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Neuvorstellung zur Übersicht
20.05.2006
Harry G. Frankfurt: Bullshit
Frankfurt: Bullshit Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main Februar 2006, 4. Auflage

70 Seiten, fester Einband mit Leinenprägung

Preis: 8,00 €
ISBN: 3518584502
Suhrkamp Verlag





Tom Levold, Köln:

Warum ich „Bullshit“ von Harry G. Frankfurt im systemagazin bespreche? Weil der Titel eine gewisse Anziehungskraft ausübt, weil ich durch die explodierende Medienresonanz zu Jahresanfang  neugierig wurde (die Suche bei Google ergibt für "‘Harry G. Frankfurt‘ + Bullshit“ am 14.5.06 immerhin 180.000 Resultate, der Titel liegt bei Amazon an diesem Tag auf dem sensationellen Verkaufsrang 344) und weil ich das Thema interessant finde - schließlich sind wir von Bullshit umgeben, wohin wir auch schauen, ganz abgesehen davon, dass wir ja auch gelegentlich selbst Bullshit produzieren.
Die ersten Besprechungen („brillanter philosophischer Essay“ usw.) veranlassten mich, ein Rezensionsexemplar beim Suhrkamp-Verlag zu ordern. Es traf ein nicht nur schmales, sondern auch sehr kleines Bändchen etwa im Postkartenformat bei mir ein, edel aufgemacht (Leineneinband mit Prägedruck) und mit einer etwas merkwürdig anmutenden Banderole ausgestattet. Darauf der Slogan „Dieses Buch wird Ihr Leben verändern“, der einer Rezension in der Sunday Times entnommen wurde. Das ist natürlich - Bullshit. Der (übrigens bereits 20 Jahre alte) Text selbst ist in großzügiger Schrift und entsprechendem Zeilenabstand auf 70 Seiten gesetzt und umfasst schätzungsweise nicht mehr als 60.000 Zeichen, ist also eine bequeme Lektüre für den Nachmittag. Er hätte in den gewohnten Suhrkamp-Taschenbüchern wahrscheinlich bequem auf 12 Seiten gepasst.
Diese Art der Präsentation, für die der Autor natürlich nicht haftet, legt jedenfalls schon den Verdacht nahe, als habe die Marketing-Abteilung bei Suhrkamp das Thema rekursiv behandelt. Der Druck der 4. Auflage schon nach wenigen Wochen bestätigt natürlich diese Strategie. Zum benutzten Werbeslogan möchte man aus dem Buch zitieren: „Wenn wir Gerede als ‚heiße Luft‘ charakterisieren, meinen wir damit, was da aus dem Mund des Sprechers kommt, sei nichts weiter als das. Es ist nur Dampf. Seine Rede ist leer, ohne Substanz und ohne Inhalt. Sein Gebrauch der Sprache trägt dementsprechend auch nichts bei zu dem Zweck, dem sie angeblich dient. In Bezug auf den Informationsgehalt macht es keinen Unterschied, ob er etwas sagt oder einfach nur ausatmet“ (50).
Sie können aber beruhigt sein, Ihr Leben wird sich nicht verändern! Denn was hier auseinander gelegt wird, ist das, was in unser Leben schon seit langem durch alle Poren einsickert und uns allen bis zum Überdruss bekannt ist. Was die Leserschaft inhaltlich erwartet? Im ersten, größeren Teil eine – für meinen Geschmack – doch sehr langatmig geratene lexikalische Erörterung über die Begriffe „Bullshit“ und „Humbug“ und ihre Abgrenzung zur Lüge. Diese Analyse leidet ein wenig darunter, dass die verwendeten Begriffe und Wörter stark im englischen Sprachgebrauch verankert sind und die Übersetzung oft mangels akkurater deutscher Entsprechungen (Mist, Quatsch, Quark etc.) die verwendeten Beispiele im Original belässt. Der Text kommt hier ein wenig akademisch-steif und hochgestochen im Gewand eines philosophischen Grundlagenwerkes daher, was ihn leider ein Stück zu sehr auf Abstand von seinem Gegenstand bringt, unterstützt vom weitgehenden Verzicht auf empirische Beispiele für Bullshit.
Die zentrale Argumentation, die erst im spannenderen letzten Teil expliziert wird, zielt auf den Unterschied zwischen Bullshit und Lüge. Frankfurt fragt, wieso wir „dem Bullshit generell mit größerer Milde begegnen als der Lüge“ (58) und macht hier schon deutlich, dass die Lüge bei ihm im Vergleich zum Bullshit besser wegkommt. Das liegt daran, dass sich die Lüge immerhin noch mit Wahrheit beschäftigt: „Der Lügner muss sich ganz unvermeidlich mit den Wahrheitswerten befassen. Wer eine Lüge erfinden will, muss glauben, die Wahrheit zu kennen. Und wer eine erfolgreiche Lüge erfinden will, muss seine wahrheitswidrigen Behauptung im Hinblick auf