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05.10.2006
Gerhard Dieter Ruf: Systemische Psychiatrie. Ein ressourcenorientiertes Lehrbuch
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Klett-Cotta Verlag Stuttgart 2005
gebunden mit Schutzumschlag,
308 S., ca. 60 Abbildungen
Preis: 34,00 €
ISBN: 3-608-94154-1 |
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Verlag Klett-Cotta
Wolf Ritscher, Esslingen:
Gerhard-Dieter Ruf hat das – meines Wissens – erste
Lehrbuch zur systemischen Psychiatrie vorgelegt. Es umfasst – ganz im
Sinne eines Lehrbuchs den gesamten Bereich psychiatrisch definierter
Störungen, die Beschreibung ihrer Entstehungsbedingungen (in der
Denkweise klassischer psychiatrischer Pathologie als Ursachen
bezeichnet), die Bedingungen ihrer Präsentation in aktuellen
Situationen und ihre (medikamentöse, psycho- und kommunikative)
Therapie.
Systemische Arbeiten zu bestimmten Bereichen des psychiatrischen
Feldes, vor allem zu einer neuen Sichtweise psychiatrisch definierter
„Krankheiten“, ihrer strukturellen Gestalt (z. B. die Idee der
Zeitorganisation psychotischen Verhaltens) und zu den langfristigen
Prozessen ihrer Entstehung im familiären Kontext gibt es viele. Schon
die Entstehung der Familientherapie in den Fünfzigerjahren des letzten
Jahrhunderts kann als Etablierung einer alternativen Sichtweise über
die Genese und Therapie psychotischer Symptome verstanden werden – man
denke nur an den damals revolutionären, von Bateson et al.
herausgegeben Sammelband „Schizophrenie und Familie“, „Paradoxon und
Gegenparadoxon“ von Mara Selvini Palazzoli et al. (1978) und den 1985
von Helm Stierlin, Lyman Wynne und Michael Wirsching herausgebrachten
Sammelband „Psychotherapie und Sozialtherapie der Schizophrenie“.
Verweisen kann man in diesem Zusammenhang auch auf das 1989 erschienen
Buch von Gunthard Weber und Helm Stierlin zur Heidelberger Therapie der
Magersucht („In Liebe entzweit“) und das 1990 erschienene Buch von
Fritz Simon „Meine Psychose, mein Fahrrad und ich“, das eine für die
damalige Zeit immer noch radikal alternative Sichtweise zur etablierten
Psychiatrie formulierte. Wichtig wurden auch die Arbeiten von Arnold
Retzer, z. B. das 1994 erschienen Buch „Psychose und Familie“, in dem
eine empirische Überprüfung systemischer Hypothesen angestrebt wurde,
der 1996 erschienen Sammelband von Thomas Keller und Nils Greve
„Systemische Praxis in der Psychiatrie“ und die scharfzüngige Kritik
von Jochen Schweitzer und Bernd Schumacher an einer ziemlich
unsystemisch praktizierten Sozialpsychiatrie, die 1995 unter dem Titel
„Die endliche und die unendliche Psychiatrie“ herauskam. In neuster
Zeit sind es vor allem die Arbeiten von Klaus Mücke, die in der
systemisch-psychiatrischen Szene für neuen Wind gesorgt haben, z. B.
sein 2001 erschienenes Buch „Die psychotische Krise“.
Was das ausdrücklich als Lehrbuch bezeichnete Werk von Gerhard Dieter
Ruf auszeichnet ist der Versuch, u. a. in einer Ergänzung der gerade
benannten Autoren, nicht nur bestimmte Bereiche des psychiatrischen
Feldes, vor allem die Psychosen – und hier vor allem die schizophrenen
Psychosen – systemisch zu beleuchten, sondern das ganze Feld der
psychiatrisch abgesteckten Störungen.
