Copyright © 2013
levold system design Alle Rechte vorbehalten. |
|
|
Neuvorstellung |
zur Übersicht |
02.08.2006
Ulle Jäger: Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung
|
|
|
Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2004
234 Seiten, broschiert
Preis: 24,95 €
ISBN: 3897411431 |
|
Verlag Ulrike Helmer
Oliver König, Köln:
Die Arbeit von Ulle Jäger, als Promotion an der Uni Frankfurt
entstanden, liefert einen theoretischen Entwurf, der eine
Thematisierung des Körpers in der Soziologie ermöglicht, ohne ihn
völlig in Diskursen aufzulösen und damit in seiner Materialität und
seiner subjektiven leiblichen Gegebenheit gleich wieder zu
verabschieden, aber auch ohne ihn zu renaturalisieren. Ihr
anspruchsvolles Ziel ist es, „ein theoretisches Konzept dafür
auszuarbeiten, wie der Körper als sozialwissenschaftlicher Gegenstand
begrifflich und konzeptionell in der Gleichzeitigkeit von (diskursivem)
Körperwissen einerseits und gelebter (leiblicher) Erfahrung
andererseits gedacht werden kann“ (11). Die Idee von der Inkorporierung
sozialer Ordnung, die in den Arbeiten von Pierre Bourdieu eine so
prominente Rolle spielt, bleibt eine Metapher, solange nicht
verdeutlicht werden kann, wie diese Inkorporierung auch und gerade in
ihren materiellen Aspekten soziologisch zu denken wäre.
Um dies einzulösen, macht sie sich daran, zwei als disparat geltende
soziologisch-geisteswissenschaftliche Denkschulen zu verbinden,
Phänomenologie und Poststrukturalismus. Dabei geht Jäger mit Foucault
konsequent davon aus, dass es keinen Ort außerhalb der Diskurse gibt
und die Rezeption der Phänomenologie nicht dahinter zurückfallen kann.
Doch gerade um den Prozess der Inkorporierung verstehen zu können,
braucht es die Erfahrungsebene der sozialen Akteure, sonst kann das
Nach-„Innen“-Nehmen sozialer Ordnung nicht erfasst werden. Also wählt
Jäger eine doppelte Perspektive, die sich die Unterscheidung zwischen
Körper und Leib zunutze macht, genauer gesagt, einen Körper zu haben
und ein Leib zu sein, und diese Unterscheidung in dem Begriff
„körperlicher Leib“ wieder zusammenführt.
Im ersten Kapitel gibt sie einen Überblick zu den aktuellen Diskursen
der letzten 20 Jahre, vor allem der feministisch geprägten Debatte um
die Trennung von Sex und Gender, die sich mit dem Problem konfrontiert
sah, die Geschlechterdifferenz zu entnaturalisieren, „ohne dabei jedoch
die (weibliche, männliche oder auch Geschlechtskategorien
überschreitende) Erfahrung des Selbst vollständig aufzugeben“ (19). Die
weitgehende Abwesenheit des gelebten Körpers in diesen Diskursen und
die Ersetzung eines biologischen durch einen diskursiven Essentialismus
wurde erneut aufgeweicht durch eine Rückkehr von phänomenologischen
Ansätzen. Der aus ihnen gewonnene Leibbegriff stellt sich zwischen die
Vorstellung von einem biologischen Organismus und dem sozialen Körper.
Im zweiten Kapitel führt Jäger hierfür den Leibbegriff von Herman
Schmitz ein, dessen „Neue Phänomenologie“ davon ausgeht, dass die
phänomenologische Annäherung an „die Sachen selbst“ als eine nicht zu
vollendende Aufgabe anzusehen ist, deshalb aber keineswegs aufgegeben
werden muss. Der Leib in seinen Umweltbeziehungen zeigt sich bei
Schmitz als „leibliches Befinden“, das sich ohne die Aktivitäten der
Sinnesorgane in „Leibesinseln“ einstellt, denen das Selbst passiv
ausgesetzt ist. In diesem Sinne hat der Leib einen „Eigensinn“, der
sich in Empfindungen und Gefühlen niederschlägt, die in ihren
Ausdrucksformen wiederum durch Körperwissen gerahmt sind, ohne in
diesem aufzugehen.