diese Wahrheit konstruieren“ (59). Und: „Wer lügt, reagiert auf die Wahrheit und zollt ihr zumindest in diesem Umfang Respekt. Ein aufrichtiger Mensch sagt nur, was er für wahr hält, und für den Lügner ist es unabdingbar, dass er seine Aussage für falsch hält. Der Bullshitter ist außen vor: Er steht weder auf der Seite des Wahren noch auf der des Falschen. Anders als der aufrichtige Mensch und als der Lügner achtet er auf die Tatsachen nur insoweit, als sie für seinen Wunsch, mit seinen Behauptungen durchzukommen, von Belang sein mögen. Es ist ihm gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, dass sie seiner Zielsetzung entsprechen“ (63).
Es wird erkennbar, dass Frankfurt als Moralphilosoph das Übel in der Unfähigkeit zur Wahrheit oder in der Gleichgültigkeit der Wahrheit gegenüber dingfest macht, und zwar einer Wahrheit, die den „Tatsachen gerecht“ wird und den Anspruch erhebt, „die Welt korrekt zu beschreiben“: „Wer sich darum bemüht, den Tatsachen gerecht zu werden oder sie zu verschleiern, erkennt damit an, dass es Tatsachen gibt, die in irgendeiner Weise erfasst und erkannt werden können. Wenn er die Wahrheit sagen oder wenn er lügen möchte, setzt er voraus, dass es einen Unterschied gibt zwischen einer richtigen und einer falschen Sicht der Dinge und dass es zumindest in manchen Fällen möglich ist, diesen Unterschied zu benennen. Wer dagegen nicht mehr an die Möglichkeit glaubt, bestimmte Aussagen als wahr, andere hingegen als falsch auszuweisen, dem bleiben nur zwei Wege. Entweder er stellt jegliche Versuche ein, die Wahrheit zu sagen bzw. zu lügen. Das bedeutet, auf Tatsachenbehauptungen ganz und gar zu verzichten. Oder er stellt weiterhin Behauptungen auf, die den Anspruch auf eine Beschreibung der Wirklichkeit erheben, aber nichts anderes als Bullshit sein können“ (69).
Konsequenterweise wird auch der Wechsel vom „Ideal der Richtigkeit“, die aus der aktuellen Skepsis bzgl. „eines zuverlässigen Zugangs zur objektiven Realität“ resultiert, zu einem „Ideal der Aufrichtigkeit“ von Frankfurt mit dem Argument verworfen, dass die Selbstdarstellung der Aufrichtigkeit letztlich auch nichts anderes als Bullshit sei. Mit diesem Argument endet der Essay – und bietet dem konstruktivistisch orientierten Publikum Grund zum Nachdenken, wird doch gerade der Konstruktivismus mit seiner generellen Kritik von Wahrheitsansprüchen hierdurch unter Verdacht gesetzt, selbst Bullshit darzustellen.
Das ist eine starke These, deren empirische Untermauerung Frankfurt aber leider schuldig bleibt. Es müsste nämlich nun eine Analyse von Beispielen folgen, anhand derer sich im Einzelfall aufzeigen ließe, welche Äußerungen, Meinungen und Behauptungen Bullshit sind und welche eben nicht, und welche Perspektiven zur Beurteilung dabei jeweils herangezogen werden. Womöglich würde man feststellen können, dass die Produktion von „heißer Luft“ vielleicht weniger mit der Preisgabe von Wahrheitsansprüchen zu tun hat (auch wenn das eine wichtige Rolle spielen mag), als damit, dass angesichts des öffentlichen Kommunikationsvolumens und der rapide schrumpfenden Zeitspanne zwischen der „Verfertigung eines Gedankens“ und seiner globalen Verbreitung (nicht zuletzt durch Medien wie diesem) der soziale Druck, für eigene Aussagen auch einen schlüssigen Begründungszusammenhang offenlegen bzw. zur Verfügung haben zu müssen, immer weiter nachlässt. Und wenn jeden Tag eine andere Sau durch das globale Dorf getrieben wird, kommt es auf Sorgfalt, Kohärenz und ethische Fundierung nicht mehr wirklich an. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Haftung eines Produzenten für seine Aussagen nicht mehr besonders ernst genommen werden kann. Was beim Altbundeskanzler Konrad Adenauer mit seinem Spruch „Was interessiert mich mein dummes Geschwätz von gestern?“ noch schockieren konnte, ist heute fest in die Erwartungsstruktur öffentlicher Kommunikation eingebettet. Lässt sich diese Entwicklung noch aufhalten?
