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Neuvorstellung zur Übersicht
02.08.2006
Ulle Jäger: Der Körper, der Leib und die Soziologie. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung
Ulle Jäger: Körper, Leib, Soziologie Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2004

234 Seiten, broschiert

Preis: 24,95 €
ISBN: 3897411431
Verlag Ulrike Helmer





Oliver König, Köln:

Die Arbeit von Ulle Jäger, als Promotion an der Uni Frankfurt entstanden, liefert einen theoretischen Entwurf, der eine Thematisierung des Körpers in der Soziologie ermöglicht, ohne ihn völlig in Diskursen aufzulösen und damit in seiner Materialität und seiner subjektiven leiblichen Gegebenheit gleich wieder zu verabschieden, aber auch ohne ihn zu renaturalisieren. Ihr anspruchsvolles Ziel ist es, „ein theoretisches Konzept dafür auszuarbeiten, wie der Körper als sozialwissenschaftlicher Gegenstand begrifflich und konzeptionell in der Gleichzeitigkeit von (diskursivem) Körperwissen einerseits und gelebter (leiblicher) Erfahrung andererseits gedacht werden kann“ (11). Die Idee von der Inkorporierung sozialer Ordnung, die in den Arbeiten von Pierre Bourdieu eine so prominente Rolle spielt, bleibt eine Metapher, solange nicht verdeutlicht werden kann, wie diese Inkorporierung auch und gerade in ihren materiellen Aspekten soziologisch zu denken wäre.
Um dies einzulösen, macht sie sich daran, zwei als disparat geltende soziologisch-geisteswissenschaftliche Denkschulen zu verbinden, Phänomenologie und Poststrukturalismus. Dabei geht Jäger mit Foucault konsequent davon aus, dass es keinen Ort außerhalb der Diskurse gibt und die Rezeption der Phänomenologie nicht dahinter zurückfallen kann. Doch gerade um den Prozess der Inkorporierung verstehen zu können, braucht es die Erfahrungsebene der sozialen Akteure, sonst kann das Nach-„Innen“-Nehmen sozialer Ordnung nicht erfasst werden. Also wählt Jäger eine doppelte Perspektive, die sich die Unterscheidung zwischen Körper und Leib zunutze macht, genauer gesagt, einen Körper zu haben und ein Leib zu sein, und diese Unterscheidung in dem Begriff „körperlicher Leib“ wieder zusammenführt.
Im ersten Kapitel gibt sie einen Überblick zu den aktuellen Diskursen der letzten 20 Jahre, vor allem der feministisch geprägten Debatte um die Trennung von Sex und Gender, die sich mit dem Problem konfrontiert sah, die Geschlechterdifferenz zu entnaturalisieren, „ohne dabei jedoch die (weibliche, männliche oder auch Geschlechtskategorien überschreitende) Erfahrung des Selbst vollständig aufzugeben“ (19). Die weitgehende Abwesenheit des gelebten Körpers in diesen Diskursen und die Ersetzung eines biologischen durch einen diskursiven Essentialismus wurde erneut aufgeweicht durch eine Rückkehr von phänomenologischen Ansätzen. Der aus ihnen gewonnene Leibbegriff stellt sich zwischen die Vorstellung von einem biologischen Organismus und dem sozialen Körper.
Im zweiten Kapitel führt Jäger hierfür den Leibbegriff von Herman Schmitz ein, dessen „Neue Phänomenologie“ davon ausgeht, dass die phänomenologische Annäherung an „die Sachen selbst“ als eine nicht zu vollendende Aufgabe anzusehen ist, deshalb aber keineswegs aufgegeben werden muss. Der Leib in seinen Umweltbeziehungen zeigt sich bei Schmitz als „leibliches Befinden“, das sich ohne die Aktivitäten der Sinnesorgane in „Leibesinseln“ einstellt, denen das Selbst passiv ausgesetzt ist. In diesem Sinne hat der Leib einen „Eigensinn“, der sich in Empfindungen und Gefühlen niederschlägt, die in ihren Ausdrucksformen wiederum durch Körperwissen gerahmt sind, ohne in diesem aufzugehen.
Diesen Leibbegriff setzt Jäger der Bewährungsprobe der poststrukturalistischen Debatte von Judith Butler und Michel Foucault aus, in deren Arbeiten sie nachvollzieht, wie sie jeweils mit der Materialität des Körpers umgehen. Bei beiden taucht ein nicht-diskursiver Rest auf, sei es in der Differenz von Leib und Körper, von Materialität und Sprache, von Erfahrung und Denken. Bei Butler wird dieses Schwanken (zur Zeit) in eine Richtung aufgelöst. Sie verzichtet auf eine eigenständige Beschreibung eines „Innen“ und ordnet es dem „Außen“ unter. Im weiteren Verlauf der Argumentation rückt sie folglich aus dem Blickfeld. Bei Foucault hingegen wird die Ebene der Erfahrung zum Brennpunkt von Wissen, Normen und Selbstverhältnis, so dass die doppelte Thematisierung von Körper erhalten bleibt. Die Frage lautet nun im dritten Kapitel, wie der Diskurs auf der Ebene der Materialität wirksam wird?
Nun beginnt der Kern der Arbeit mit der Rezeption von Plessners These der exzentrischen Positionalität und der von ihm eingeführten Verschränkung der Differenz von Körper und Leib. Mit Plessner wird soziale Ordnung als kontingent angenommen. Abgesichert wird diese Ordnung auf der Ebene des Leibes, aus der dieser Ordnung ihre „Natürlichkeit“ zuwächst. Sie ist daher auch nicht willkürlich veränderbar. Die Anschlussfähigkeit von Plessners Entwurf wird in Jägers Darstellung sorgfältig und souverän herausgearbeitet.
