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Neuvorstellung zur Übersicht
28.06.2006
Roland Schleiffer: der heimliche Wunsch nach Nähe. Bindungstheorie und Heimerziehung
Schleiffer Wunsch nach Nähe Votum Verlag Münster 2001, Juventa 2003

303 S., kartoniert

Preis: 24,00 €
ISBN: 3779918412



Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:

Seit nun mehr als 15 Jahren lässt sich in Roland Schleiffers Publikationen der anregende Versuch nachvollziehen, die allgemeinen Qualitäten systemtheoretischer Argumentation mit den inhaltlichen Besonderheiten symptomspezifischer Fragestellungen zu verknüpfen [1]. Schleiffer ist ein ausgewiesener Kenner der Luhmannschen Systemtheorie und einer der wenigen Autoren, denen es gelingt, die Luhmannsche Formallogik auf geradezu spannende Weise in Anregungen für das Fallverstehen zu übersetzen. Seine Überlegungen zur funktionalen Analyse, beispielsweise im Fall dissozialen Verhaltens, erweisen sich als besonders gelungene Verwirklichung des viel zitierten Bonmots, nichts sei so praktisch wie eine gute Theorie.
Im nun vorliegenden Buch erörtert Schleiffer die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zur Bindungsorganisation von Jugendlichen, die in einem Heim leben. Offensichtlich handelt es sich hierbei um das erste Projekt dieser Art, zumindest hierzulande. Die Ergebnisse dürften daher sowohl für die Bindungsforschung als auch für die Heimpädagogik von besonderer Bedeutung sein. Der eigentlich Forschungsbericht macht etwa ein Viertel des Buches aus, wobei der Zahlenteil sich auf die wesentlichen Ergebnisse beschränkt. Für PraktikerInnen dürfte die Illustration anhand dreier Fallbeispiele leichter zugänglich sein. Die ausführlichen Transkriptpassagen verdeutlichen hautnah, worum es geht, wenn Schleiffer die Bedeutung der Bindungstheorie gerade für den Heimbereich beschreibt.
Die Erörterung der Ergebnisse des Forschungsprojekts ist eingebettet in einen umfassenden Überblick über Geschichte und aktuellen Stand der Bindungstheorie. Deren Wurzeln in Bowlbys Ressentiments gegenüber Heimerziehung werden deutlich und so erweist sich die Frage als spannend, wie sich aus der Bindungstheorie für die Heimerziehung Lehren ziehen lassen.
Eine der Ausgangspunkte Schleiffers ist die systemtheoretisch fundierte Position, dass Sozialisation nur als Selbstsozialisation möglich ist. "Die Entwicklung des psychischen Systems in seinem sozialen Kontext lässt sich als Sozialisation bezeichnen. Da das psychische System autonom funktioniert, kann es sich bei der Sozialisation immer nur um Selbstsozialisation handeln" (177). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine konstruktive Form des Umgangs mit einem "Technologiedefizit der Erziehung" zu finden:
"Erzieher sind (...) darauf angewiesen, dass sich ihre Zöglinge erziehen lassen, dass mit anderen Worten ihr psychisches System anlässlich der erzieherischen Kommunikation nicht Einspruch erhebt. Das Kind oder der Jugendliche muss an Erziehung interessiert sein, zumindest sich Erziehung gefallen lassen. Jugendliche müssen für Erziehung gewonnen werden (Rotthaus 1999, 47). Bei einem nicht erziehungsschwierigen Kind muss also in gewisser Weise eine Selbsttrivialisierung vorausgesetzt werden können. Nur so lässt sich die Paradoxie des Erziehungsprozesses auflösen, die darin besteht, dass man Kinder dazu bringen will, etwas letztlich von selbst zu tun. Daraus folgt aber nicht, das Erzieher und ErzieherInnen keine Verantwortung für die psychische Entwicklung des ihnen anvertrauten Kindes hätten. So besteht die Verantwortung von Erziehern und Erzieherinnen darin, ihre pädagogischen Beiträge so zu verfassen, dass das psychische System des Kindes sie wahrscheinlich akzeptiert" (179).
