten Band des seit Ende letzten Jahres zweibändigen "Lehrbuchs der systemischen Therapie und Beratung" heraus, welches inzwischen im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht in der 10. Auflage erschienen ist. Der zweite Band mit dem Untertitel "Das störungsspezifische Wissen" hat inzwischen einige lobreiche Rezensionen erhalten. Schweitzer, von Schlippe und zahlreiche MitautorInnen hätten sich bemüht, mit "der Kunst der Entstörung" eine Brücke zu bauen zwischen dem kontext- und lösungsorientierten Denken der systemischen Therapie und dem an Störungsbildern orientierten Denken der evidenzbasierten Medizin und Psychotherapie. Nun ist es jedoch eine Grundannahme des systemischen Denkens, nicht von außen eine Expertenwertung vorzunehmen, auch nicht, um zu helfen, weil Wertungen sich eben nicht als hilfreich erwiesen haben. Eine stärkere Bewertung, als die vom Experten verhängte Diagnose als Grundlage einer Be-handlung ist aber kaum denkbar.
Der beabsichtigte Brückenschlag der Herausgeber mag dennoch eine verdienstvolle Absicht sein, wenn man weiß, dass die beiden Autoren und Wissenschaftler sich seit Jahren innerhalb und außerhalb der systemischen Gesellschaften um die Anerkennung und wissenschaftliche Legitimierung der Methodik der systemischen Familientherapie bei den etablierten bundesdeutschen therapeutischen Gesellschaften und den Ärzte- und Psychotherapeutenkammern bemühen. In der Tat verdient das Werk auch Bewunderung. Ich wäre sicher nicht so systematisch, wissenschaftlich, fleißig und kreativ bei der Herstellung dieser Brückenkonstruktion vorgegangen. Aber ist der gewählte Weg auch zielführend, oder könnte es sich pointiert formuliert nicht eher als eine Art "Pakt mit dem Teufel" erweisen, der dank einer Hybridisierung unvereinbaren Denkens zu einer Chimärengeburt führen könnte, die nicht lebensfähig wäre? Werden da nicht einige Gefahren übersehen, wenn man zu sehr nach Anerkennung und Legitimierung schielt und die spezifischen Wesensunterschiede zwischen der systemischen und der analytischen, tiefenpsychologischen oder verhaltenstherapeutischen Sichtweise verwischt, um die systemische Therapie für die Traditionalisten annehmbarer zu machen? Und ist systemische Therapie eher eine dozierbare und in Büchern niederzulegende Methodik, oder nicht doch viel mehr eine lebendige Haltung?
Die Konzeptionalisierungen der systemischen, konstruktionistischen Sichtweise unterscheidet sich jedenfalls fundamental von den störungsspezifischen, diagnosegeleiteten Vorgehensweisen der Organmedizin, der biologischen Psychiatrie und im Psychotherapiebereich insbesondere der analytisch-tiefenpsychologischen Schulen. Natürlich gibt es Brücken des Verstehens, doch befinden sich diese nicht im Bereich der Konstruktion einer Störungsdiagnose und der Dekonstruktion derselben durch "Entstörung" des Patienten. Ein störungsspezifisches Denken und eine entsprechende Therapie stellt die vermeintliche Störung in den Fokus, deren professionelle "Entstörung" durch die therapeutische Fachperson am Patienten nach einer entsprechenden Methodik, die sich demzufolge nach der Störungsart verändert, vollzogen wird. Der Kreativität und Originalität der funktionellen Konstruktion verschiedener Anpassungssymptome wird eher der Bereich der Dysfunktion als der eines kreativen Lösungsversuches zugewiesen, der weitere adaptive Lenkung benötigen könnte. Dadurch tritt der Aspekt der Entwicklung eines lebendigen und kommunikativen Systems in den Hintergrund und der Aspekt der Beseitigung eines Störfaktors in den Vordergrund. In diesem Sinne ist bereits die "Lösungsorientierung" in einigen systemischen Ansätzen ein "Problem" im Sinne einer Verursachung von Problemdenken, wenn eine "Lösung" eine Blockade, eine Verfestigung im Sinne eines "Problems" voraussetzt.
Als Lösung gilt dann letztlich eher die Leistung des Therapeuten bzw. seines methodischen Therapieansatzes. Um Krankheitssymptome beseitigen zu können, muß man sie zu Diagnosen zusammenfassen und diese Konstrukte dann behandeln. Diese ärztlichen bzw. therapeutischen Fachkonstrukte bekommen jedoch so eine außerhalb des Erlebens und des Entstehungskontextes des Patienten liegende Eigenidentität und -dynamik. Der Therapeut schafft eine scheinbar objektive dritte Wirklichkeit, die maßgeblich von seinem pathognomonischen Denken inspiriert und bestimmt ist, also von seiner Wirklichkeit, mit der und nach der er beurteilt. Damit wird das Geschehen aus dem Patienten und dem Kontext vom subjektiven wandelbaren Sein in ein scheinbar objektives statisches Verharren verwandelt und kann dann zum Behandlungsobjekt eines anderen, des Therapeuten werden, der dann eben diese Krankheiten oder Störungen behandelt. Dies hat mit der Beziehung auf Augenhöhe zwischen Klient und Therapeut, die im Dialog zweier Subjekte eine gemeinsame Wirklichkeit erschaffen und teilen, nichts mehr zu tun. Soweit die Gegenüberstellung zweier paradigmatisch entgegenstehender Anschauungen über die therapeutische Beziehung zum Gegenüber und zur so genannten Wirklichkeit aus systemischer und nicht systemischer Sicht.
Es lohnt ein vergleichender Blick auf zwei andere paradigmatisch entgegengesetzte Medizinanschauungen bei der arzneilichen Behandlung, nämlich auf die homöopathische Regulationsmedizin und die allopathische Substitutions- und Inhibitionsmedizin, der sich die Schulmedizin verpflichtet fühlt und deren Medikamentengruppen mit der Vorsilbe "Anti-" beginnen. Die Konzepte des systemischen Denkens und der der traditionellen Psychiatrie- und Psychotherapiemethoden ähneln sich ungefähr so, wie die Homöopathie der allopathischen Schulmedizin ähnelt: nämlich überhaupt nicht. Auch wenn es seit Jahrzehnten den schlechten Kompromiß für die Allopathen, die Schulmediziner gibt, die ein wenig Homöopathie verordnen möchten, neben den Arzneimittellehren und Symptomensammlungen (Repertorien) auch Diagnoselisten im Stichwortverzeichnis aufzuführen, behandelt der Homöopath einen Kranken, während der Schulmediziner mit seinen Allopathika Krankheiten, genauer gesagt Diagnosen behandelt. Während der Homöopath den Gesamtorganismus als geistig-seelisch-körperliche Dreieinheit regulationsmedizinisch zur Selbstheilung anregen möchte, bekämpft der Allopath so genannte Krankheitserreger und Krebszellen, ersetzt oder überbrückt gestörte Körperfunktionen und beseitigt Symptome einer Erkrankung. Manchmal ist das notwendig, aber es ist nicht heilsam, es kann weiter helfen, kurieren kann es nicht. Dies tut ohnehin der Patient mit seinem Körper, seinem seelischen Befinden und seinem Geist immer selbst - oder er tut es eben nicht. Medicus curat, natura sanat.
Die Annäherung Schweitzers und von Schlippes an das Denken der Diagnosesteller und Krankheitserfinder soll sicherlich den systemischen Gedanken für die nachwievor vormoderne, traditionelle Schulmedizin wie deren psychologisch-psychotherapeutisches Pendant, die störungs- und komplexdefinierte Psychoanalyse und tiefenpsychologische sowie verhaltenstherapeutische Psychotherapie erleichtern, um vielleicht das systemische Denken durch die Hintertür einzuführen, aber sie ist ein Anachronismus und erinnert wie ein déjà vue an die Anbiederungsbestrebungen der massgeblichen amerikanischen systemischen Therapieschulen vor der allgemeinen Anerkennung der systemischen Therapie in der amerikanischen Psychotherapielandschaft gegen den starken Widerstand der Traditionalisten der Psychoanalyse und Verhaltenstherapie vor über zwanzig Jahren, wobei Letztere aus dem lerntheoretischen Kontext heraus noch am ehesten funktionale Adapatationsmöglichkeiten an den systemischen Gedanken aufweist, als die starren Glaubenssätze der Psychoanalyse über die psychische Verfasstheit des Menschen. Inzwischen sind der systemischen Fraktion schon längst neue, konstruktionistische Flügel gewachsen, im therapeutischen Bereich z.B. mit einem Harry Goolishian oder im wisschaftlich soziologischen und philosophisch diskursiven Bereich mit einer Mary und einem Kenneth Gergen.
Die Gefahren, die ich bei allen guten Absichten in Schweitzers und von Schlippes "Brückenschlag" in die Vergangenheit des "noch herrschenden Systems" mittels eines "Lehrbuches" sehe, beziehen sich dann auch tatsächlich auf den pragmatischen Anwendungsbereich für den syncretistischen Therapeuten, dem es nur darauf ankommt, eine weitere gewinnbringende (in vielerlei Hinsicht) Methode zur Behandlung von "Störungen" zu erwerben, und auf den Bereich der Lehre, in dem Studenten und angehenden Psychotherapeuten die Konstrukte der Diagnosen als Realitäten verkauft werden, als wenn es tatsächlich irgendwelche "Krankheiten" losgelöst vom Individuum und dessen Kontext gäbe, also unabhängige und klassifizierbare Entitäten. Und der Hunger nach solch einem verwertbaren Wissen zum Erwerb einer trügerischen Sicherheit ist immens groß, so groß, wie die Angst vor dem ungeheuren Wagnis, sich auf eine echte Beziehung zu einem Gegenüber einzulassen, ohne das Netz von Vor- und Expertenwissen, das man getrost ganz oft als Vorurteil bezeichnen darf.
Natürlich wird man Schweitzer und von Schlippe zu Gute halten dürfen, dass die diagnosezentrierte Ausrichtung ihres zweiten Lehrbuchbandes eine Realität antizipiert und reflektiert, in der systemisch ausgerichtete Therapeuten bereits faktisch Teil des "faustischen Paktes" über die Abrechnung mit den Kostenträgern, den Krankenkassen und privaten Krankenversicherungen sind. Ihre Zusammenarbeit mit dem Patienten vergüten diese Systeme nur nach der Aushändigung einer Diagnose mit dem derzeitig aktuellen ICD-10-Schlüssel, der "internationalen Klassifikation psychischer Störungen". Dabei dürfte mancher Therapeut nicht nur danach fragen, welche Diagnose dem Patienten nützt oder schadet, sondern auch danach, welche ihm selbst nützt, seinen Aufwand entschädigt zu bekommen. Es stellt sich für mich allerdings die Frage, ob die Vertreter des systemischen Denkens diesen "faustischen Pakt" nicht eher beklagen, als sich ihm anpassen, ja anbiedern sollten? Sollten Schweitzer und von Schlippe der Idee anhängen, dass es mit ihrem Weg gelingen könnte, die Traditionalisten auf dem Psychotherapiemarkt zu unterwandern und sie infiltrativ mit systemischen Ideen zu impfen, sollten sie sich auch das Gesetz der Wechselwirkungen vor Augen halten, nach dem die Diffusion in beiden Richtungen möglich ist.
An einem konkreten Beispiel möchte ich illustrieren, wie Diagnosen - vielleicht durchaus noch harmlos - Unruhe stiften wenn nicht gar schaden und den therapeutischen Prozess erheblich mitbestimmen können. Ein junger Mann wurde jugendpsychiatrisch zuletzt mit der Diagnose einer "prodromalen Schizophrenie", die unter ICD-10 F 21 als "schizotype Störung" kodiert wird, unter anderem auch mit Neuroleptika behandelt. Sehr verantwortungsbewußt wirkt der Patient an seiner eigenen medikamentösen Einstellung mit und führt viele Gespräche, in denen er seine Sorgen insbesondere hinsichtlich seiner - dem Verlauf nach eigentlich sehr guten - Prognose thematisiert. In ängstlichster Selbstbeobachtung bewertete er eine lange Zeit fast alle seine inneren Empfindungen und Gedanken unter dem Aspekt, ob sie einen Hinweis auf einen Rückfall in ein "verrücktes Denken" dergestalt sein könnten, dass nun wieder eine "Psychose" ausbricht oder sich gar die "Erkrankung Schizophrenie" manifestiert und festsetzt. Im Rahmen dieser akribischen Beschäftigung mit "seiner Diagnose" und den damit zusammenhängenden Befürchtungen durchforstete er das Internet nach Krankheitsbeschreibungen, Symptombewertungen und Diagnosenschlüssel. Zeitweise waren seine Gedanken so stark auf seine Befürchtungen eingeengt, dass er wirklich immer mehr verrückt zu werden glaubte. Glücklicherweise gelang es diesem sensiblen und intelligenten jungen Mann immer wieder, im Gespräch mit dem Therapeuten eigene Kontextuierungen herzustellen und auch ein Gefühl für seine "Normalität", seine Individualität und "Außerordentlichkeit" zu entwickeln und die verrückten Erfahrungen zusammen mit den damit verbundenen Leiderfahrungen in verschiedene Zusammenhänge zu stellen und nicht nur in einen Diagnostischen. Somit bekam er auch ein Gefühl für die tatsächliche wie vermeintliche Verrücktheit unserer Welt, unserer Kontexte, die nach unausgesprochenen Übereinkünften für normal gehalten werden und es entwickelte sich Staunen über die eigenen und überhaupt über die menschlichen psychischen Fähigkeiten, "Gutes" und "Böses" zu erleben, zu erfinden, auszuhalten, miteinander zu teilen und dort, wo solche Einteilungen und daraus resultierenden Empfindungen und Reaktionen Leid verursachen, miteinander zu heilen.
Aber auch in der Ausbildung neuer TherapeutInnen sehe ich Gefahren bei der Verwendung des in Schweitzers und von Schlippes zweitem Lehrbuch angewendeten diagnosebezogenen Denkens. Ein letztes kurzes Beispiel: Eine junge Kollegin fragte mich vor dem Beginn ihres Praktikums in meiner Klinik, welche Literatur sie denn lesen solle, um sich gut vorzubereiten. Ich schlug vor, sie könne sich ja, da blickschärfend, unterhaltsam sowie in vielen Kontexten nützlich, mit den Gedanken der "Gewaltfreien Kommunikation" nach Marshall B. Rosenberg vertraut machen und nannte zwei Bücher - aber nur, wenn sie Lust habe. Sie fragte etwas später noch einmal nach, ob sie nicht etwas Kinder- und Jugendpsychiatrisches lesen müsse. Das andere habe doch mehr mit Beziehungen zu tun und sie argwöhnte, ich hätte die Empfehlung wegen privater Belange gegeben und nicht als eine brauchbare Einführung in den Klinikalltag. Ich freute mich über diesen unbändigen Wissensdurst und doch versuchte ich, die Kollegin noch für einen anderen Gedanken zu gewinnen, damit sie erfahre, sich Wissen kontextbezogen im Rahmen lebendiger Beziehungen anzueignen. Ich meinte, dass sie ja täglich mindestens acht Stunden arbeiten würde und wenn es ihr gelänge, während eines Teils dieser Zeit Ohren, Augen und Herz ganz weit für das zu öffnen, was dort mit ihr und den Menschen, denen sie begegne, geschehe, würde sie schon genug zu tun haben und mehr lernen und mitnehmen, als sie je in einem Buch über Kinder- und Jugendpsychiatrie lesen könne. Und über diese Erfahrungen  könnte sie in einen lebendigen Austausch mit denjenigen eintreten, die sie anleiten würden.
Bevor man Wissen speichert, ist es wichtig, seine Haltung zu bestimmen, mit der man das tut. Ein Element dieser Haltung ist das in Erfahrung begründete Wissen, dass es kein Wissen ohne Kontext gibt, auch wenn man seine Erfahrungen niederlegen und systematisieren kann. Doch bereits die Verallgemeinerung von Erfahrung zu objektivierbaren Metakonstrukten, wie sie Diagnosen nun einmal darstellen, beinhaltet im Beziehungskontext viele Irrtumsmöglichkeiten. Ich habe es so begründet: Die Diagnosen und Einteilungen, die man aus den Büchern lernt und die vermeintlichen Ursachen von Krankheiten sind wie Schubladen. Und in Schubladen versteckt man Dinge, die man übrig hat und augenblicklich nicht wirklich benötigt und deshalb am besten auch nicht gebraucht. Ob die systemische Familientherapie ein Lehrbuch über "störungsspezifisches Wissen" und eine Methodik zur "Entstörung" wirklich benötigt, ob nun im wissenschaftlichen oder praxisbezogenen Kontext, möchte ich hiermit ernsthaft bezweifeln, es sei denn, wir müssen uns daran gewöhnen, dass es nicht nur grundsätzlich ganz verschiedene systemische Denkweisen, sondern auch geradezu gegensätzliche Grundannahmen systemischen Denkens gibt. Doch darauf weist das Buch von Schweitzer und von Schlippe nicht hin. Eher scheint mir, die Herausgeber gehen von der Ansicht aus, dass sie das systemische Denken schlechthin vertreten. Auch daran hätte ich nach diesem "Brückenschlag" so meine Zweifel.