Diesen Leibbegriff setzt Jäger der Bewährungsprobe der
poststrukturalistischen Debatte von Judith Butler und Michel Foucault
aus, in deren Arbeiten sie nachvollzieht, wie sie jeweils mit der
Materialität des Körpers umgehen. Bei beiden taucht ein
nicht-diskursiver Rest auf, sei es in der Differenz von Leib und
Körper, von Materialität und Sprache, von Erfahrung und Denken. Bei
Butler wird dieses Schwanken (zur Zeit) in eine Richtung aufgelöst. Sie
verzichtet auf eine eigenständige Beschreibung eines „Innen“ und ordnet
es dem „Außen“ unter. Im weiteren Verlauf der Argumentation rückt sie
folglich aus dem Blickfeld. Bei Foucault hingegen wird die Ebene der
Erfahrung zum Brennpunkt von Wissen, Normen und Selbstverhältnis, so
dass die doppelte Thematisierung von Körper erhalten bleibt. Die Frage
lautet nun im dritten Kapitel, wie der Diskurs auf der Ebene der
Materialität wirksam wird?
Nun beginnt der Kern der Arbeit mit der Rezeption von Plessners These
der exzentrischen Positionalität und der von ihm eingeführten
Verschränkung der Differenz von Körper und Leib. Mit Plessner wird
soziale Ordnung als kontingent angenommen. Abgesichert wird diese
Ordnung auf der Ebene des Leibes, aus der dieser Ordnung ihre
„Natürlichkeit“ zuwächst. Sie ist daher auch nicht willkürlich
veränderbar. Die Anschlussfähigkeit von Plessners Entwurf wird in
Jägers Darstellung sorgfältig und souverän herausgearbeitet.
Die körpersoziologische Wendung erfolgt mit Rekurs auf die empirische
Arbeit von Gesa Lindemann zur Transsexualität, in der sichtbar wird,
wie es in der Umwandlung von Transsexuellen zu einer vorübergehenden
Lösung der Körper-Leib Verschränkung kommt, damit sich überhaupt ein
neues Bild eines (geschlechtlichen) Subjektes herausbilden kann. Das
Zusammenfallen von Körper und Geschlecht, das wiederum auf der Ebene
des Leibes subjektiv als wirklich erfahren wird, wird in einer Krise
gleichsam aufgehoben, bevor es zu einer erneuten Zusammenführung kommt.
Es ist vor allem Pierre Bourdieu, der den Versuch unternommen hat, die
„Einschreibung sozialer Ordnung in den körperlichen Leib des
Individuums zu fassen“ (169). Vermittelt wird dies bei Bourdieu zentral
über das Konzept des Habitus, das man verdünnen würde, wenn man
darunter allein die kognitive Verinnerlichung kultureller Normen durch
Bildung und Sozialisation verstehen würde. Ein wesentlicher Teil dieser
Weitergabe erfolgt ohne Umweg über den Diskurs, als Mimesis. Dem
körperlichen Leib kommt hierbei eine Speicherfunktion zu. Erst eine
solche Sichtweise lässt verständlich werden, wie der Habitus der
Naturalisierung gesellschaftlicher Ordnung im körperlichen Leib dienen
kann als Voraussetzung ihrer Stabilität. Er ist zur Natur gewordene
Geschichte. Das „Wie“ dieser Inkorporierung bleibt bei Bourdieu jedoch
unklar. Zur theoretischen Füllung dieser Lücke greift Jäger nochmals
auf Plessner zurück, speziell seine Vorstellung, dass die zentrische
Position, die schon für das Tier gegeben ist, in der exzentrischen
Position, die dem Menschen vorbehalten ist, beibehalten ist. In der
zentrischen Position merkt das Tier (und damit auch der Mensch) seinen
Leib, „merkt aber nicht, dass es merkt“ (123). Dieser reflexive Vollzug
ist erst auf der exzentrischen Position der Fall. Gesellschaftliche
Ordnung wird nun gleichsam über diese zentrische Position inkorporiert.