Der inneren Strukturierung von Bindungserfahrungen kommt daher eine besondere Rolle zu, wenn es darum geht, sich auf "von außen" herangetragenen Erziehungsbemühungen einzulassen. In Bezug darauf diskutiert Schleiffer das Verhältnis von Erziehung und Bindung im Kontext des Zusammenlebens von Eltern und Kindern. Er geht dabei der Frage nach, "was die Familie instand setzt, diese offensichtlich schwierige Aufgabe immer wieder mehr oder weniger erfolgreich zu bewältigen. Wie schafft sie es, die autonom funktionierenden psychischen Systeme der Kinder dazu zu bringen, die für die erzieherische Kommunikation charakteristische Asymmetrie zu tolerieren?" (184). Seine Antwort: "Es ist die Bindungsbeziehung, die das Kind motiviert, sich an der erzieherischen Kommunikation zu beteiligen und sich erziehen zu lassen. Eine ausreichend sichere Bindungsbeziehung gestattet es den Kindern, sich soweit selbst zu trivialisieren, dass ihr psychisches System sich gegen die Beeinflussung durch die erzieherische Kommunikation nicht allzusehr wehrt. Sicher gebundene Kinder haben das Vertrauen, dass ihnen Erziehung letztlich gut bekommt" (184f.). Dass dies nicht immer gelingt und ein häufig sehr irritierbares Geschehen darstellt, ist durchgängiges Thema professioneller Hilfen in der Erziehungs- und Familienberatung: "Wird diese Chance allerdings vertan, (...), muss das Kind die Erfahrung machen, dass eine zu sorglose Akzeptanz dieser Asymmetrie seine Beziehungen, auf die es angewiesen ist, doch unsicherer werden lässt. Es wird seine Bindungsbeziehung so verändern müssen, dass die Vorhersagbarkeit dieser Beziehungen, die seine Welt doch zum großen Teil ausmachen, wieder ausreicht. Entwicklungsbedingt noch in hohem Maße abhängig von den Erwachsenen, aber ohne ausreichendes Vertrauen in deren Kompetenz, wird es sich daran machen, seine Bindungspersonen zu kontrollieren"(185).
Wie beispielsweise dissoziales Verhalten als Versuch gewertet kann, sich im Kontext unzureichender Bindungssicherheit einigermaßen über Wasser zu halten, schildert Schleiffer mit Hilfe seines Modells der funktionalen Analyse geradezu packend. "Als Probleme, die dissoziales Handeln als Problemlösung sinnvoll erscheinen lassen, kommen vor allem Probleme mit dem Selbstkonzept in Frage. Das Selbstkonzept eines Menschen gilt als schwach und unsicher, wenn er nicht ausreichend sicher sein kann, sich oft genug als Ursache von Wirkung bei anderen erleben zu können" (190). Sich mit genügend groß erlebter innerer Sicherheit als Ursache von Wirkung begreifen zu können (Selbstwirksamkeitserleben) wird zu einem zentralen Motiv: "Dissoziale Kinder und Jugendliche können es nur schlecht aushalten, wenn es nicht um sie geht. Deswegen handeln sie ihre Selbstreferenz überwiegend über den Modus des Handelns. Beim Handeln wird grundsätzlich für die dadurch erreichte Zustandsänderung das eigene System verantwortlich gemacht. Anders ist dies beim Erleben, bei dem die Ursache für die Zustandsänderung der Umwelt zugeschrieben wird. (...) Erleben ist daher also durchaus riskant und erfordert Vertrauen" (226). Beispiel Schule: "Dissoziale Kinder und Jugendliche lernen also, dass die für die Aufrechterhaltung eines ausreichenden Selbstwertes notwendige soziale Resonanz in der Schule am ehesten in der Rolle eines erziehungsschwierigen Schülers zu erreichen ist" (227). "Sich seiner Handlungskompetenz zu vergewissern", kann so als die wesentliche Funktion abweichenden, dissozialen Verhaltens betrachtet werden (190).
In Schleiffers Beschreibungen und Überlegungen wird die Gratwanderung, die Erziehungshilfen zu bewältigen haben, unmissverständlich deutlich, jedoch auch die Chancen korrigierender Bindungserfahrungen (nicht nur) im Heim. Ich möchte dieses Buch nachdrücklich empfehlen. Der Inhalt ist ein Muss für alle, die professionell mit Erziehung zu tun haben, die Form eine Wohltat für diejenigen, die ein hohes theoretisches Niveau in Verbindung mit einer verständlichen Sprache zu schätzen wissen.