Kommentar von Lothar Eder, Mannheim:

Als einer der im Beitrag des Kollegen Schlicksbier-Hepp apostrophierten 'Mitautoren' und damit durchaus auch "Mitträger" der Ideen und Intentionen des Buches von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer verfolge ich in den letzten Wochen aufmerksam die Rezensionen und bin teilweise doch sehr erstaunt über die Heftigkeit der Reaktionen. Scheinbar stellt das Buch für manche einen 'Sündenfall' dar, einen Bruch mit der systemischen Tradition.
Eines vorweg: ich sehe das nicht so, vielmehr erkennt das Buch an, was schon lange der Fall ist - daß nämlich systemische Psychotherapeuten in der Regelversorgung arbeiten und dies nolens volens entlang der Leitlinien u.a. des ICD 10.
Schlicksbier-Hepp schreibt, es sei eine Grundannahme systemischen Denkens, keine Expertenwertung von außen einzunehmen. Ich möchte an dieser Stelle fragen: geht das überhaupt? Wenn ja, hätte der Kollege den Status fortgeschrittener buddhistischer Praxis erreicht, nämlich nur noch wahrzunehmen und nicht mehr zu werten. Ist es in Wahrheit nicht so: wir werten fortwährend und Aufgabe des Therapeuten ist es (dies wiederum in systemischer Manier) diese Wertungen kommunikativ-polylogisch mit den Kunden zu dialogisieren und zu verhandeln?
Auch die soziologischen Unterscheidungen sind durchaus kritikwürdig: hic die 'Traditionalisten' (Psa, TP, VT), hic fortschrittliche (?) Systemiker. Das klingt doch sehr nach Null-eins-Logik.
Es ist ein gutes Ziel, systemisches Denken und Handeln in den Chor der Psychotherapieverfahren einzubringen. Wenn wir allerdings mitsingen wollen, müssen wir die Aufnahme in den Chor beantragen. Was Schlicksbier-Hepp und alle anderen Rezensionen, die mir bislang bekannt sind (Tom Levold, Wolfgang Loth) m.E. zu wenig berücksichtigen, ist die (lösungsorientierte) Frage, inwieweit der ICD, de-ontologisch aufgefaßt, ein guter Leitfaden sein kann, Störungen (wiederum im de-ontologischen Sinn) zu verstehen und zu kategorisieren. Meine These: er kann. Allerdings mit deutlichen Einschränkungen. Ein systemisches Verständnis z.B. von Angst, das sich auf die Organisationsformen der 'Störung' bezieht, kann gegenüber dem ICD hermeneutische Türen aufstoßen, die geradezu revolutionär sind.
Treffend finde ich den Vergleich mit der Leitunterscheidung Allopathie / Homöopathie. Die ST, auch wenn die systemische Community diese Sichtweise im Mainstream nicht schätzt, weist mit ihren Denkfiguren von Selbstorganisation und Selbstregulation erstaunliche Parallelen zu traditionellen antiken Medizin- und Anthropologiekonzepten (z.B: den chinesischen) auf (u.a. Capra hat darauf hingewiesen).

Jürgen Hargens, Meyn: „Der Blickwinkel macht’s!“ So steht es in der SG-Broschüre …