Ausgehend von der ICD-10, das sich in der etablierten deutschen
Psychiatrie als Diagnoseschlüssel durchgesetzt hat, versucht Ruf, die
dort unter F0 bis F7 katalogisierten Störungen systemisch zu
reformulieren, neben den etablierten (somatischen, genetischen und
neurobiologischen) Erklärungen für sie auch systemischen und
familiendynamischen Beschreibungen ihren Platz zu geben und jede
umschriebene Störung mit systemtherapeutischen Konzepten zu verbinden.
Dieser letzte Aspekt zeichnet das Buch in besonderer Weise aus. Vor
allem, weil Ruf es nicht bei der Darstellung systemtherapeutischer
Konzepte bewenden lässt, sondern sie durch eine Fülle von konkreten
Beispielen aus der eigenen Praxis veranschaulicht und damit
eindrücklich ihre ganz alltägliche professionelle Relevanz darstellt.
Es ist also die ganzheitliche Systematik und der Handlungsaspekt des
Buches, der mir besonders imponiert.
Dieser ganzheitliche Anspruch und vor allem die konzeptionelle
Entscheidung, an der Systematik der ICD-10 anzuknüpfen, um auch für
nicht-systemische Psychiater anschlussfähig zu sein und darüber hinaus
die Ergebnisse der etablierten nicht-systemischen Psychiatrie zu
berücksichtigen, bringt auch ein Problem mit sich. Manchmal werden ganz
unverbunden systemische und nicht systemische Erklärungsmodelle
nebeneinander gestellt, letztere also nicht im Lichte systemischer
Perspektiven kritisch beleuchtet oder in systemische Konzepte
integriert. Manchmal habe ich auch bei den eingeführten
familiendynamischen und familienstrukturellen Erklärungsmodellen eine
kritische Sicht vermisst, denn sie können ebenfalls infrage gestellt,
ergänzt oder spezifiziert werden. Das ist mir z. B. bei dem Kapitel
über Essstörungen aufgefallen, in dem u. a. auf die Befunde der
strukturellen Familientherapie (Minuchin, Rosman und Baker) verwiesen
wird, die aus meiner Sicht viel zu allgemein sind, um als
störungsspezifische Erklärungskonzepte für anorektisches Verhalten zu
dienen. Aber: Von der anderen Seite her gedacht, lässt sich dieses
Problem wohl nicht vermeiden.
Erstens sollte man die Befunde nicht-systemischer Forschung durchaus
als Beiträge im Rahmen eines multiperspektivischen
Wissenschaftsverständnisses würdigen: gerade das zeichnet m. E. ein
systemisches Wissenschaftsverständnis aus. Aber eine konsistente
Verknüpfung oder sogar Integration solcher nicht-systemischer Befunde
in einen systemischen Erklärungsansatz ist im Rahmen eines einzigen
Buches nicht zu leisten; noch dazu, wenn es als Lehrbuch, also als
Kompaktsammlung aller relevanten Wissensbestände zum Thema konzipiert
ist.
Zweitens gibt es für viele psychiatrisch definierte Symptome und
Krankheiten noch keine empirisch gestützten systemischen
Erklärungstheorien. Das verwundert nicht, denn systemische Psychiatrie
ist immer noch das Wagnis – man könnte auch sagen das Privileg einer
kleinen Kommune innerhalb der psychiatrischen Landschaft. Und die
Befunde einer empirisch fundierten Psychiatrie sind im Vergleich zu
denen der etablierten Psychiatrie rein zahlenmäßig noch sehr im
Hintertreffen. Das verwundert nicht. Denn einerseits erfordert die
systemische Sichtweise viel komplexere empirische Forschungsdesign – z.
B. in der Verknüpfung qualitativer und quantitativer Methoden;
andererseits werden die Platzhirsche der etablierten Forschung den
Vertreterinnen einer neuen Sichtweise nicht und von sich aus einen
anerkannten und finanziell gut ausgestatteten Platz in der
Forschungslandschaft anbieten. Dieser muss über einen langen Zeitraum
mit viel Mühe erstritten werden.