Fußnote:

[1] z.B.
1988a. Eine funktionale Analyse dissozialen Verhaltens. In: Praxis d. Kinderpsychologie u. Kinderpsychiatrie 37: 242-247.
1988b. Sinngenerierung als Bewältigungsstrategie. Ein systemtheoretischer Versuch zur Psychopathologie komplexer Tic-Syndrome. In: Acta Paedopsychiatrica 51: 80-89.
1993. Anderssein. Zur Familiendynamik dissozialer Adoptivkinder. In: Familiendynamik 18: 386-396.
1994a. Zur Unterscheidung von Erziehung und Therapie bei dissozialen Kindern und Jugendlichen. In: Heilpädagogische Forschung 20: 1-8.
1994b. Zur Selbstsozialisation erziehungsschwieriger Kinder. In: Vierteljahresschrift f. Heilpädagogik u. ihre Nachbargebiete 63: 467-479.
1995. Selbsttötung als Versuch der Selbstrettung. Zur Funktion suizidaler Handlungen bei Jugendlichen. In: System Familie 8: 243-254.
1997. Adoption – psychiatrisches Risiko und/oder protektiver Faktor? . In: Praxis d. Kinderpsychologie u. Kinderpsychiatrie 46: 645-659.
1998. Zur Funktion selbstschädigenden Verhaltens. In: System Familie 11: 129-137.

(Eine Kurzfassung erschien 2002 in systhema)


Lisa Rettelbach, Erlangen:

Im Zentrum des ausführlichen Bandes von Roland Schleiffer steht eine empiri-  sche Untersuchung 12 bis 23-jähriger in einem Heim lebender Jugendlicher.  Anliegen des Buches ist es, Erkenntnisse der Bindungstheorie und -forschung  für die Praxis der Heimerziehung nutzbar zu machen; endlich, möchte man sagen, nahm doch von Beobachtungen in diesem Winkel der Gesellschaft Bowlbys Entwicklung der Theorie auch ihren Ausgang.
Grund für das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen der Bindungsforschung von Theoretikern der Heimerziehung liegt laut Schleiffer in der zunächst gezogenen Konsequenz,  nämlich Heimerziehung erst mal grundsätzlich zu verdammen. Inzwischen hat sich – mag  man es bewerten, wie man will – trotz Ausbau alternativer Formen und ambulanter Hilfen Heimerziehung als nach wie vor unverzichtbar herausgestellt. Insofern ist es höchste Zeit, sich nach weiteren Ressourcen für die bestmögliche Beziehungsgestaltung innerhalb dieser Erziehungsform umzusehen; die im Buch belegte und mit einem Beispiel veranschaulichte „intergenerationale Transmission“, also Weitergabe erfahrener Bindungsqualitäten  an die eigenen Kinder, ist ein weiterer Grund dafür.
Im ersten Teil werden theoretische Grundlagen komprimiert und verständlich dargestellt: die Bindungstheorie ebenso wie das entwicklungspsychologische Konzept des  „Entwicklungspfades“ sowie bisherige Erkenntnisse über den Zusammenhang von Bindungsqualitäten und pathologischen Entwicklungen. Anschließend beschäftigt sich der  Autor mit Heimerziehung, ihrer Veränderung seit Bowlby und ihrer Bewertung, auch im  Vergleich zu Pflegefamilie und Adoption.
Im mittleren Teil wird die empirische Studie an 72 von 82 über zwölfjährigen Jugendlichen aus einer größeren, nach Schleiffers Einschätzung typischen Jugendhilfeeinrichtung vorgestellt. Die Persönlichkeitsmerkmale der Jugendlichen wurden erhoben mit  dem Offer-Selbstbildfragebogen sowie mit der Child-Behaviour-Checklist (der Elternfragebogen wurde den Betreuerinnen vorgelegt, den Jugendlichen selbst der analoge Youth  Self Report). Die Bindungsorganisation wurde mit Hilfe des Erwachsenenbindungsinterviews AAI durch zwei qualifizierte Auswerterinnen festgestellt (die Fragebögen bzw. ihre  Inhalte sind im Anhang wiedergegeben).
Erwartungsgemäß war das Ergebnis, dass es sich bei den Jugendlichen um eine  Gruppe mit verstärkten klinischen Auffälligkeiten (Hochrisikogruppe) handelt. Als überraschend bezeichnet Schleiffer die Tatsache, dass eine sichere Bindungsrepräsentanz bei  lediglich zwei der zweiundsiebzig Jugendlichen aufzufinden war (mich wundert das eigentlich nicht).
Zur Verdeutlichung der pathogenetischen Mechanismen beschäftigt sich der Autor  im nächsten Kapitel ausführlich mit drei Fallbeispielen, bevor er in einem weiteren theoretischen Kapitel den Zusammenhang von Bindung und Erziehung „unter systemtheoretischem Aspekt“ abhandelt.
Im letzten Teil sollte es nun praktisch werden: der Zusammenhang von Bindung  und Erziehungsschwierigkeit sowie von Bindung und Lernbehinderungen wird aufgezeigt und die Besonderheiten der einzelnen Professionen (Erzieher/-innen, Therapeut-  innen und Therapeuten, Sonderpädagoginnen und -pädagogen) im Umgang mit den Jugendlichen beschrieben.
Im abschließenden Kapitel zieht der Autor die Konsequenzen seiner Ausführungen.  Bereits vorher hatte er gefordert, Bindungssicherheit als Erziehungsziel aufzunehmen. Für die Aufgabe, im Heim korrigierende Bindungserfahrungen anzubieten, hält Schleiffer  die Erzieher/-innen für am besten geeignet als Bezugspersonen des täglichen Lebens mit dem größten Zeitkontingent und somit eigentlich größeren Möglichkeiten als Therapeutinnen und Therapeuten. Allerdings ist Information über und Sensibilität für die Bindungsrepräsentation der anvertrauten Jugendlichen für die notwendige professionelle Sichtweise unerlässlich. Hier gibt es in der Ausbildung noch einiges zu tun.
Bleibt für mich zu resümieren: Haben sich meine hohen Erwartungen erfüllt, mit  denen ich mich als Praktikerin in der Heimerziehung auf das Buch stürzte? Erfreulich ist  es, dass die Klientel, für die Heimerziehung da ist, wissenschaftliche Aufmerksamkeit  erfährt. Bindungsforschung scheint mir ein Ansatz, der (in Zukunft) tatsächlich praxis- (d.h. in diesem Fall veränderungs-)relevante Erkenntnisse liefern kann. Für den Moment  bleibt es bei der wissenschaftlichen Feststellung des Status quo; wie Bindungsrepräsentationen bei Menschen mit widrigen Bindungserfahrungen und meist einer Kumulation von  kritischen Lebensereignissen verändert werden können (und welche Folgen dies für sie  hätte), darüber fehlen empirische Erkenntnisse. Fazit des Buches ist letztlich der alte Spruch: „Es gibt viel zu tun …“.

(Mit freundlicher Genehmigung von Kontext 2003)





Die Website von Roland Schleiffer

Eine Pressemitteilung der Universität Köln zum Buch vom Mai 2002





Inhalt:

1. Bindungstheorie
2. Heimerziehung
3. Bindung bei Jugendlichen im Heim
4. Bindungsunsicherheit und psychische Auffälligkeit
5. Bindung und Erziehungsschwierigkeit
6. Erziehungshilfe
7. Bindung in der stationären Erziehungshilfe von Jugendlichen
8. Abschließende Bemerkungen



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