Eines vorweg – ich finde es ein beeindruckendes Werk, das von Schlippe/Schweitzer mit dem sog. „Lehrbuch II“ vorgelegt haben. Allerdings – und das ist die Frage, die mich bewegt – inwieweit trifft das, was dort zusammengetragen wird, noch auf (m)ein systemisches Verständnis.
Im ersten Lehrbuch (1996) taucht der Begriff Krankheit im Register gar nicht auf – nur der Vollständigkeit halber: auch in der Broschüre der SG findet sich dieser Begriff nicht. Das macht für mich einen Unterschied aus zwischen „traditioneller“ Psychotherapie und systemischen Ansätzen.
Noch 2005 schreibt Kurt Ludewig in seiner Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie (Heidelberg): „Die systemische Therapie verzichtet schon aus erkenntnistheoretischen Gründen auf einen Krankheitsbegriff“ (S. 85).
Und an genau dieser Stelle springt für mich das Lehrbuch II wieder auf den „fahrenden Zug der traditionellen Psychotherapie“ – es geht um Krankheiten, um psychische Krankheiten (was auch im Register deutlich wird).
Natürlich – da stimme ich mit vielen überein – kann ich es mir nicht leisten, auf den vorliegenden Wissensstand in dem Sinne zu verzichten, dass ich ihn ignoriere. Das sagt allerdings noch nichts darüber aus, wie ich mit diesem Wissensstand umgehe. Doch ein weiteres kommt hinzu, glaube ich: wenn Sprache Wirklichkeit (er-)schafft, dann könnte es Bedeutung haben, wenn der Untertitel des Lehrbuch II lautet: Das störungsspezifische Wissen.
Wörtlich genommen, begreife ich – die Betonung liegt auf dem „ich“! – das so:
der bestimmte Artikel „das“ verweist auf eine klare, eindeutige, eben bestimmte Sache bzw. Aussage.
störungsspezifische“ – es geht nicht um Kontexte, Personen, Konstruktionen und Möglichkeiten, sondern um Störung, die im Zentrum steht.
Wissen“ – oder noch deutlicher: das Wissen lässt demnach keine andere Möglichkeit zu, sondern bezieht sich somit letztlich auf einen (universellen?) Gültigkeitsanspruch – also auf eine Wahrheit.
Genau um diesen Aspekt dreht sich für mich die Debatte.
Und um den sozialen Hintergrund – glaube ich. Die „systemische Bewegung“, so wie sie sich in den Verbänden organisiert hat, setzt sich das Ziel, „anerkannt“ zu werden. Diesen Aspekt hat Wolfgang Loth in seiner kritischen Rezension deutlich herausgearbeitet. Und es wurde die verbandliche Entscheidung getroffen, dies auf dem Wege zu versuchen, die Kriterien der „traditionellen Entscheider“ zu erfüllen (was u.a. dazu geführt hat, dass wieder öfter von systemischer Therapie/Familientherapie gesprochen wird, obwohl letzteres lediglich ein Setting und kein Vorgehen beschreibt).
Ich habe das nie für eine gute Idee gehalten, denn für mich hat sich die systemische Idee dadurch ausgezeichnet, dass unter ihrem „Schirm“ Spielerisches, Mögliches, Anderes denk- und verhandelbar ist.
Natürlich – da stimme ich Lothar Eder zu – auch systemische PsychotherapeutInnen arbeiten nicht außerhalb sozial konstruierter Wirklichkeiten. Für mich lässt die Perspektive, mit der ich schaue, Unterschiedliches zu. Und ich bedaure, dass die systemische Idee in meinen Augen mit der Anpassung (mir fällt kein „passenderes“ Wort ein) an den ICD-10, mit der Orientierung an traditionellen Überzeugungen dabei sein könnte (oder schon ist), Wesentliches ihres Grundverständnisses aufzugeben.
Wenn Lothar Eder anmerkt, es sei ein gutes Ziel, „systemisches Denken und Handeln in den Chor der Psychotherapieverfahren einzubringen“, dann stimme ich ihm zu, doch was, wenn der bestehende Chor klare Bedingungen stellt? Was geschieht, wenn im Chor nur klassische Stücke gesungen werden und die Neumitglieder moderne Komponisten singen wollen? Und wieso gibt es nur den einen Chor? Und was ist, wenn ich lediglich zum Chorgesang tanzen möchte?
Anders gesagt – ich finde an der ganzen Debatte sehr hilfreich, dass sie wieder grundsätzliche Fragen aufwirft, zum einen die grundsätzliche Frage, was systemisches Denken ausmacht (und ob bzw. inwieweit es sich in andere Konzepte einbinden lässt) und zum anderen die berufspolitische Frage, wie welches Ziel im politischen Feld erreicht werden soll. Und das Ziel ist mir unklar – Anerkennung um jeden Preis?
Das Lehrbuch II ist auf dem Markt, es wird seinen Weg machen und es wird weitere Pfade vorzeichnen. Und mit jeder Entscheidung, die getroffen wird, sind andere Entscheidungen nicht (mehr) möglich. Das ist der Punkt, den ich bedaure, denn ich finde, es stünde der systemischen Bewegung gut an, über mögliche Folgen von Entscheidungen zu reflektieren – und zwar bevor Entscheidungen getroffen werden. Und diesen Aspekt – „was wäre, wenn …“ - vermisse ich in der Diskussion.
Ich persönlich glaube (denn wissen kann ich nicht), dass die systemische Idee einen Teil ihres hilfreichen Potentials im Zuge dieser Anerkennung und Orientierung an der „klassischen Psychotherapie“ aufgeben und zu einer „Methode“ unter vielen anderen werden könnte. Das fände ich mehr als schade.
Helm Stierlin hat dies – wie mir scheint – beinahe vorausgesehen, wenn er in seinem Vorwort zum ersten Lehrbuch schreibt:
„Und dennoch: ungeachtet all meiner guten Wünsche, die dieses Lehrbuch bei seiner Geburt begleiten, beschleicht mich doch die Frage, ob damit nicht auch eine Phase der schöpferischen Anarchie zu Ende geht, die mitzuerleben und wohl auch mitzugestalten nicht zuletzt unserem Heidelberger Team vergönnt war. Bedeutet dies, daß jetzt eine langweiligere Zeit des Ordnens, des Kategorisierens, des Verdeutlichens, des Lehr- und Lernbarmachens, der Verschulung der systemischen Therapie und Beratung eingesetzt hat, die kommen mußte, aber auch zu etwas Wehmut, wenn nicht Besorgnis Anlass gibt?“ (S. 13)


Matthias Ochs, Heidelberg: Kommentar zur Lehrbuch II-Diskussion

Da ich nur an einigen wenigen Kapiteln des Lehrbuches II mehr oder weniger umfangreich mitgearbeitet habe, würde ich als Euphemismus empfinden, mich als „Mitautor“ zu bezeichnen. Dennoch stehe ich sozusagen auch hinter dem Lehrbuch II und möchte mich deshalb auch ein bisschen zu Wort melden.

Störungsspezifität ist nicht gleich Störungsspezifität

Zunächst einmal möchte ich zu überlegen geben, dass da wo „Störungsspezifität“ drauf steht, sehr unterschiedliches drin sein kann: Ja, die inhaltliche Aufteilung des Buches orientiert sich an den Krankheitskategorien des F-Kapitels der ICD-10 (oder psychotherapeutischen Anwendungsbereichen, wie es in der Sprache des neuen Methodenpapierentwurf des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie heißt)... Dennoch stellen die einzelnen Kapiteln in keiner Weise störungsspezifischen systemischen Behandlungsleitlinien dar – wie sie zur Zeit in der akademischen Psychotherapie, Psychosomatik und Psychiatrie ja en vogue sind. Wer den Unterschied zwischen störungsspezifischen Mainstream-Behandlungsleitlinien und den Ausführungen von von Schlippe und Schweitzer in dem Lehrbuch II kennen lernen möchte, dem sei ein Blick in diese sehr zu empfehlen (Behandlungsleitlinien für ICD-10 klassifizierte psychische, psychiatrische und psychosomatische Störungen finden sich vor allem unter den folgenden Leitlinien-Registrierungsgruppen: 038 Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde; 028 Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie; 051 Psychotherapie und Psychosomatik (alle unter http://leitlinien.net einzusehen)). Dazwischen liegen m.E. Welten. Die störungsspezifischen Kapitel des Lehrbuches II stellen eher eine Sammlung vorhandener relevanter systemischer Interventions-, Reflektions- und Konzeptideen zu einzelnen Störungsbereichen dar (wie dies Tom Levold in seiner Rezension ja auch schon ähnlich charakterisiert hat), auf die man zurückgreifen kann - wenn man mag.

Gründe für einen (teilweisen) Einstieg ins „störungsspezifische“ Spiel 

Auch wenn hinlänglich bekannt ist, dass jenseits des Kontextes der kontrollierten experimentellen Psychotherapieforschung störungsspezifische monosymptomatische Patienten nicht in allzu großer Schar anzutreffen sind, sprechen m.E. mindestens zwei Gründe für einen teilweisen Einstieg von SystemikerInnen ins „störungsspezifische Spiel“: Zum einen profan monetäre und zum anderen inhaltliche Gründe – die aber auch beide irgendwie wieder zirkulär zusammenhängen.
Der erste Grund: Da man als SystemikerInnen auch sein Geld verdienen muss, sollten sie sich nicht konzeptionell von der ambulanten und stationären kassenfinanzierten Patientenversorgung abkoppeln: Nicht alle systemischen TherapeutInnen können sich in Führungskräftecoachs und Organisationentwickler verwandeln, in den immer weniger werdenden Beratungsstellen unterkommen oder sich freiberuflich in finanzieller Hinsicht hinreichend etablieren – und auch die Jugendhilfe ist kein systemisches Stellenfass ohne Boden.
Der andere Grund: Wie soll sich systemische Psychotherapie weiterentwickeln, wenn SystemikerInnen es gar nicht mehr mit etwa der großen Population an ganz normalen Wald-und-Wiesen-Kassenpatienten mit Angsterkrankungen, Depressionen und psychosomatischen Problemen, die erst gar nicht in der schicken krankheits- und störungsfreien systemischen Privatpraxis auftauchen, zu tun haben?      

Postmoderne klinische (Berufs-)Welten 

Zudem gehört es m.E. zur professionellen Kompetenz in der potmodernen (Berufs-)Welt zwischen verschiedenen fachlichen Rollen und theoretisch-konzeptionellen Spielen (etwa hier das systemische, dort das störungsspezifische) changieren zu können. Die meisten psychotherapeutisch arbeitenden SystemikerInnen müssen das heutzutage ja eh täglich tun, da sie meist eine zusätzliche Ausbildung in einem (an Störungen und Krankheiten orientierten) psychotherapeutischen Richtlinienverfahren besitzen, um überhaupt klinisch in Aktion treten zu können. (Es sei darauf hingewiesen, dass bekanntlich für psychotherapeutische Tätigkeiten auch im teilstationären und stationären Versorgungskontext von immer mehr Kliniken die Approbation eine Eintrittskarte darstellt.) Zudem ist die Ansteckungsgefahr (vor der Michael M. Schlicksbier-Hepp in seiner Rezension warnt) mit den (bösen?) störungsspezifischen Konzepten bei Beachtung einiger (psycho-)hygienischer Vorsichtsmaßnahmen (wie regelmäßige systemische Supervision, Intervision, Fachlektüre) m.E. als nicht sonderlich gravierend zu erachten.     

Abschließende Anmerkungen

Eine ausführlichere komplementäre kritische Infragestellung und Reflektion des ICD 10 Störungs- und Krankheitsbegriffs aus systemischer Sicht wäre im Lehrbuch II vielleicht sinnvoll gewesen. Auf der anderen Seite lässt sich eine solche in der systemischen Literatur ja schon zu genüge finden (z.B. auch Schweitzer und Ochs, 2003), so dass eine erneute Darstellung dieser möglicherweise mehr desselben gewesen wäre.
Ich bin (immer wieder auch) mit Leib und Seele klinischer Systemiker (mit all der dazu gehörigen kritischen Reflektion der Reifizierung und des Labelings biopsychosozialer Systemprozesse), aber ich halte es für ein wenig weltfremd, sich vom störungsspezifischen Diskurs abkoppeln zu wollen – so hinterfragenswürdig dieser auch sein mag (und die kritische Literatur dazu ist ja auch bereits schon Legion). Zudem lässt sich auch von der störungsspezifischen Truppe etwas lernen – und wenn es „nur“ sei, die eigene systemische Immunkompetenz (die sich ja bekanntlich im keimfreien Raum schlecht entwickeln kann) zu stärken.