Und drittens – darauf macht Arnold Retzer in seinem Vorwort aufmerksam
– ist die biologische Psychiatrieforschung zurzeit auf Platz eins der
Hitliste und verdrängt das kommunikative Forschungsinteresse. Hier
zeigt sich ein Konkurrenzverhältnis, das – wie Klaus Grawe mit seinem
Buch über „Neuropsychotherapie“ gerade erst gezeigt hat – nicht nur
überflüssig, sondern für beide Seiten schädlich ist.
So ist von der Forschungsseite her im Augenblick nicht viel zu
erwarten, aber Rufs Buch zeigt gerade, wie wichtig eine systemische
Psychiatrieforschung ist. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll und
ausgesprochen hilfreich, dass Ruf sein Buch auf drei Säulen errichtet:
- Erstens auf dem schon erwähnten Anschluss an die ICD-10 und die nicht-systemische psychiatrische Forschung;
- zweitens den im zweiten Kapitel ausführlich
dargelegten Grundlagen einer systemischen Psychiatrie, bei denen er u.
a. auf die o. g. Autoren und (im Sinne Luhmanns) auf die Unterscheidung
von biologischem, psychischem und sozialem System zurückgreift, und
- drittens den eigenen langjährigen praktischen Erfahrungen als Psychiater.
In den klinischen Kapiteln 3 bis 5 ordnet er die nach
der ICD-10 benennbaren Störungen den drei im zweiten Kapitel
erarbeiteten Systembereichen zu und verlässt damit die Systematik der
Klassifikation. Störungen lassen sich nun im biologischen, im sozialen
und in einer Kombination aus biologischem, psychischem und sozialem
System verorten. So gelingt es ihm, von der ICD-10 auszugehen, sie aber
auch hinter sich zu lassen.
Mit Hilfe systemischer Perspektiven werden so Verbindungen zwischen den
diagnostischen Konstruktionen der ICD-10 und systemischen bzw.
familiendynamischen/familienstrukturellen Konzepten hergestellt, die in
der ICD-10 definierten „Krankheiten“ durch die Zuweisung zu
biologischen, sozialen und biologisch-psychisch-sozialen Systemen
kontexualisiert und mit Hilfe von vielen Beispielen aus der eigenen
Praxis ein neues Bild für psychiatrische Störungen gezeichnet.
Für systemisch denkende Praktiker ist Rufs Buch vor allem wegen der
Praxisnähe, den Handlungsvorschlägen, Handlungsbeispielen und gerade
wegen seiner Bezugnahme auf die internationale Klassifikation eine
wertvolle, ja sogar unerlässliche Hilfe im professionellen Alltag. Für
systemische Forscherinnen zeigt es vor allem, wie viele Felder und
Fragen noch auf den innovativen systemischen Blick warten.
Besonders hat mir gefallen, dass Ruf sich dem Versuch eines
systemischen Anschlusses an die nicht-systemische Psychiatrie gestellt
hat und den dadurch entstehenden, hier schon benannten Problemen nicht
ausgewichen ist. Ein wichtiges Ergebnis dabei ist die im 2. Kapitel
entfaltete und aus meiner Sicht für Forschung, Lehre und Praxis äußerst
hilfreiche Unterscheidung von „normativem Kontext“, „Krankheitskontext“
und „Problemlösekontext“. Einerseits lässt sich damit der Konflikt
zwischen dem klassisch-medizinischen Krankheitskonzept der Psychiatrie
und seiner systemischen Kritik entschärfen; andererseits lässt sich
auch der Widerspruch von Freiwilligkeit und Zwang in einem anderen
Licht sehen.
Psychiatrie kann Zwang, Beurteilung und standardisierten Diagnosen
nicht ausweichen, denn sie ist Teil des öffentlichen Gesundheits- und
Ordnungssystems. Die in diesem „normativen Kontext“ notwendigen
Handlungen können aber als solche definiert und transparent gemacht
werden.