Schwieriger jedoch ist es, diese Lücke auch empirisch zu füllen. In
ihrem Ausblick zeigt Jäger nun für mögliche Empirie drei Perspektiven
auf. Zu erforschen wären demnach: 1. Die Geschichte des
Körper(wissen)s; hierzu liegt schon einiges vor. 2. Die Geschichte der
leiblichen Erfahrung. 3. Die Geschichte ihrer Verschränkung und deren
Veränderung, d.h. wie „zu unterschiedlichen Zeiten die Art und Weise,
wie das Körperwissen auf die Leiberfahrung einwirkt, ebenfalls
unterschiedlich ist“ (214). Diese beiden Ebenen sind schwieriger
einzulösen, da sie die Frage aufwerfen, ob und wie man sich in der
wissenschaftlichen Haltung zum Leib ähnlich distanziert verhalten kann
wie zum Körper, ohne die Besonderheiten des Leibes durch die
Mechanismen der Objektivierung zu tilgen.
Interessante Möglichkeiten zeigen sich in der Beschäftigung mit
Schwellen- und Extremzuständen, z.B. in den Arbeiten von Gesa Lindemann
zur Transsexualität oder Tod, in den Arbeiten von Michael Klein zu
Identitätsproblemen von Frauen im Spitzensport. Erinnert sei hier auch
an die Arbeiten von Marcel Mauss zu den Techniken des Körpers oder der
physischen Wirkung von suggerierten Todesvorstellungen. Wie geschaffen
für eine solche Forschung, aber bislang kaum angegangen, wäre der
Bereich der Psychosomatik, bzw. die Psychotherapie insgesamt. Auch die
neuen Bio- und Lebenswissenschaften, Gentechnologie,
Reproduktionsmedizin, Hirnforschung wären mögliche Forschungsfelder.
Gerade in dem Moment, in dem die soziale Gestaltung der naturalen
Grundlage des Menschen durch die Biowissenschaften einen neuen Schub
bekommt, sollte die Soziologie sich einmischen, und dies nicht allein
der Psychologie und Philosophie überlassen. Das theoretische Rüstzeug
dazu hat sie, bzw. lässt sich entwickeln. Die Arbeit von Jäger liefert
einen gelungenen Beitrag dazu.
(Erstveröffentlichung in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 4, 2005, S. 761f.)
Eine weitere Rezension von Luca Caracciolo für Querelles-Net
Rolf Löchel hat das Buch für literaturkritik.de besprochen
Verlagsinformation:
Alles spricht vom Körper, aber niemand kann genau sagen, was eigentlich
gemeint ist. In der feministischen Debatte überwog zunächst ein
konstruktivistisches Körperverständnis, doch inzwischen wird diese
Sichtweise kritisiert. Eine ähnliche Tendenz zeichnet sich in der
Soziologie ab. Die Rufe nach einem Mittelweg zwischen Aspekten der
Konstruktion und solchen der Materialität und damit der Erfahrung
werden lauter, doch fehlt es hierzu an Ideen. Einen solchen
Brückenschlag unternimmt Ulle Jäger. Konkret verbindet sie
Post-Strukturalismus und Phänomenologie - zwei Denkrichtungen, die
üblicherweise als unvereinbar gelten. Das Modell der Verschränkung ist
nicht nur für die Theoriedebatte relevant, es eröffnet auch neue
Perspektiven für eine empirische Beschreibung von Körper, Leib,
Inkorporierung und Habitus.
|
|
|