Michael Schlicksbier-Hepp, Wilhelmshaven: Antwort auf Lothar Eder

Den knappen Kommentar von Lothar Eder möchte ich gerne würdigen: Ich greife den Homöopathie-Allopathie-Vergleich noch einmal auf: Homöopathie funktioniert auch ohne "Diagnose"! Die traditionelle, die "wissenschaftliche" Schulmedizin benötigt seit jeher eine Diagnose, um ihre eingreifenden, gefährlichen Behandlungen und Therapien zu rechtfertigen. Diagnosen begründen Indikationen.
Das systemische Denken verläßt diesen Determinismus. Das Buch von Schweitzer, von Schlippe, Eder u. a. führt diesen Determinismus legitimierend auf der Suche nach der Legitimation durch andere Schulen und die Schulmedizin erstmals in dieser Deutlichkeit im deutschsprachigen Bereich ein. Systemisches Denken in der Beratung funktioniert jedoch ohne Diagnose und zwar nur ohne Diagnose, was nicht bedeutet, dass es dem Berater oder sonst einem Teilnehmer verboten wäre, in Wertungskategorien zu denken und sie offen zu legen.
Doch allein schon die "Expertenschaft" des Diagnostikers gibt seinen Gedanken in Wortgestalt normative Kraft und macht aus dem Beratung Suchenden einen "Kranken", der zu heilen ist oder dem sonst nicht zu helfen ist. Ich halte den Gedanken für absurd, dass sich systemische Berater mit ihren Klienten versammeln, um gemeinsam eine Diagnose zu finden, die die Berater dann als Therapie-Experten behandeln wollen. Das kommunikative Augenblicks-Experiment, gemeinsam und vielstimmig eine Beschreibung eines Beziehungs- oder Kommunikationszustandes, der sich zudem mit dem Zeitablauf, den Sprechern und den Perspektiven ständig wandelt, zu finden, hat nichts mit Diagnosefindung zu tun. Ein solcher Prozess wirft nicht zwangsläufig "Problemfragen" auf und muss nicht in "Lösungsstrategien" münden.
Gut, wenn man "klassisch therapieren" möchte und dafür "Patienten" sucht, dann geht man eben auch mit "systemischen Methoden" diesen Weg durch die "Internationale Klassifikation psychischer Störungen", die "ICD 10". Dann ist man vom "systemischen Denken" zur einer "systemischen Methode" unter anderen "abgestiegen". Man kann sich auch weiter als "Therapie-Anbieter" durch diesen Wertungsdschungel durchmogeln und den Klienten unter einer möglichst unschädlichen ICD-10-Diagnose für den Kostenträger eine nicht wertende systemische Beratung anbieten, wenn der Klient sich diese als Selbstzahler nicht leisten könnte oder wollte.
Diese Form der "Mogelpackung" schadet dem systemischen Gedanken und den in einem solchen systemischen Setting zusammen Kommenden m. E. weniger, als die Rückführung der "systemischen Therapie" in die diagnosezentrierten Denkweisen. Diese gehorchen nämlich der traditionellen Psychodiagnostik-Manier der etablierten Therapieschulen von Psychoanalyse über tiefenpsychologische Richtungen bis zur Verhaltenstherapie oder gar die medizinische Variante, der biologischen Psychiatrie mit ihrer Psychopharmakotherapie und Elektrokrampfbehandlung.
Und in diesem Sinne empfinde ich das besprochene Werk mit dem ambitionierten und verkünderisch antretendem Titel "LEHRBUCH... Das störungsspezifische Wissen" tatsächlich vor allem in historischer und weniger in "soziologischer" Beschreibung als anachronistisch, denn das systemische Denken überwand, wie Stierlin im Vorwort zum ersten "Lehrbuch" bekundete, "in einer Phase schöpferischer Anarchie" die Denkfesseln des krankheits- und störungsgebundenen Denkens der Medizin, aus der ja sogar die Psychoanalyse "abstammte" und der jetzige Diskurs, den Schweitzer, von Schlippe und andere nach typisch deutscher "Lehrbuch-Manier" und damit ebenfalls traditionell im Umfeld der Anerkennungsbestrebungen der systemischen Bewegung in Deutschland führen wollen, ist ebenfalls geschichtlich ein Anachronismus, denn in den USA gab es diese Diskussion schon vor drei Jahrzehnten mit dem Ergebnis einer faktischen "Anerkennung".
Ich habe allerdings im "systemischen Sinne" nichts dagegen, auch länger um diese Thematik zu kreisen und wenn wir die für mich jedenfalls amüsanten und ebenfalls traditionellen Metaphern aus dem theologischen und poetischen Diskurs bemühen, wie "Teufelspakt", "Faustischer Pakt" oder "Sündenfall", so möchte ich vergnüglich schließen: Ich mag traditionelle Geschichten, ich kann dem "Teuflischen" und "Faustischen" durchaus etwas abgewinnen und bemühe mich um eine liebevolle und wohlwollende Betrachtungsweise, denn "Gott" liebt schließlich die Sünder und wenn es einen systemischen Gott gäbe, hätte er jetzt vielleicht seine (teuflische? anarchische?) Freude daran.
Doch während wir uns auf einer höheren Warte diskursiv amüsieren, was machen wir da so lange praktisch mit unseren Klienten, was lernen wir mit unseren Kollegen und was zeigen wir anderen Lernenden von unserer Haltung? Geben wir Diagnosen und dafür "Medizin"? Oder bleiben wir im Gespräch? Gibt es ein sowohl als auch? Und wenn ja, zu welchen Bedingungen und um welchen Preis?



Jochen Schweitzer, Arist von Schlippe, Januar 2008: Erwiderung auf die Kritiken zum Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II: Das störungsspezifische Wissen

Unser „Lehrbuch II“ hat eine intensive, sowohl positive wie kritische Rezeption erfahren, auch von prominenten Vertretern der systemischen Therapie (1). Auf diese Stellungnahmen wollen wir an dieser Stelle zusammenfassend antworten.

Wie wir die Kritiken verstehen
Die positive Resonanz bezieht sich – kurz zusammengefasst - auf die hoch verdichtete und sehr gut brauchbare Information, die in dem Buch zusammengetragen wurde. Die Möglichkeiten, die es dem systemischen Praktiker bietet, in einem nicht-systemischen Umfeld zu „überleben“, werden betont, ebenso die Möglichkeiten, sprachlich an unser Gesundheitssystem anzukoppeln, ohne seiner Logik zu erliegen. So wird es als ein Werk gesehen, das die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen befördert und – ganz im Sinne unseres ursprünglichen Anliegens – den Dialog über Schulengrenzen hinweg anregt und unterstützt.
Ein Konsens scheint auch zu bestehen in der Anerkennung der handwerklichen und stilistischen Qualität sowie im Gebrauchswert des Lehrbuchs. Diese Aspekte werden auch von KritikerInnen hervorgehoben. Tom Levold etwa schreibt: „in der… souveränen, ebenso fundierten wie geschmeidigen Art beschrieben… jederzeit auf dem derzeitigen Stand des Wissens… ausgezeichnete Primärquelle … befriedigt einen konkreten Orientierungs- und Informationsbedarf.“ Die bislang sehr starke Auflage des Buches (ca. 4000 Exemplare pro Jahr) unterstützt diese Einschätzung.
In dieser Erwiderung wollen wir uns mit den kritischen Stellungnahmen auseinandersetzen – insbesondere von Tom Levold, Wolfgang Loth, Jürgen Hargens und Michael Schlicksbier-Hepp. Diese erleben wir als besorgte solidarisch-kritische Anfragen von Kollegen, denen wir uns (mehrheitlich) in teilweise langjähriger Zusammenarbeit verbunden fühlen, die wir sehr schätzen, deren Kritik wir sehr nicht zuletzt deshalb ernst nehmen und denen wir für ihre intensive Auseinandersetzung mit unserem Buch danken.
Wir vermuten, unsere Formulierungen und auch unsere unterlassenen Formulierungen könnten einige Missverständnisse über unsere Ansichten und Absichten gefördert haben. Wir vermuten auch, dass in den Kritiken einige fundamental unterschiedliche Sichtweisen auf Konstruktivismus und narratives Denken deutlich werden könnten, auf die Pro’s und Contra’s des Umgangs mit dem Begriff „Krankheit“ und auch in Bezug auf den Umgang der systemischen Therapeuten mit berufspolitischen Fragen. Diese Diskussion zu führen, kann – so hoffen wir – klärend sein in dem Sinn, dass Standpunkte deutlich und verhandelbar werden. Dies ist nicht nur gerade angesichts der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftlichen Beirat über die Anerkennung der Systemischen Therapie als wissenschaftliches Verfahren von großer Bedeutsamkeit, sondern auch darüber hinaus.
Als zentrale Bedenken gegen das Buch werden von Rezensenten vorgetragen:
  1. Die Gliederung des Buches entlang von Störungs-Bildern des ICD-10 rehabilitiere einen Krankheitsbegriff und reintegriere diesen in die systemische Therapie, dessen Überwindung eine zentrale Leistung des systemtherapeutischen  Denkens seit ca. 1980 gewesen sei.
  2. Das geschehe in einseitig-defensiver Anpassung an die herrschende Richtung im Medizinsystem, um die (beispielsweise von Wolfgang Loth problematisierte und von Jürgen Hargens politisch klar abgelehnte) „Anerkennung“ als psychotherapeutische Kassenleistung zu befördern.
  3. Für die systemische Therapie stelle dies zumindest eine „Verwerfungslinie“, eventuell „Zerreißprobe“ dar (Wolfgang Loth), vielleicht gar einen „Teufelspakt“, der die systemische Therapie zu einer nicht überlebensfähigen „Chimärengeburt“ machen könnte (Michael Schlicksbier-Hepp). Ein „Brückenschlag“ sei jedenfalls in dem Buch nicht erkennbar, vielmehr würden in einer Art „Weichspülertechnik“ damit „beiläufig grundlegende Differenzen aufgelöst, die zum Kernbestand systemischer Identität gehören“ (Tom Levold).
Daneben wird der Buchtitel unter verschiedenen Aspekten kritisiert.
  1. Ist der Anspruch eines „Lehrbuches“ gerechtfertigt, wenn es bislang keine störungsorientierten Lehrpläne (Curricula) in der systemischen Therapie gibt, und wenn manches Wünschenswertes darin fehle, etwa eine intensivere Auseinandersetzung mit Grundfragen der Diagnostik in der systemischen Therapie? (Tom Levold, Wolfgang Loth).
  2. Wenn es aber doch zu Recht ein Lehrbuch wäre: wäre ein solches nicht gar gefährlich, weil es systemische Therapie eher als eine „dozierbare und in Büchern niederzulegende Methodik“ erscheinen ließe, statt als eine „lebendige Haltung“ bzw. als „das in Erfahrung begründete Wissen, dass es kein Wissen ohne Kontext gibt“? (Michael Schlicksbier-Hepp)
  3. Wird nicht mit dem Untertitel „das …Wissen“ ein universeller Gültigkeitsanspruch gestellt, der dem konstruktivistischen Denken entgegensteht? Und zudem mit dem Wort „störungsspezifisch“ die Bedeutung von Kontexten, Personen, Konstruktionen und Möglichkeiten in der systemischen Therapie negiert? (Jürgen Hargens)
Ab jetzt nur noch störungsspezifisch?
Wir gehen davon aus, dass es sinnvoll ist, an therapiepraktischen Wissensbeständen in der systemischen Theorie drei Formen von Wissen zu unterscheiden:
  • Ein generisches Wissen: hierunter verstehen wir all das, was sich zur Gestaltung des Rahmens und zur Prozesssteuerung therapeutisch (fast) immer zu tun empfiehlt (z.B. Aufträge klären, praktizierte Zirkularität, Nutzen reflektierender Positionen usw.)
  • Ein kontextspezifisches Wissen: dies beschreibt das Wissen, das in der systemischen Therapie für bestimmte kritische Lebenssituationen (z.B. bei Trennung/Scheidung, häuslicher Gewalt, Migration, Tod, Dauerstreit…) und für bestimmte institutionelle Kontexte (Krankenhaus, Schule, Beratungsstelle….) zusammengetragen wurde.
  • Ein störungsspezifisches Wissen: all das, was sich bei bestimmten Klagen, Leidenszuständen (Störungen) von Menschen gehäuft zu tun empfiehlt. Damit ist ein Wissen gemeint, das sich vorwiegend aus kommunizierten Therapieerfahrungen, zum Teil aber auch aus empirischer Forschung herleitet. Es sind gewonnene und reflektierte Erfahrungen dazu, wie das allgemeine systemtherapeutische Vorgehen bei unterschiedlichen Formen von Klagen und Störungen bestmöglich nutzbar gemacht werden kann.
Hätten wir mehr Zeit und Raum gehabt, hätte das Buch neben dem „störungsspezifischen Wissen“ einen ähnlich großen Teil zum „kontextspezifischen Wissen“ der systemischen Therapie bekommen. Dies hätte aber neben unserem Zeitbudget, auch die größtmögliche Seitenzahl des Buches weit überschritten.
Um es deutlich zu sagen: Wir denken nicht, dass systemische Therapie künftig primär störungsspezifisch arbeiten soll und wird. Der größere Teil aller Entscheidungen, die Therapeuten zu treffen haben, hängt mehr von den aktuellen Lebensumständen und Beziehungsmustern, sowohl des Klientensystems, als auch des zwischen diesem und den TherapeutInnen gebildeten Therapiesystems zusammen.
Aber: die systemische Therapie hat auch zahlreiche störungsspezifische Kompetenzen, Wir haben uns in unserem Buch daher für den Fokus auf das störungsspezifische Wissen entschieden, weil uns hiermit ein bedeutsamerer Unterschied zu bisherigen Publikationstraditionen möglich scheint.
Wir denken,
  • dass systemische Therapie auch (immer schon) neben den generischen Haltungen und Praktiken störungsspezifische Elemente integriert hat, dass die Arbeit mit beispielsweise depressiven oder ängstlichen Störungsbildern andere Beziehungsgestaltungen sinnvoll macht, als die Arbeit im Umfeld von Delinquenz oder Hyperaktivität oder/und körperlichen Erkrankungen,
  • dass diese überwiegend aus der Praxis systemischer Therapien gesammelten störungsspezifischen Wissensbestände in der systemischen Therapie bislang sehr verstreut und (nach dem Übergang von der Kybernetik 1. zur Kybernetik 2. Ordnung um 1980) auch „underpublished“ waren.  Wir wollten sie in der vorhandenen Breite unseren Kolleginnen und Kollegen leichter und umfassender verfügbar machen,
  • dass die systemische Therapie sich in ihrer Fähigkeit, für sehr spezifische Probleme klar beschreibbare Lösungswege anzubieten, nicht hinter anderen Psychotherapieverfahren, z.B. der Verhaltenstherapie verstecken muss. Auch alle anderen breiteren Psychotherapie“verfahren“ arbeiten mit einem störungsbilderübergreifenden Instrumentarium, das sie dann störungsbezogen adaptieren.
An unseren beiden Weiterbildungsinstituten (2) werden überwiegend Denkinstrumente, Haltungen und Praktiken gelehrt, die im Sinne der obigen Unterscheidung als generisch und kontextspezifisch gelten. Wir lehren aber sehr wohl auch in einzelnen Kursen Spezifisches zum Umgang mit Störungen, für die Bezeichnungen gebräuchlich sind wie z.B. depressive, ängstliche, psychotische, hyperaktive, sexuelle Störungen u.a. Wenn systemische TherapeutInnen diese Bezeichnungen nutzen, um sich mit KollegInnen und Betroffenen darüber zu verständigen und an deren Sprachspiele anzukoppeln, dann heißt das aus unserer Sicht nicht, dass sie zwangsläufig die in diesen Beschreibungen in anderen Schulen enthaltenen Implikationen über Ätiologie, Behandlung und Prognose mit übernehmen. Das scheint ein zentraler Unterschied zu einer Reihe unserer Kritiker sein, die gerade dies befürchten.
Wir meinen, die systemische Therapie sollte genauso wie ihr generisches und ihr kontextspezifisches auch ihr störungsspezifisches Wissen für sich reklamieren, sich seiner immer wieder kritisch vergewissern und es nutzen. Zeigt unser Buch hier nicht einfach, „wie viel Gutes da ist“, wie viel breit gefächerte systemische Erfahrung in den verschiedensten Feldern vorliegt?