Die körpersoziologische Wendung erfolgt mit Rekurs auf die empirische Arbeit von Gesa Lindemann zur Transsexualität, in der sichtbar wird, wie es in der Umwandlung von Transsexuellen zu einer vorübergehenden Lösung der Körper-Leib Verschränkung kommt, damit sich überhaupt ein neues Bild eines (geschlechtlichen) Subjektes herausbilden kann. Das Zusammenfallen von Körper und Geschlecht, das wiederum auf der Ebene des Leibes subjektiv als wirklich erfahren wird, wird in einer Krise gleichsam aufgehoben, bevor es zu einer erneuten Zusammenführung kommt.
Es ist vor allem Pierre Bourdieu, der den Versuch unternommen hat, die „Einschreibung sozialer Ordnung in den körperlichen Leib des Individuums zu fassen“ (169). Vermittelt wird dies bei Bourdieu zentral über das Konzept des Habitus, das man verdünnen würde, wenn man darunter allein die kognitive Verinnerlichung kultureller Normen durch Bildung und Sozialisation verstehen würde. Ein wesentlicher Teil dieser Weitergabe erfolgt ohne Umweg über den Diskurs, als Mimesis. Dem körperlichen Leib kommt hierbei eine Speicherfunktion zu. Erst eine solche Sichtweise lässt verständlich werden, wie der Habitus der Naturalisierung gesellschaftlicher Ordnung im körperlichen Leib dienen kann als Voraussetzung ihrer Stabilität. Er ist zur Natur gewordene Geschichte. Das „Wie“ dieser Inkorporierung bleibt bei Bourdieu jedoch unklar. Zur theoretischen Füllung dieser Lücke greift Jäger nochmals auf Plessner zurück, speziell seine Vorstellung, dass die zentrische Position, die schon für das Tier gegeben ist, in der exzentrischen Position, die dem Menschen vorbehalten ist, beibehalten ist. In der zentrischen Position merkt das Tier (und damit auch der Mensch) seinen Leib, „merkt aber nicht, dass es merkt“ (123). Dieser reflexive Vollzug ist erst auf der exzentrischen Position der Fall. Gesellschaftliche Ordnung wird nun gleichsam über diese zentrische Position inkorporiert.
Schwieriger jedoch ist es, diese Lücke auch empirisch zu füllen. In ihrem Ausblick zeigt Jäger nun für mögliche Empirie drei Perspektiven auf. Zu erforschen wären demnach: 1. Die Geschichte des Körper(wissen)s; hierzu liegt schon einiges vor. 2. Die Geschichte der leiblichen Erfahrung. 3. Die Geschichte ihrer Verschränkung und deren Veränderung, d.h. wie „zu unterschiedlichen Zeiten die Art und Weise, wie das Körperwissen auf die Leiberfahrung einwirkt, ebenfalls unterschiedlich ist“ (214). Diese beiden Ebenen sind schwieriger einzulösen, da sie die Frage aufwerfen, ob und wie man sich in der wissenschaftlichen Haltung zum Leib ähnlich distanziert verhalten kann wie zum Körper, ohne die Besonderheiten des Leibes durch die Mechanismen der Objektivierung zu tilgen.
Interessante Möglichkeiten zeigen sich in der Beschäftigung mit Schwellen- und Extremzuständen, z.B. in den Arbeiten von Gesa Lindemann zur Transsexualität oder Tod, in den Arbeiten von Michael Klein zu Identitätsproblemen von Frauen im Spitzensport. Erinnert sei hier auch an die Arbeiten von Marcel Mauss zu den Techniken des Körpers oder der physischen Wirkung von suggerierten Todesvorstellungen. Wie geschaffen für eine solche Forschung, aber bislang kaum angegangen, wäre der Bereich der Psychosomatik, bzw. die Psychotherapie insgesamt. Auch die neuen Bio- und Lebenswissenschaften, Gentechnologie, Reproduktionsmedizin, Hirnforschung wären mögliche Forschungsfelder. Gerade in dem Moment, in dem die soziale Gestaltung der naturalen Grundlage des Menschen durch die Biowissenschaften einen neuen Schub bekommt, sollte die Soziologie sich einmischen, und dies nicht allein der Psychologie und Philosophie überlassen. Das theoretische Rüstzeug dazu hat sie, bzw. lässt sich entwickeln. Die Arbeit von Jäger liefert einen gelungenen Beitrag dazu.

(
Erstveröffentlichung in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, H. 4, 2005, S. 761f.)





Eine weitere Rezension von Luca Caracciolo für Querelles-Net

Rolf Löchel hat das Buch für literaturkritik.de besprochen





Verlagsinformation:

Alles spricht vom Körper, aber niemand kann genau sagen, was eigentlich gemeint ist. In der feministischen Debatte überwog zunächst ein konstruktivistisches Körperverständnis, doch inzwischen wird diese Sichtweise kritisiert. Eine ähnliche Tendenz zeichnet sich in der Soziologie ab. Die Rufe nach einem Mittelweg zwischen Aspekten der Konstruktion und solchen der Materialität und damit der Erfahrung werden lauter, doch fehlt es hierzu an Ideen. Einen solchen Brückenschlag unternimmt Ulle Jäger. Konkret verbindet sie Post-Strukturalismus und Phänomenologie - zwei Denkrichtungen, die üblicherweise als unvereinbar gelten. Das Modell der Verschränkung ist nicht nur für die Theoriedebatte relevant, es eröffnet auch neue Perspektiven für eine empirische Beschreibung von Körper, Leib, Inkorporierung und Habitus.



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