Systemische Psychiatrie ist ebenfalls und unvermeidbar mit der
Sichtweise von Beziehungsstörungen als „Krankheiten“ konfrontiert –
durch Patienten, ihre Angehörigen, Kolleginnen und die Krankenkassen.
Manchmal ist es hilfreich, in der Begrifflichkeit dieses
„Krankheitskontextes“ zu verbleiben, z. B. im Sinne des
hypnotherapeutischen und systemischen Utilisierungsprinzips: „Nimm auf,
was der Patient dir bringt.“ In der Sozialen Arbeit heißt das:
„Anknüpfen an den Interessen der Klienten.“
Durch die Konstruktion eines dritten Kontextes, Ruf nennt ihn den
„Problemlösekontext“, gibt es nun aber in jedem Fall die Perspektive
und oft auch die Möglichkeit eines Übergangs aus den beiden vorher
genannten Kontexten in einen, bei dem es um Selbstverantwortung,
Interaktion, Kommunikation, die eigenen und die fremden Beiträge zur
Problemkonstellation, Problemlösungen, Ressourcen, Unterschiedsfragen
(wann und wo tritt das Problem nicht auf?) und aktivierende Methoden
geht.
Medikamente sind auch in diesem Kontext hilfreich – hier vertritt Ruf
eine eindeutig psychiatrisch-ärztliche Position; aber sie müssen nun
unter Berücksichtigung des Kontextes verschrieben werden. Und: Sie
können als Brücke oder Krücke dienen, um sich in der für viele
Patientinnen und Patienten noch sehr ungewohnten Landschaft des
Problemlösekontextes zurechtzufinden. Dieses Kontextmodell ist nicht
nur für die Psychiatrie hilfreich, es kann etwa auch die Soziale Arbeit
davon profitieren.
So ist Rufs Lehrbuch nicht nur eine praktische Fundgrube, sondern ein
qualitativ hochwertiges Theorie-Praxis-Werk, das ich allen Kolleginnen
und Kollegen im psychiatrischen, psycho-sozialen und
klinisch-psychologischen Feld wärmstens empfehlen kann. (Mit freundlicher Genehmigung aus Kontext 2006)
Die website des Autors G.D. Ruf
Eine weitere Rezension von Thomas Feld für psychiatrie.de
Verlagsinformation:
Rufs Lehrbuch gibt Ärzten, Psychologen, Sozialpädagogen und
Sozialarbeitern einen Überblick über psychosoziale Muster bei allen
wesentlichen Störungsbildern und über darauf abgestimmte therapeutische
Interventionsmöglichkeiten. Dabei lädt es ein zu neuen Sichtweisen und
Bewertungen psychischer Erkrankungen und gibt Anstöße, mit neuen Denk-
und Handlungsweisen zu experimentieren.
Die in den letzten Jahren entwickelte systemische Psychiatrie versteht
das Auftreten von psychischen Symptomen auch als Lösungsversuch der
Betroffenen für problematische Konstellationen in ihrem Lebensumfeld.
Diese neue Sinngebung psychischer Erkrankungen ermöglicht neuartige
Vorgehensweisen in der Therapie. Dabei richtet sich der therapeutische
Fokus viel stärker auf die vorhandenen Ressourcen der Patienten und
ihrer Familien als auf die psychischen Symptome.
Ruf beschreibt Zusammenhänge zwischen biologischen Prozessen, Erleben
und Verhalten vor dem Hintergrund der Systemtheorie und führt Befunde
der Hirnforschung und der biologischen Psychiatrie, Ergebnisse
systemischer und anderer psychotherapeutischer Forschung sowie
gesellschaftliche Vorgaben zusammen. Er leitet daraus ein
kontextabhängiges und störungsspezifisches psychiatrisches Vorgehen ab
und erläutert seine Vorschläge anhand einer Vielzahl von anschaulichen
Fallbeispielen. Von der ressourcenorientierten Vorgehensweise können
nicht nur die Patienten, sondern auch die professionellen Helfer
profitieren. So läßt sich das vorliegende Werk als Handbuch mit vielen
praxisnahen Anregungen nutzen.