Krankheitskonzepte und deren Verflüssigung
Sind Krankheitskonzepte immer „des Teufels“, so dass das Sprechen und Schreiben über „Krankheit“ (wohlgemerkt in immer mitgedachten Anführungszeichen) zwangsläufig zum „Teufelspakt“ werden muss? Wir sehen selbst das Krankheitskonzept mit großer Ambivalenz – es dürfte vermutlich zumindest genauso viele Nachteile wie Vorteile aufweisen. Nur, solange seine Leistungen nicht mit alternativen Begriffen erreicht werden können, halten wir es geradezu für gefährlich, sich aus der Verwendung dieses Begriffs völlig herauszuhalten. Gerade für uns Systemiker könnte es u.E. eine interessante Herausforderung sein, sich in Bezug auf das Krankheitskonzept zum „Anwalt der Ambivalenz“ zu machen:
Wir sind uns mit den Kritikern (wahrscheinlich) darin einig, dass „Krankheit“ - zumindest sog. „psychische Krankheit“ - als soziales Konstrukt zu betrachten ist, nicht als erkenntnisunabhängige ontische Realität. Wir haben auch versucht, in unserem Text deutlich zu machen, dass wir uns explizit in der Tradition eines sozialwissenschaftlichen Verständnisses sehen: „Indem wir Krankheit als Ergebnis sozialen Aushandelns bezeichnen, schließen wir uns einer … Denkrichtung an, die die Erzeugung vermeintlicher Wirklichkeiten durch sprachliche Prozesse in sozialen Zusammenhängen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt“ (S. 19). Störungen, die ohne die Art und Weise, wie in psychischen und sozialen Systemen Sinn prozessiert wird, nicht denkbar sind, mit einer Metaphorik zu beschreiben, die dem physischen Systemkontext entlehnt ist, halten wir durchaus für bedenklich und immer wieder zu hinterfragen.
Und wiederum werden wir uns vermutlich über die negativen Konsequenzen von Krankheitskonzepten für die Lebenspraxis von Menschen oder Familien schnell einig werden. Sie können
  • stigmatisieren (Beispiele: Schizophrenie; AIDS; besonders drastisch Homosexualität, die noch in den 50er Jahren als „Krankheit“ angesehen und behandelt wurde),
  • durch Verdinglichung den Zugang zu Selbstwirksamkeitserleben verstellen (Beispiel: „Ich habe eine Depression“),
  • eine Person zum Sündenbock machen (Beispiel ADHS),
  • als Denunziation des Kerns einer Persönlichkeit erlebt werden (Beispiel Persönlichkeitsstörungen).
Doch können wir auch fragen, ob der Krankheitsbegriff immer ein Problem-Erzeuger ist. Unter welchen Bedingungen könnte er als Konstruktion im Kontext sozialer Systeme auch als „Lösungs-Mittel“ gesehen werden? Krankheitskonzepte können durchaus viabel sein und eine Reihe gut bekannter Vorteile für die Lebenspraxis bieten:
  • Wer als krank anerkannt ist, dem wird mehr Schutz gegen Überforderung zugestanden  (Beispiel: Krankschreibung, Frühberentung, Entlastung von familiären Verpflichtungen),
  • wer als krank anerkannt ist, dem können Sozialleistungen zuerkannt werden, ohne die sie/er die eigene Lebenspraxis nur weit mühsamer bewältigen könnte (Beispiele: Haushaltshilfe; Betreutes Wohnen, Rehabilitation),
  • die Entscheidung, dass ein bestimmtes Verhalten sich nicht der Böswilligkeit, oder dem schwachen Willen eines Patienten oder gar den pathogenen Bindungstendenzen („schizophrenogene Mutter“) eines Angehörigen verdankt, sondern einer dem Einfluss der Beteiligten mehr oder minder entzogenen „Krankheit“, kann zumindest zeitweise konfliktentlastend wirken.
  • Eine Zuschreibung als „krank“ kann in Kontexten starker Devianz auch insofern hilfreich sein, als die Gesellschaft so Institutionen (=Kliniken) bereitstellen kann, innerhalb derer es für die Betroffenen eine sozial akzeptable Alternative gibt, ihr Leben kurz- bis mittelfristig unter Betreuung zu führen. Die Auflösung der Kliniken im Zuge der Antipsychiatriebewegung führte jedenfalls in Italien zu teils dramatischen Umständen – und vermutlich würde keiner es gern sehen, dass Menschen, die unter verschiedensten Störungen leiden, nicht mehr in Kliniken untergebracht werden können (von Suizidalität, sexueller Aberration bis zu gewalttätigem Ausagieren).
Wer mit Menschen mit chronifizierten Behandlungskarrieren im somatischen oder psychiatrischen Bereich gearbeitet hat, weiß, wie ängstlich besorgt oder verärgert diese auf die Wunderfrage nach einer Zukunft ohne Krankheit reagieren können. Oft ist es hilfreich, Krankheitskonzepte zu verflüssigen und in Kommunikationsprozesse zu übersetzen. Manchmal kann aber auch das Gegenteil der Fall sein.
Betrachten wir die Pro’s und Contra’s des Krankheitsbegriffes auf einer gesundheits- und sozialpolitischen Ebene. Wie sähe eine Gesellschaft aus, die auf „Krankheit“ als Erklärungskonzept verzichten würde? Vieles spricht dafür, dass alternative Konzepte für die Betroffenen zu unangenehmeren Konsequenzen auf einem zivilisatorisch früheren Niveau führen dürften, dass also „Krankheitsbehandlung“ eine zivilisatorisch relativ hochentwickelte und humane Lösungsstrategie darstellt, wenn man die Alternativen bedenkt.
Insbesondere besteht in unserer Gesellschaft  - bislang noch - Einverständnis darüber, dass die Behandlung von „Krankheiten“ eine gesellschaftliche, sozialversicherungsfinanzierte Aufgabe sein soll, deren Finanzierungsrisiko aufgrund ihres Charakters als „Krankheit“ nicht allein dem Einzelnen überlassen bleiben soll. Dafür werden ca. 10 % des Bruttosozialproduktes ausgegeben. Damit dieses Geld überhaupt eingesetzt werden kann, ist es unvermeidbar, an das Vorhandensein einer „Krankheit“ bestimmte Maßstäbe (ICD 10) anzulegen (- natürlich ist im Sinne einer Fundamentalkritik denkbar, dass man gänzlich andere Modelle fordert. Dies sahen wir nicht als die zentrale Aufgabe unseres Buchs).
Gesundheits- und sozialpolitisch kann man dem Krankheitskonzept auf zweierlei Weise entkommen. Entweder man privatisiert vollständig die Verantwortung für die Lösung von heute noch als „Krankheit“ bezeichneten Problemen, jeder bezahlt alle gewünschte Hilfe selbst. Das war ja die Überzeugung von Thomas Szasz, einem überzeugten wirtschaftsliberalen Anti-Psychiater. Oder man installiert ein öffentlich bzw. gemeinnützig finanziertes allgemeines Beratungswesen, das man ohne Eingrenzung auf eng definierte Bedürftigkeitsvoraussetzungen nutzen kann, wie es etwa Allgemeine Lebens- und Sozialberatungsstellen der sozialen Träger oder noch basaler die Pfarrämter der Kirchengemeinden darstellen. Diese können aber nur auf einem begrenzten Spezialisierungsniveau arbeiten. Sobald Spezialisten-Know-How gefragt ist (Stichwort: „Störung von Krankheitswert“…), muss weiterverwiesen werden, und dies geschieht nach diagnostischen Überlegungen, die ähnliche Risiken wie das Krankheitskonzept aufweisen.
Als „Anwälte der Ambivalenz“ denken wir also, dass Alternativen zum Krankheitskonzept als Anspruchsgrundlage für Gesundheitsdienstleistungen zwar denkbar sind, aber ebenfalls voller riskanter Nebenwirkungen, an denen gemessen das jetzige System möglicherweise nicht unbedingt das schlechteste ist.

Teufelszeug? Zur Einschätzung der International Classification of Diseases, 10. Version (ICD-10) als sozialer Konstruktion
Wir betrachten das ICD 10 als eine soziale Konstruktion, die sich selbst auch als eine soziale Konstruktion versteht. Im Vergleich zu früheren Vorgängern zeichnet sie sich durch größere Vorsicht in den Formulierungen aus, beschränkt sich auf die Zusammenfassung einzelner leidvoller Verhaltens- und Erlebensaspekte zu größeren, empirisch (korrelativ) oft miteinander einhergehenden Störungsbildern, und verzichtet auf ätiologische Annahmen - was übrigens viele ältere Psychiater bedauern. Das macht sie aus unserer Sicht für die  (vorsichtige) Nutzung durch systemische TherapeutInnen „viabel“. Um Kurt Ludewig (3) zu zitieren: „Die Autoren der ICD 10 verabschieden sich von solch altehrwürdigen Entitäten wie Neurose und Psychose und ersetzen sie durch deskriptive, an Beobachtungskriterien orientierte Bezeichnungen“ (2002, S. 68). Auch hartgesottene Psychopathologen (wenn es solche gibt) verzichten zumindest theoretisch darauf, diesen Kategorien einen ontologischen Status zuzuschreiben.
Freilich geben wir unseren Kritikern in ihren Warnungen vor der hypnotischen Trancekapazität dieser Diagnosen durchaus recht: die beschriebene erkenntnistheoretische Sophistizierung „rutscht in der Praxis oft wieder weg“ und die Suggestionen, es gäbe „den Borderliner“ oder „die Depression“, bleiben präsent.  Aber das passiert auch den Patienten, den Angehörigen, dem Umfeld, unabhängig davon ob die Systemiker das ICD 10 zur Kenntnis nehmen oder nicht.