Über den Autor:
Gerhard Dieter Ruf, Dr. med., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie,
Psychotherapie mit Praxis in Asperg. Systemischer Therapeut (IGST, SG),
langjährige Klinikerfahrungen im psychiatrischen und
psychotherapeutischen Bereich. Veröffentlichungen über
Suchterkrankungen und systemische Psychiatrie.
Inhalt:
Vorwort von Arnold Retzer
1 Einleitung und Dank
2 Grundlagen
2.1 Theorie
2.1.1 Sichtweisen
2.1.2 Systeme
2.1.3 Die Erschaffung der Wirklichkeit
2.1.4 Die Wirklichkeit psychischer Krankheit
2.1.5 Kontingenz
2.2 Die Entwicklung
2.2.1 Die Entwicklung des biologischen Systems
2.2.2 Die Entwicklung des psychischen Systems
2.2.3 Die Entwicklung des sozialen Systems
2.2.4 Schwellen und Übergänge
2.2.5 Ambivalenz
2.2.6 Übergang oder Krankheit
2.2.7 Behandlung in den Systemen
2.3 Der Kontext
2.3.1 Umgang mit nicht verstehbarem Verhalten
2.3.2 Kontextmarkierung
2.3.3 Kontexte in der Psychiatrie
2.3.4 Dilemmata der Psychiatrie
2.4 (Be-)Handlung
2.4.1 Auftragsklärung und Untersuchung
2.4.2 Verantwortung und Neutralität
2.4.3 Vorgehen im normativen Kontext
2.4.4 Vorgehen im Krankheitskontext
2.4.5 Vorgehen im Problemlösekontext
2.4.6 Suizidalität und Gewalt
2.4.7 Institutionen
2.5 Die psychische Störung
2.5.1 Zusammenfassende Beschreibung
2.5.2 Einteilung der Störungen
3 Störungen im biologischen System
3.1 Intelligenzminderung
3.1.1 Symptomatik
3.1.2 Entwicklung
3.1.3 (Be-)Handlung
3.2 Organische psychische Störungen
3.2.1 Symptomatik
3.2.2 Entwicklung
3.2.3 (Be-)Handlung
4 Störungen im sozialen System
4.1 Reaktive Störungen
4.1.1 Symptomatik
4.1.2 Entwicklung
4.1.3 (Be-)Handlung
5 Störungen im psychischen, sozialen und biologischen System
5.1 Stoffgebundene Süchte und Abhängigkeiten
5.1.1 Symptomatik
5.1.2 Entwicklung
5.1.3 (Be-)Handlung
5.2 Schizophrenien
5.2.1 Symptomatik
5.2.2 Entwicklung
5.2.3 (Be-)Handlung
5.3 Affektive Psychosen
5.3.1 Symptomatik
5.3.2 Entwicklung
5.3.3 (Be-)Handlung
5.4 Schizoaffektive Psychosen
5.4.1 Symptomatik
5.4.2 Entwicklung
5.4.3 (Be-)Handlung
5.5 Dysthymia
5.5.1 Symptomatik
5.5.2 Entwicklung
5.5.3 (Be-)Handlung
5.6 Angststörungen
5.6.1 Symptomatik
5.6.2 Entwicklung
5.6.3 (Be-)Handlung
5.7 Zwangsstörungen
5.7.1 Symptomatik
5.7.2 Entwicklung
5.7.3 (Be-)Handlung
5.8 Dissoziative Störungen
5.8.1 Symptomatik
5.8.2 Entwicklung
5.8.3 (Be-)Handlung
5.9 Somatoforme Störungen
5.9.1 Symptomatik
5.9.2 Entwicklung
5.9.3 (Be-)Handlung
5.10 Essstörungen
5.10.1 Symptomatik
5.10.2 Entwicklung
5.10.3 (Be-)Handlung
5.11 Sexuelle Funktionsstörungen
5.11.1 Symptomatik
5.11.2 Entwicklung
5.11.3 (Be-)Handlung
5.12 Persönlichkeitsstörungen
5.12.1 Symptomatik
5.12.2 Entwicklung
5.12.3 (Be-)Handlung
5.13 Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle
5.13.1 Symptomatik
5.13.2 Entwicklung
5.13.3 (Be-)Handlung
6 Evaluation und Ausblick
Vorwort von Arnold Retzer:
Kürzlich las ich in einem programmatischen Text zum Stand der
Ursachenforschung der Schizophrenie das Versprechen, dass es der
psychiatrischen Forschung nun doch möglich sein wird, verwirrte
Moleküle und damit auch verwirrte Geister zu entwirren.