Systemische Therapie und „die Anderen“: ein „Entweder-Oder“ oder ein „Sowohl-Als-Auch“ zwischen verschiedenen Sprachspielen?
Tom Levold kritisiert explizit unsere relativ neutrale Bewertung des ICD 10 und speziell unseren Vorschlag an im Gesundheitswesen tätige Systemiker, ein solches medizinisch-psychopathologische Kategorienschema wie das ICD-10 unter zweierlei Perspektiven ergänzend zu betrachten:
  • ob die Diagnosezuordnungen nach den immanenten Spielregeln als „richtig“ oder „falsch“ getroffen worden sind (4)
  • ob die Diagnosezuordnungen je nach Lebenssituation und Interessenlage der Beteiligten eher nützliche oder eher schädliche Nebenwirkungen nach sich ziehen können (z.B. Stigmatisierung als schädliche, Zuwendung und Schonung als angenehme Nebenwirkungen) (5).
Tom Levold kritisiert, wir erschöpften uns in einer „additiven Haltung des Sowohl-als-Auch“ – wie der Brückenschlag zwischen diesen erfolgen solle, sei nicht erkennbar. Ernst  v. Glasersfeld habe das Viabilitätskritierium nicht als Ergänzung, sondern als Alternative zum Wahrheitsprinzip eingeführt.
Nun scheint uns die Fähigkeit zu einer derartigen „additiven Haltung des Sowohl-als-Auch“ tatsächlich bereits ein Gewinn zu sein. Über einen Sachverhalt sich mit einem Franzosen auf französisch unterhalten zu können, dann über denselben Sachverhalt mit einem Engländer auf englisch, und abschließend dem Franzosen auf Französisch erklären zu können, was der Engländer gemeint hat, wäre doch auch ohne ein sophistiziertes Brückenschlagmodell zwischen englischer und französischer Grammatik schon hilfreich.
Wir denken, dass Systemiker, die im Gesundheitswesen arbeiten, tatsächlich „Mehrsprachler“ mit Dolmetscherkompetenz sein müssen, die in mehreren Sprachspielen mit ganz unterschiedlichen Grammatiken und Wortschätzen zuhause sein können und sollten:
  • in der Sprache der alltäglichen Lebenskontexte, die sie mit ihren Klienten brauchen, ebenso wie im psychopathologischen Sprachspiel, das sie für die Kommunikation mit Krankenkassen, insbesondere für Kassenanträge und manchen anderen, besonders ärztlichen Behandlern brauchen,
  • in der Sprache des alltäglichen naiven Realismus („Vielleicht hat der Stress Sie ‚wirklich’ krank gemacht“) ebenso wie in einer konstruktivistisch-konstruktionistischen Sprache („Kann es sein, dass Sie sich ein Bild von ihrer Arbeitssituation machen, das Sie denken lässt, Sie müssten notfalls bis zur Erschöpfung arbeiten?“),
  • in der Sprache des konkreten Einzelfalles („Bei Herrn Maier war es nützlich, die Ehefrau in die zweite Sitzung mit einzuladen“) wie in der nomothetischen Sprache der evidenzbasierten Psychotherapie („Bei Angststörungen und Depressionen verheirateter Erwachsener wird bei Einbezug des Partners ein durchschnittlich besseres Behandlungsergebnis erzielt“),
  • im Jargon der systemischen Therapie, den sie mit ihren systemisch orientierten FachkollegInnen brauchen, ebenso wie in einem Grundwortschatz klientenzentrierter, tiefenpsychologischer, kognitiv-behavioraler, transaktionsanalytischer… „Dialekte“, wenn sie mit solchen KollegInnen zu tun bekommen.
Theoretisch gesprochen: Wir Systemiker sollten über das Verhältnis zwischen uns und unseren fachlichen Umwelten sowohl selbstrefentiell (in unserer eigenen Sprache) wie fremdreferentiell (in der Sprache der anderen) sprechen.
Wir stimmen Tom Levold darin zu, dass wir keine allgemeine Logik für solche sprachlich-konzeptionellen Brückenschläge anbieten. Das ist auch nicht unser Anspruch. Es geht uns im „Lehrbuch II“ darum, konkret in jedem Kapitel von der Störung über die Beziehungsmuster zu den Ent-Störungen zu zeigen, wie solche Brückenschläge aussehen könnten.

„Teufelspakt“?
Brauchen Systemiker ein Feindbild von „Krankheit“, vom Medizinsystem, den Krankenkassenrichtlinien, den Psychiatern, den anderen Psychotherapierichtungen, um sich als Systemiker ihrer Identität gewiss zu sein und zu bleiben?
Milde Anklänge daran meinen wir vernehmen zu können, wenn Tom Levold evidenzbasierte Medizin und selbstreflexive Sozialwissenschaft gegenüberstellt, Michael Schlicksbier-Hepp krankenbehandelnde Homöopathen gegen krankheitsbehandelnde Allopathen kontrastiert, Wolfgang Loth die „ideografische Power des systemischen Ansatzes“ gegen die „entfremdenden Zuschreibungen nomothetischer Verkastelung“ setzt.
Sicher, die Zustände im Versorgungssystem machen es nicht leicht, keine Feindbilder zu entwickeln – und oft wird ja auch von „der anderen Seite“ mit mehr als unfairen Mitteln „gekämpft“. Zugleich sind wir beide vielleicht durch lange Jahre der Zusammenarbeit in der Zeitschrift „Psychotherapie im Dialog“ mit unorthodoxen Psychoanalytikern und Verhaltenstherapeuten uns unserer Bilder über die Kohärenz dieser „anderen Seite“ zunehmend unsicher geworden. Wir kennen zu viele Psychoanalytiker, die sich mit Luhmann und Maturana auseinandersetzen, zu viele Verhaltenstherapeuten, die selbstverständlich mit Zirkularität umgehen, zu viele Psychiater, die alles andere vertreten als harte Krankheitskonzepte. Vielleicht – so ein Kompromissangebot an unsere Kritiker – sollten wir gemeinsam nach Unterscheidungen suchen, die nicht die Kollegenschaft innerhalb der Systemiker in „Lager“ teilt. „Draw a distinction“ – diese Linie könnte statt zwischen „Krankheitskonzept – Nicht-Krankheitskonzept“ auch gezogen werden zwischen „Hartes Krankheitskonzept – Weiches Krankheitskonzept“.

Die Berufspolitik der systemischen Therapie: gibt es einen dritten Weg zwischen Anbiederung und Selbstausschluss?
Wie will sich die systemische Therapie künftig im Gesundheitswesen positionieren?
Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung hin zu einer leitlinienorientierten, entlang Störungsbildern sortierten, evidenzbasierten Medizin – man mag sie begrüßen oder beklagen - bringt das Risiko der Bedeutungslosigkeit für diejenigen Behandlungsansätze mit sich, die in den Leitlinien nicht (mehr) vorkommen. In narrativer Sprache kann sich die systemische Therapie fragen: „Möchte ich in der Geschichte, die das Gesundheitswesen in den nächsten 10-20 Jahren über sich erzählt, überhaupt vorkommen?“
Das ist nicht zwangsläufig, es gibt Alternativen. Man kann auf das Modell des freien (Gesundheits)marktes setzen. Heilpraktiker etwa können als Vorbild dienen, wie man auch am Rande des Gesundheitswesens heilend und wirtschaftlich erfolgreich tätig sein kann. Systemiker können vermutlich nachhaltig auch als Paar-, Lebensberater und Gesundheitscoaches auf dem Markt  frei bezahlter Gesundheitsdienstleistungen  erfolgreich tätig sein. Wer das schon tut oder künftig vorhat, für den ist die Auseinandersetzung mit der evidenzbasierten Medizin derzeit weitgehend unnötig.
Wir beide haben uns entschieden, für eine Integration der systemischen Therapie als Kassenleistung im Gesundheitswesen zu arbeiten, spätestens seit 2004 (6). Ob die Entscheidung „richtig“ war, die Anerkennung beim Wissenschaftlichen Beirat zu beantragen – und ob das Projekt gelingen wird, steht in den Sternen. In jedem Fall müsste sich aber die systemische Therapie verändern - ebenso wie das jetzige System der Kassenpsychotherapie.
Wenn es gelingt, müsste das Kassensystem Paar-, Familien- und Netzwerktherapie mit ihrem höheren Aufwand gegenüber Einzeltherapien angemessen honorieren. Es müsste Singe-Session-Therapies, Kurzzeittherapien, lange Kurzzeittherapien und „Therapy on Demand“ finanziell fördern, Wartelisten entmutigen, Sonderziffern für Reflecting Teams und Behandlerkonferenzen einführen. Das Kassensystem könnte auch durch weniger Einzelleistungsabrechnung und mehr Globalbudgets dem Trend „je härter die Diagnosen, desto sicherer und länger die Finanzierung der Behandlung“ entgegenwirken.
Die systemische Therapie müsste sich überlegen, wie sie sich in einem künftigen, kassenfinanzierten, bedarfsgerechteren Psychotherapiesystem sowie in einer staatlich geregelten Psychotherapieausbildung platzieren möchte. In Institutsambulanzen und Polikliniken, in Einzel- oder Gemeinschaftspraxen? In einem Verbund zusammen mit z.B. Hausärzten, Kinderärzten, Psychiatern, oder weit weg von ihnen? In Weiterbildungsinstituten, in denen „nur systemisch“ oder auch andere Ansätze gelehrt werden?

Konstruktivismus und Berufspolitik: Zur Konstruktion herrschender, unterdrückter und selbstbewusster Diskurse
Besonders Jürgen Hargens und Wolfgang Loth bedauern, dass wir zuweilen nicht tastend, vorsichtig, konjunktivisch, sondern eher bekräftigend formulieren – z.B. mit dem Buchuntertitel „das störungsspezifische Wissen“, vielleicht auch mit dem Begriff „Lehrbuch“.
Wir haben das absichtsvoll so formuliert. Unsere Absicht ist, nach innen und nach außen zu zeigen, dass es umfangreiche Wissensbestände gibt (7), dass es zu all den 23 Diagnosegruppen solche Wissensbestände gibt (8) und dass dies mehr ist als eine „heuristische Materialsammlung spezifischer Verstörtheiten“ (9). Wir denken, dass ein tastend-vorsichtig-konjunktivischer Sprachstil oft, aber nicht immer viabel ist für die Weiterentwicklung der systemischen Therapie. Im politischen Diskurs ist die Reduktion auf klare, prägnante Schlagworte, die nicht immer ihren ganzen Kontext mitbeschreiben, unerlässlich, will man der systemischen Therapie außerhalb der engen Insiderszene Gehör verschaffen. 1980 war dies: „Systemische Therapie – eine kopernikanische Wende“, 2007/2008 könnte dies sein:  „Systemische Therapie wirkt! – und ist bei mindestens 23 Störungsbildern nachweislich nutzbar“!
Ähnliches gilt für das Wort „Lehrbuch“. Systemische Therapie sollte u.E. ebenso eine lebendige Haltung, wie auch eine „dozierbare und in Büchern niederzulegende Methodik“ sein (10). Wenn wir nicht in der Lage wären, aus der Lebendigkeit der vielen konkreten Lebens- und Therapieerfahrungen u.a. auch lehrbare Abstraktionen herauszuziehen, dann würden wir doch nicht lernen! Sollte Lernen tatsächlich ausschließlich jenseits jedweder Standardisierung stattfinden? Übrigens wurde die Tatsache, dass es ein (unser) Lehrbuch der systemischen Therapie gebe, in einem Gerichtsurteil in NRW ausdrücklich als einer unter mehreren Indikatoren dafür aufgeführt, dass systemische Therapie unabhängig von der Zahl ihrer Outcomestudien eine anerkannte Therapieform sei.