Zunächst faszinierte mich diese interessante (besser wohl: verwirrte)
Metaphorik verwirrter Moleküle und ihre Verbindung zu verwirrten
Geistern. Später erinnerte ich mich bei der Lektüre des vorliegenden
Buches von Gerhard Dieter Ruf zur systemischen Psychiatrie wieder an
die Rede von den verwirrten Molekülen.
Denn: Zum einen hat das Buch etwas mit dem Gegenstand bzw. den Phänomen
zu tun, die über "verwirrte" Moleküle wohl erklärt werden sollen, aber
- soviel kann schon gesagt werden - in einer anderen Weise und mit
einer deutlich anderen Metaphorik. Zum anderen zeigt Ruf in seinem
Buch, wie es möglich ist, zu entwirren oder zumindest nicht zusätzlich
zu verwirren. Im Gegenteil, er bietet eine brauchbare Systematik an,
die konzeptuell klärt und dem Praktiker nützliche Möglichkeiten an die
Hand gibt. Dem Praktiker, der ja meist auf der Suche ist und dabei
nicht selten verwirrt sein kann. "Wo ist etwas?" ist bekanntlich die
Grundfrage des Suchenden, des Beschreibenden und des Darstellenden. In
den Antworten, d.h. den Ortsbestimmungen, gibt sich dann zumeist auch
der Erklärende bekannt.
Wir haben es beim Suchen mit der Bestimmung von Örtlichkeiten zu tun.
Meist aber bemerken wir das noch nicht einmal, weil wir vollauf mit der
Beschreibung der Dinge und Phänomene an einer bestimmten Örtlichkeit
beschäftigt sind, die wir selbstverständlich voraussetzen. Es entsteht
"Ortsvergessenheit". Dadurch lassen sich auch Phänomene absichtlich so
"hinstellen", dass sie etwas kennzeichnen können, was man sonst gar
nicht sehen kann. Wir können etwas erzeugen, was sich naturhaft nicht
ergeben wollte oder nicht ergeben konnte. Wir überschreiten die Natur
und erzeugen Kunst. Dinge lassen sich so beschreiben und darstellen
ohne Rückversicherung bei der Natur, aber auch ohne Einengungen durch
die Natur. Ohne Rücksicht auf die Natur lässt sich nun von verwirrten
Molekülen und Ähnlichem sprechen.
Damit kann man, wenn man es will, eine gewisse Ordnung herstellen und
vielleicht Verwirrung verhindern oder verringern. Das scheint besonders
dann wünschenswert, wenn man sich von Phänomenen umgeben sieht, deren
Anblick mir nicht mehr erlaubt zu wissen, wo ich selbst eigentlich bin.
Wenn ich auf Phänomene stoße, die ich nicht kenne und die ich nicht
einzuordnen weiß. Das kann sich noch steigern bis zu einer Empfindung
der "Gegenstandslosigkeit". Wir sind dann bereit, alles zu tun, um das
zu vermeiden. Wir schauen erst gar nicht hin oder erfinden Gegenstände,
die wir dann wieder in eine beruhigende Ordnung bringen können.
Das Höchstmaß an Verwirrung und Orientierungsverlust ergibt sich dann,
wenn wir unsere eigene Selbstlokalisierung - also unsere eigene Ortung
- verlieren. Wenn wir dann unterwegs sind oder sein müssen, kann es
sein, dass wir den Weg nicht mehr finden. Dieser Orientierungsverlust
zeigt sich natürlich am deutlichsten, wenn es um die Suche nach
verirrten Personen geht, die ihrerseits auch nicht wissen, wo sie sich
zur Zeit befinden, weil sie sich in wilden Gegenden verlaufen haben,
abgelenkt waren oder sich sonst wie verzettelt haben. Sie zu finden
genügt dann allerdings nicht. Man sollte als Finder zusätzlich wissen,
wo man selbst ist, andernfalls erhöht man lediglich die Anzahl der
Verirrten. Es ließe sich mit einer Metapher aus einem anderen Bereich
von einem Doppelblind-Versuch sprechen: Der Verirrte und sein Finder
haben beide keine Ahnung, wo sie sich befinden, wenn sie sich begegnen.
Einen Ort entdecken und einen Verirrten zu finden heißt also nicht
einfach nur dort ankommen, sondern auch zwischen dort und dem Ort,
woher man kommt, eine Verbindung herzustellen und abzusichern. Wissen,
wo etwas ist, ist zugleich ein Wissen, es wieder finden zu können. Erst
indem ich also selbst weiß, wo ich bin, weiß ich auch, wo das ist, was
ich gefunden habe, und ich kenne darüber hinaus den oder die Wege, die
dann benutzt werden können.
Dies alles gilt natürlich besonders für die Phänomene, die in diesem
Buch behandelt werden, die psychiatrischen Phänomene des Verirrens, der
Verwirrung, der Ortsvergessenheit, der Sprachlosigkeit und
Sprachverwirrung und der verschiedenen Formen der Exkommunikation.
All diese brennenden Fragen psychiatrischer Praxis greift Gerhard
Dieter Ruf auf, was allein schon eine beachtliche Leistung ist. Diese
Leistung ist umso bemerkenswerter, als sie nicht gerade im
psychiatrischen Trend liegt. Der psychiatrische Trend ist schon seit
einiger Zeit ein biologischer und damit auch wieder ein
molekular-zentrierter. Man glaubt durch die Konzentration auf Anatomie,
Physiologie und Biochemie, besser: auf deren Abbildung, vom Menschen
absehen zu können oder gar menschliche Rätsel lösbar zu machen. Das
Interesse richtet sich denn auch vor allem auf Bilder von Gehirnen und
anderem aus dem Inneren. Sie werden allerorten zurzeit in einem solchen
Ausmaß produziert, dass sich schon von einer Ikonomanie sprechen lässt.
Dem steht auf der anderen Seite oft eine nur geringe Hörbereitschaft
für Worte und Kommunikation gegenüber, die gelegentlich schon fast als
Sprechphobie erscheinen kann. Die Kommunikation ist selbst
exkommuniziert.
Ruf verbindet dagegen eine konsequent auf Ressourcen fokussierende und
nach dem Sinn von psychiatrischen Symptomen fragende Sichtweise mit
einer beeindruckenden Systematik. Diese Systematik belässt es nicht bei
den altbewährten psychiatrischen Tugenden des Beschreibens und
Klassifizierens, sondern stellt sich den Fragen und Nöten des
psychiatrischen Praktikers, d.h. er versucht sich dessen Fragen zu
stellen, sich von dessen Fragen anregen zu lassen und dessen Fragen zu
beantworten, um ihm bei seiner Ortsbestimmung zur Hand zu gehen.
Darüber ist nicht nur ein theorie- und konzeptgeleitetes Buch über
psychiatrische Probleme entstanden, sondern ein Praxisbuch, das zu
Recht den Untertitel eines "ressourcenorientierten Lehrbuches"
beanspruchen kann: Ein Orientierungsinstrument zur eigenen
Ortsbestimmung.