Perspektiven für die systemische Therapie im Gesundheitswesen
Die Auseinandersetzung mit den kritischen Rezensionen ermöglicht uns am Ende, einige unserer aktuellen Perspektivideen klarer „auf den Punkt zu bringen“. Wir wünschen uns folgendes:
  1. Die systemische Therapie möge sich nicht mit ihrem einmal erreichten (erkenntnis-)theoretischen und (therapie-)methodischen State of the Art zufrieden geben, sondern sich reiben an noch nicht gelösten Problemen, an mit ihr konkurrierenden Theorie- und Interventionsansätzen und an sich weiterentwickelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
  2. Die systemische Therapie möge sich selbstbewusst als Avantgarde und als grundlegendes Grundlagenverfahren einer noch diffusen, aber am Horizont aufscheinenden „schulenübergreifenden Psychotherapie“ verstehen, zu der sie Einzigartiges beizutragen hat: ihre Kontext-, Nutzer/Kunden-, Lösungs/Ressourcenorientierung, ihr de-konstruktionistisches Denken und ihren Respekt (Neugier, Neutralität, Allparteilichkeit) gegenüber dem Eigensinn von Systemen.
  3. Die systemische Therapie möge integrierter Teil eines künftigen, gesamtgesellschaftlich mitfinanzierten psychotherapeutischen Versorgungssystems werden, welches gegenüber dem heutigen besser arbeitet: niedrigschwelliger und zugangsgerechter, krisenorientiert ohne lange Wartenzeiten, mit untereinander gut vernetzten Behandlern, sehr kunden/nutzerorientiert, respektvoll gegenüber dem Selbstverständnis der Klienten, familienorientierter, stärker lösungs- und weniger problemorientiert. Falls uns dies nicht gelingt, sollten wir über die Entwicklung eines „Nicht-Richtlinien-Therapie“-Systems  außerhalb des kassenfinanzierten Systems nachdenken, das nicht allein für die Mittel- und Oberschicht zugänglich ist. Reizvoll wäre dies auch, leicht wird es nicht werden.
  4. Die systemische Therapie möge selbstkritisch, aber auch offensiv prüfen, an welchen Punkten sie von anderen Therapieansätzen dazulernen kann.
  5. Bei all diesem möge sie ihr erkenntnistheoretisches Fundament und ihre Haltung („respektvoll gegenüber Menschen, respektlos gegenüber Ideen“) bewahren. Dazu gehört die Erkenntnis, dass alles, was gesagt wird, auch anders gesagt werden kann. Dies gilt auch und besonders für jedwede Konzeption dessen, was wir – bewusst mit vielerlei Anführungs- und Fragezeichen – als „psychische Krankheit“ bezeichnen!

Anmerkungen:
(1) Uns bekannt sind Zeitschriften-Rezensionen (incl. systemagazin) von Susanne Altmeyer, Gerhard Ruf, Jürgen Hargens, Tom Levold, Wolfgang Loth, Michael Schlicksbier-Hepp. Rezensionen bei Amazon kamen von Detlef Ruesch, Marion L. und Volker Tepp, sowie einige sehr knappe, dafür aber besonders bissige Aussagen von H.-J. Görges in Systeme 21(2). Reaktionen auf einige dieser Rezensionen stammen von Fritz Simon, Lothar Eder und Matthias Ochs im Carl Auer Blog, sowie im systemagazin.
(2)
Helm-Stierlin-Institut Heidelberg und Institut für Familientherapie Weinheim
(3) Ludewig, K. (2002). Leitmotive systemischer Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta
(4) Z.B. ist nach ICD-10 eine falsch-positive Diagnose einer hyperkinetischen Störung gestellt worden, wenn die Symptome nur in einem Lebenskontext, z.B. der Schule auftreten, oder wenn sie schon vor dem siebten Lebensjahr begonnen haben.
(5) In der SYMPA- Weiterbildung haben wir (Jochen Schweitzer und Liz Nicolai) eine didaktische Übung entwickelt („Rücke um eins vor, wenn Du die richtige Diagnose hast“), mit der wir spielerisch mit Psychiatrieteams die Wirkung von Diagnosen als Ermöglicher oder Behinderer von Lebenschancen erkunden.
(6)Am 18.12.2004 wurde von den Vertretern der beiden systemischen Fachverbände und einer Reihe prominenter Persönlichkeiten aus der systemischen Therapie in Köln eine politische Entscheidung gefällt, nämlich dass ein neuer Vorstoß beim Wiss. Beirat eingeleitet werden solle. Dieser wird zum Zeitpunkt des Schreibens unserer Antwort gerade dort intensiv diskutiert – Ausgang derzeit noch offen. Die Entscheidung vom Dezember 2004 kann man bedauern oder befürworten – nur „unentscheidbare Fragen können entschieden werden“, wie Heinz v.Förster sagt. Unser Buch steht im Kontext dieser Entscheidung.
(7) Die meisten stammen aus publizierten und eigenen Therapieerfahrungen, der kleinere Teil aus empirischer Forschung.
(8) Bei einigen Störungsbildern wie Schizophrenie, Depression, Sucht mehr, bei anderen wie Angst/Zwang oder PTSD bislang weniger.
(9) Ein Untertitelvorschlag von Wolfgang Loth in seiner Rezension.
(10) 10 Wovor es vor allem Michael Schlicksbier-Hepp und Hans-Joachim Görges zu grausen scheint.


Jürgen Hargens: Im Gespräch bleiben oder: Entscheidungen/Konstruktionen können auch unbeabsichtigte Konsequenzen haben (28.1.2008)

Ich freue mich, dass Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe sich zu den Reaktionen auf das Lehrbuch II geäußert haben, denn das ist für mich ein Teil der systemischen Idee „im Gespräch zu bleiben.” Und ein zweites ist für mich mit der Idee „im Gespräch bleiben” verbunden – Systemisches betont Vielfältigkeit, würdigt Unterschiede und verzichtet darauf, immer und in jedem Fall einen Konsens herstellen zu müssen.
Insofern greife ich das auf, wo ich Unterschiede festmache, von denen ich denke, dass es bedeutsam sein könnte, solche Unterschiede nicht zu verwischen. Ich werde so vorgehen, dass ich (1) zunächst noch einmal meine grundsätzliche Position skizziere und dann (2) einige Passagen der Erwiderung aufgreife (kursiv gesetzt) und meine Ideen dazu offen lege.
Meine Position geht von einer Ablehnung eines Verständnisses von „Krankheit“ als einer eigenständigen Wirklichkeitskategorie aus. Wie ich ausführte: „Noch 2005 schreibt Kurt Ludewig in seiner Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie (Heidelberg): 'Die systemische Therapie verzichtet schon aus erkenntnistheoretischen Gründen auf einen Krankheitsbegriff' (S. 85).“ Damit verbunden sehe ich die Unterschiede zum traditionellen Gesundheitssystem und frage, inwieweit ein Aufgreifen der traditionellen Sprachspiele dazu führt, dass die systemische Theorie ihre Eigenständigkeit nicht nur aufgibt, sondern verliert.
Nun zu der Erwiderung:
„Die Möglichkeiten, die es dem systemischen Praktiker bietet, in einem nicht-systemischen Umfeld zu 'überleben' werden betont, ebenso die Möglichkeiten, sprachlich an unser Gesundheitssystem anzukoppeln, ohne seiner Logik zu erliegen.“
Um wieder darauf zurückzukommen, dass Sprache Wirklichkeiten schafft, fällt mir auf, dass  Schweitzer/von Schlippe nicht von den vielen unterschiedlichen Möglichkeiten sprechen, sondern mit dem bestimmten Artikel auch die anderen, noch unbestimmten Möglichkeiten ausblenden. Sie zeigen „Möglichkeiten“ auf – allerdings nur die, die ihnen bedeutsam erscheinen. Das ist auch in Ordnung, doch die Festlegung durch den Artikel „die“ grenzt andere Möglichkeiten aus.
Ich glaube weiters nicht daran, dass es ein „nicht-systemisches Umfeld“ gibt, denn wenn Beziehungen in einem Umfeld bestehen, dann wirken diese Ereignisse immer wieder rückbezüglich aufeinander ein – ein systemisches Ganzes. Die Beschreibung und die Idee, damit umzugehen, „macht“ dann Unterschiede. Wobei – das ist mir wichtig anzumerken – es mir eben nicht geht, dies als „Wahrheit“ zu definieren, sondern als Annahme, Hypothese, eben als „Glauben“, denn das lässt anderen „Glauben“ zu. Insofern geht es in meinen Augen darum, einen Diskurs zu beginnen, der sich weniger um das Thema „richtig/wahr“ dreht, sondern um das Thema „vermutete Folgen/(un)erwünschte Folgen“.
Der Satz Möglichkeiten, sprachlich an unser Gesundheitssystem anzukoppeln, ohne seiner Logik zu erliegen stellt für mich eine Hypothese dar, die nicht konkretisiert, sondern gesetzt wird. Damit wird in meinen Augen behauptet (Glaubensannahme), man/frau könne einer Reifizierung (Verdinglichung) des Begriffs 'Krankheit' entgehen, wenn man von 'Krankheit' rede. Leider wird diese Annahme nicht weiter erläutert. So bleibt meine Frage unbeantwortet: Wie kann das gehen?
Schweitzer/von Schlippe unterscheiden in der systemischen Theorie drei Formen von Wissen … generisches Wissen … kontextspezifisches Wissen … störungsspezifisches Wissen. Mit letzterem meinen sie ein Wissen, das sich vorwiegend aus kommunizierten Therapieerfahrungen, zum Teil aber auch aus empirischer Forschung herleitet.
Die Aufzählung der drei Arten von Wissen in der systemischen Theorie ist mir neu. Sie wird darüber hinaus auch nicht begründet, so dass sie auch beliebig erweiterbar sein könnte. Ich denke an Begriffe und Unterscheidungen wie „Alltagswissen“, „kulturspezifisches Wissen“ etc. Spannend ist für mich die Definition des  kontextspezifischen Wissen.
Wenn es sich um kommunizierte Therapieerfahrungen handelt, dann wären auch „andere Stimmen“ möglicherweise hörbar – Stimmen, die Therapie und Krankheit anders verstehen.
Und wenn es sich um Wissen handelt, das sich zum Teil aber auch aus empirischer Forschung herleitet, dann steht für mich als systemisch orientierter Praktiker die Frage im Raum, welches Empirieverständnis hier eine Rolle spielt.
Ernüchternd – und deplaziert – kommt mir die Fortsetzung von Schweitzer/von Schlippe vor, indem sie den Konjunktiv „hätten wir“ verwenden. Das klingt wie eine Art nachträglicher Entschuldigung, die ich auch so verstehen könnte: „Du Kritiker hast uns falsch verstanden, weil wir nicht alles das schreiben konnten, was wir meinen.“ Schade, finde ich, denn das, was ich sage/schreibe, nehme ich in der Form ernst, wie es gesagt/geschrieben wurde. Und wenn es anders von mir gemeint war, dann sollte ich es ergänzen und/oder ändern. „Zeitbudget“ oder „Seitenzahl“ scheinen mir da nicht angemessen.
Wir denken
•    dass systemische Therapie auch (immer schon) ... störungsspezifische Elemente integriert hat
Dem kann ich zustimmen, mit dem Hinweis, dass das „Wissen“ der systemisch arbeitenden Profis immer getragen wird von der Idee des Nicht-Wissens, d.h. auch von der Idee, nicht zu wissen, was die Störung für die betroffene Person bedeutet, wie diese sie benennt, was diese möchte etc. Und diese Art „störungsspezifischen Wissens“ folgt meiner Meinung nach nicht zwangsläufig den Vorgaben des ICD-10, wie es für Schweitzer/von Schlippe offenbar sein muss. Für mich zeigt sich an dieser Stelle die Notwendigkeit, genauer zu präzisieren, was „Nicht-Wissen“ als systemisches Konzept in und für die Praxis „therapeutischen Tuns“ bedeutet.
Wenn systemische TherapeutInnen diese Bezeichnungen nutzen, um sich mit KollegInnen und Betroffenen darüber zu verständigen und an deren Sprachspiele anzukoppeln, dann heißt das aus unserer Sicht nicht, dass sie zwangsläufig die in diesen Beschreibungen anderer Schulen enthaltenen Implikationen über Ätiologie, Behandlung und Prognose mit übernehmen.
Das finde ich eine sehr spannende Idee – doch ist mir nicht klar, was das praktisch bedeutet. Ich rede mit einer KassenvertreterIn, einer TiefenpsychotherapeutIn, benutze auch deren Vokabular, habe allerdings ein anderes Verständnis. Wie sieht dann die angestrebte Verständigung aus?  So, dass die Unterschiede herausgearbeitet werden? So, dass eine Einigung erfolgt? Und wie kann ich mich mit diesen Personen z.B. über sexuelle oder depressive Störungen verständigen, ohne die darin enthaltenen Implikationen zu übernehmen? Hier hätten mir konkrete Beispiele und Möglichkeiten geholfen.
Sind Krankheitskonzepte immer 'des Teufels', so dass das Sprechen und Schreiben über 'Krankheit' (wohlgemerkt in immer mitgedachten Anführungszeichen) zwangsläufig zum 'Teufelspakt' werden muss?
Der hier eingeführte Zeitbegriff „immer“ ist in meinen Augen ein rhetorischer Kunstgriff. Der Satz liest sich ganz anders, wenn hier anstelle von immer das Wort niemals eingesetzt wäre: Sind Krankheitskonzepte niemals 'des Teufels'. Es geht in meinen Augen nicht um die Zeitlichkeit, sondern um die Begrifflichkeit – im traditionellen Gesundheitssystem müssen Krankheiten als eigenständige Ereignisse vorkommen. Wenn ich in einem solchen Kontext darüber spreche, würde mich interessieren, wie ich die immer mitgedachten Anführungszeichen formuliere. Ich wüsste nämlich nicht, wie. Zumal mein Eindruck der ist, dass die  mitgedachten Anführungszeichen mir deutlich machen, dass ich das, was ich sage, selber nicht glaube. Weshalb aber verwende ich dann nicht gleich einen anderen Begriff?
Nur, solange seine Leistungen nicht mit alternativen Begriffen erreicht werden können, halten wir es geradezu für gefährlich, sich aus der Verwendung dieses Begriffes völlig herauszuhalten.
Dies ist eine interessante Hypothese und mich hätte sehr interessiert, worauf sich diese Annahme/Hypothese stützt.
Gesundheits- und sozialpolitisch kann man dem Krankheitskonzept auf zweierlei Weise entkommen. Entweder man privatisiert vollständig die Verantwortung für die Lösung ... Oder man installiert ein öffentlich bzw. gemeinnützig finanziertes allgemeines Beratungswesen…
Ich halte nicht viel von Dichotomisierungen, denn es gehört für mich zu den systemischen Grundüberzeugungen, dass es mehr Möglichkeiten gibt, als Zweiteilungen vorschreiben. Diese Offenheit, dieser „Zug zur vielfältigen Buntheit“ ist das, was mich am Systemischen immer wieder fasziniert.
Wenn Schweitzer/von Schlippe sich dann als „Anwälte der Ambivalenz“ definieren, kommt mir das angesichts der von ihnen gerade formulierten entweder-oder-Perspektive eher als Versuch vor, sich einer eindeutigen Position zu entziehen. Wenn das so wäre, wäre die Frage, weshalb dann erst eine solche entweder-oder-Perspektive konstruiert wurde.
Über einen Sachverhalt sich mit einem Franzosen auf französisch unterhalten zu können, dann über denselben Sachverhalt mit einem Engländer auf englisch, und abschließend dem Franzosen auf Französisch erklären zu können, was der Engländer gemeint hat, wäre doch auch ohne ein sophistiziertes Brückenschlagmodell zwischen englischer und französischer Grammatik hilfreich.
So reizvoll und verführerisch dieses Bild erscheint, so verweist es in meinen Augen auf interessante andere Möglichkeiten.
Wenn Menschen unterschiedlicher Sprache sich unterhalten, sprechen immer Personen miteinander. Ob es sich dann beim Wechsel der GesprächspartnerInnen immer um denselben Sachverhalt handelt, wäre ebenfalls zu fragen, zumal Sprache/Worte/Begriffe immer auch soziokulturelle Vereinbarungen darstellen, wie ich glaube. Und ob dann eine „Übersetzung“ von Begriffen in unterschiedliche Sprachen tatsächlich so funktionieren würde, bezweifle ich. Nehme ich z.B. den deutschen Begriff „Krankheit“ - der lässt sich ins Englische vielfältig übersetzen: disease, illness, sickness.
Die Idee der „1:1-Übersetzung“ gehört für mich ins Reich der Fabel, der Unmöglichkeit. Ich denke, es geht eher darum, mögliche Missverständnisse klein zu halten – und ein guter Weg dahin könnte es sein, die eigene Position klar zu benennen.
Und aus dem von Schweitzer/von Schlippe gebrauchten Bild könnte ich (missverständlicherweise?) herauslesen, dass die SystemikerIn den anderen Personen erklärt, was der andere gemeint hat – verweist das vielleicht darauf, dass die SystemikerIn weiß, was stimmt? Das wäre dann die „Einführung eines wahren Wissens“, glaube ich.
„Teufelspakt“?
Brauchen Systemiker ein Feindbild von 'Krankheit', vom Medizinsystem, den Krankenkassenrichtlinien, den Psychiatern, den anderen Psychotherapieeinrichtungen, um sich als Systemiker ihrer Identität gewiss zu sein und zu bleiben?
Diese Frage kann ich für mich mit einem klaren und entschiedenen „Nein!“ beantworten. Wobei mir dennoch viele Fragen kommen – wieso sprechen Schweitzer/von Schlippe von „Feindbild“? Ich spreche von Unterschieden – und das stellt in meinen Augen einen großen Unterschied dar. Und solche Unterschiede tragen – davon bin ich überzeugt – zu meiner Identität als Systemiker bei. Nicht im Sinne einer „Feindschaft“, sondern im Sinne interessanter Gespräche mit Menschen, die andere Ideen vertreten. Für mich ist es ein wesentliches systemisches Konzept, Unterschiede zu respektieren als Ausdruck von Vielfalt.
Vielleicht – so ein Kompromissangebot an unsere Kritiker – sollten wir gemeinsam nach Unterscheidungen suchen, die nicht die Kollegenschaft innerhalb der Systemiker in 'Lager' teilt. 'Draw a distinction' – diese Linie könnte statt zwischen 'Krankheitskonzept – Nicht-Krankheitskonzept' auch gezogen werden zwischen 'Hartes Krankheitskonzept – Weiches Krankheitskonzept'.
Ich teile die Skepsis von Schweitzer/von Schlippe nicht, dass sich SystemikerInnen in „Lager“ teilen. Ich schätze unterschiedliche Meinungen und Ansichten. Insofern verstehe ich die Sorge der Lagerbildung nicht.
Interessant bleibt die vorgeschlagene Linie von Schweitzer/von Schlippe, denn auf jeden Fall bleibt es ihnen wichtig, das Krankheitskonzept aufrechtzuerhalten. Es ließe sich ja auch die Unterscheidung treffen ‚Krankheitskonzept’ – ‚subjektiv erlebter Zustand’. In meinen Augen wäre ein Krankheitskonzept eine Abstraktion eines Erlebens und die Transformation in einen anderen Bereich. Insofern, denke ich, wäre es hilfreicher zu unterscheiden zwischen „Krankheit als konzeptuelle Abstraktion eines Fachbereichs“ und „Krankheit als subjektiv erlebte Erfahrung“. Ob und inwieweit diese beiden Beschreibungen (Konzeptualisierungen) sich überschneiden, wäre eine weitere Frage – ebenso wie die, wie anschlussfähig diese beiden Konzeptualisierungen miteinander wären.
Systemiker können vermutlich nachhaltig auch als Paar-, Lebensberater und Gesundheitscoaches auf dem Markt frei bezahlter Gesundheitsdienstleistungen erfolgreich tätig sein. Wer das schon tut oder künftig vorhat, für den ist die Auseinandersetzung mit der evidenzbasierten Medizin derzeit weitgehend unnötig.
Dies verstehe ich nicht. Ich bin im Bereich der Gesundheitsdienstleistungen tätig, lehne den Krankheitsbegriff ab und setze mich dennoch mit der evidenzbasierten Medizin auseinander. Mir scheint, hier könnte wieder eine ausschließende Zweiteilung (entweder – oder) hineingerutscht sein, statt einer ergänzenden Zweiteilung (sowohl – als auch).
Unverständlich bleibt mir, an welcher Stelle im Lehrbuch II Schweitzer/von Schlippe selbst diese Auseinandersetzung mit der evidenzbasierten Medizin führen.
Im politischen Diskurs ist die Reduktion auf klare, prägnante Schlagworte, die nicht immer ihren ganzen Kontext mitbeschreiben, unerlässlich, will man der systemischen Therapie außerhalb der engen Insiderszene Gehör verschafft.
Dem kann ich voll und ganz zustimmen – nur frage ich mich, inwieweit die eher weiche Position von Schweitzer/von Schlippe als „Anwalt der Ambivalenz“ (und weniger als „Anwalt systemischer Eindeutigkeit“. Ich weiß, ein Widerspruch) einer solchen klaren und prägnanten Reduktion entspricht.
2. Die systemische Therapie möge sich selbstbewußt als Avantgarde und als grundlegendes Grundlagenverfahren einer noch diffusen, aber am Horizont aufscheinenden 'schulenübergreifenden Psychotherapie' verstehen…
Diese von Schweitzer/von Schlippe aufgezeigt Perspektive vermag ich nur schwerlich nachzuvollziehen, da mir das Selbstbewußte in ihrer Argumentation nicht deutlich geworden ist. Ich sehe eher das Gegenteil – eine weiche, zurückhaltende, defensive Argumentation.
Und mir ist nicht klar, was systemische Therapie und schulenübergreifende Psychotherapie verbindet. Mir scheint eher – aber das ist eine andere und weitere Diskussion -, dass in einem schulenübergreifenden Psychotherapiekontext auch die systemische Therapie ihre Eigenart aufgeben könnte oder sogar müsste.





Zu den websites von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer





Verlagsinformation:

Kein Widerspruch: Systemisch behandeln nach Störungsbildern. Zehn Jahre nach dem »Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung« befassen sich Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe im zweiten Teil mit dem störungsspezifischen Wissen der systemischen Therapie. Von den schizophrenen Psychosen über Essstörungen und Süchte bis zur Suizidgefährdung, von den Schreibabys über die Lernstörungen bis zur Hyperaktivität, vom Kinderkopfschmerz über den Brustkrebs bis zum Diabetes – Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe erläutern die wichtigsten Störungsbilder der Erwachsenenpsychotherapie, der Kinder- und Jugendlichentherapie und der Familienmedizin. Zu jedem Störungsbild werden charakteristische Beziehungsmuster und bewährte Entstörungen vorgestellt, zahlreiche Fallbeispiele veranschaulichen die systemtherapeutischen Arbeitsweisen. Dieses Lehrbuch zeigt, dass der Brückenschlag zwischen dem kontext- und lösungsbezogenen Denken der systemischen Therapie und dem störungsbezogenen Denken der evidenzbasierten Medizin und Psychotherapie möglich ist.




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