Allerdings erstaunt und verwundert mich dieses Ergebnis nicht allzu
sehr. Ist der Autor mir doch schon vor vielen Jahren während seiner
systemtherapeutischen Weiterbildung unter anderem dadurch aufgefallen,
dass er oft derjenige war, der die anregenden, weiterführenden und
klärenden, wenn auch gelegentlich irritierenden Fragen aus der Praxis
und dem psychiatrischen Alltag stellte. Seine zahlreichen
Supervisionsfälle versprachen nie Langeweile. Brachte Gerhard Dieter
Ruf einen Fall vor, war Interessantes, Relevantes angesagt, allerdings
auch nichts Leichtes oder Leichtbekömmliches, eben psychiatrische
Herausforderungen des Praxisalltags.
In gleicher Weise wird im vorliegenden Buch schon bei der Darlegung der
systemischen und konstruktivistischen Theorie immer wieder der
Praxisbezug hergestellt, und es dauert nicht sehr lange, bis der Leser
bzw. der Praktiker seine Fragen beantwortet und eine hilfreiche
Systematik systemtherapeutischer Methoden an die Hand bekommt.
Insbesondere solche Herausforderungen wie der Umgang mit oder in
Krankheitskontexten, Behandlungen mit Zwang und Gewalt, Umgang mit
Krisen, wie etwa Suizid, bekommen ihren angemessenen Raum. Aber auch
psychiatrische Institutionen werden angemessen berücksichtigt und auf
ihre besonderen Herausforderungen und Möglichkeiten hin untersucht.
Das Besondere dieses Buches erweist sich aber in der systematischen und
gleichzeitig differenzierten Konzeptualisierung und Vorgehensweise bei
unterschiedlichen Störungen. Die Palette reicht von organisch bedingten
Intelligenzminderungen über posttraumatische Belastungsstörungen,
verschiedene Süchte und Psychosen, Angst- und Zwangsstörungen,
dissoziative und somatoforme Störungen, Essstörungen, sexuelle
Funktionsstörungen bis zu Persönlichkeitsstörungen. Zu all diesen
Störungen bietet Ruf einen umfassenden Überblick über Symptomatik und
Behandlung und fasst die wesentlichen systemischen Dynamiken,
Herausforderungen und therapeutischen Strategien zusammen. Hier liegt
nun in der Tat ein systematisches Lehr- aber, wie ich meine, auch
praktisches Hand- und Orientierungsbuch für den psychiatrischen
Praktiker vor.
Dieses Buch kann man nur in die Hände vieler Psychiater und
Psychotherapeuten wünschen. Es kann helfen, dass in den Sprechzimmern
wieder gesprochen wird, dass wieder den Phänomenen entsprechend
angemessen und nach Sinn suchend miteinander gesprochen wird und nicht
länger nach verwirrten Molekülen gesucht werden muss. Nicht zuletzt
kann dieses Buch aber auch einen Beitrag dazu leisten, den
psychiatrischen Praktiker zu orientieren, ihm zu einem
(Selbst)Verständnis zu verhelfen und Vorgehensweisen zu ermöglichen,
die ihn diesen unmöglichen Beruf leichter überleben lassen, vielleicht
sogar dazu beitragen können, ein wenig Spaß an diesem Beruf zu haben,
was nicht das Geringste wäre. Den Klienten könnte all dies ohnehin von
Nutzen sein.
Angesichts der Fülle dessen, was auch noch über dieses Buch gesagt
werden könnte, bleibt mir nur, den Autor für seine ungeheure Ausdauer
zu bewundern, seinen Mut, ein unzeitgemäßes Buch zu verfassen, zu loben
und dem Buch und einem psychiatrischen Feld viele Leser zu wünschen.
Alle können davon profitieren.
Heidelberg, Sommer 2005
Arnold Retzer
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