Harry Frankfurt gibt auch einen Hinweis in diese Richtung: „Die Produktion von Bullshit wird … dann angeregt, wenn ein Mensch in die Lage gerät oder gar verpflichtet ist, über ein Thema zu sprechen, das seinen Wissensstand hinsichtlich der für das Thema relevanten Tatsachen übersteigt. Die Diskrepanz findet sich häufig im öffentlichen Leben, in dem Menschen sich … oft gedrängt sehen, sich eingehend über Gegenstände auszulassen, von denen sie wenig Ahnung haben. In dieselbe Richtung wirkt die weitverbreitete Überzeugung, in einer Demokratie sei der Bürger verpflichtet, Meinungen zu allen erdenklichen Themen zu entwickeln oder zumindest zu all jenen Fragen, die für die öffentlichen Angelegenheiten von Bedeutung sind. Das Fehlen jedes signifikanten Zusammenhangs zwischen den Meinungen eines Menschen und seiner Kenntnis der Realität wird natürlich noch gravierender bei einem Menschen, der es für seine Pflicht als moralisch denkendes Wesen hält, Ereignisse und Zustände in allen Teilen der Erde zu beurteilen“ (70f.).
Auch wenn man die Kritik Frankfurts an der Realitätsskepsis als Ursache für die Zunahme von Bullshit zurückweisen möchte, muss man konzidieren, dass eine konstruktivistische Haltung keine Immunabwehr gegen die Produktion von Bullshit darstellt. Da es Bullshit geben kann, auch wenn man auf die Konstruktion objektiver Beurteilungskriterien verzichtet, ergibt sich sich die Forderung, dass wir uns über unseren präzisen Gebrauch der Sprache Rechenschaft abgeben müssen, nicht nur über ihre inhaltliche Dimension. Indem wir etwas behaupten, vollziehen wir eine sprachliche Festlegung – natürlich auch, wenn wir das Gegenteil behaupten –, die eine bestimmte Art von Autorität im Diskurs in Anspruch nimmt, welche offensichtlich auch unabhängig  von einer äußeren, objektiv erkennbaren Wahrheit funktioniert - oder eben auch nicht.
Mit Robert Brandom, einem anderen Sprachphilosophen und ebenfalls Suhrkamp-Autor, lässt sich anführen, dass „die eigentümliche Autorität, von der die Rolle von Behauptungen innerhalb der Verständigung abhängt, nur verständlich ist vor dem Hintergrund einer damit verbundenen Verantwortung…, die Berechtigung zu den Festlegungen, die derartige Sprachakte ausdrücken, zu rechtfertigen. Es ist möglich, die Berechtigung (…zu Festlegungen…), die in einer Redeweise implizit enthalten sind, zu erlangen, ohne die Möglichkeit leugnen zu müssen, zu einer anderen Festlegung berechtigt zu sein“ (Expressive Vernunft, S. 13).
Bullshit fragt offensichtlich nicht nur nicht nach der Berechtigung zu bestimmten sprachlichen Festlegungen, sondern schert sich offenkundig einen Teufel um den Kontext noch um die Kohärenz und Konsistenz der eigenen Aussagen. Bullshit ist stattdessen ausschließlich an der situativen Verwertbarkeit von sprachlichen Äußerungen in einer immer stärker alle Lebensbereiche durchdringenden „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (G. Franck) orientiert. Dass lässt sich nicht nur in den Massenmedien und der Politik (sozusagen den Homelands des Bullshit) feststellen, sondern wird auch zunehmend in den öffentlichen Selbstdarstellungen der Wissenschaften und Kirchen erkennbar. Bullshit stellt aus dieser Perspektive ein symbolisches Kapital dar, ohne das eine gesellschaftlich relevante Beachtung und das damit verbundene finanzielle Kapital kaum noch zu haben ist.
Vor diesem Hintergrund wird vielleicht auch verstehbar, warum Suhrkamp mit einer Bullshit-Parole für ein Buch über Bullshit wirbt - und damit Erfolg hat.





eine Leseprobe bei Suhrkamp

Ein Interview von Sacha Verna für die “Weltwoche“ mit Harry G. Frankfurt über Bullshit

Ein weiteres Gespräch von Georg Diez mit dem Autor für die "Zeit"


Rezensionen:

Im Internet sind so zahlreiche Rezensionen von Bullshit zu finden, dass ich mich hier auf eine kleine Auswahl beschränke:

Udo Marquart für die Deutsche Welle

Jörg Lau 2001 für die „Zeit“ über die englischsprachige Erstveröffentlichung

Carla S. Reissmann  für die Stuttgarter Nachrichten

Sehr kritisch äußern sich:

Gregor Keuschnig in seinem blog "Begleitschreiben"

Volker Helten für buchwurm.info

und

Sascha Josuweit für den buchblog





Verlagsinfo:

»Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, daß es so viel Bullshit gibt. Jeder kennt Bullshit. Und jeder trägt sein Scherflein dazu bei.« Mit diesen Worten beginnt der philosophische Bestseller dieser Tage: Harry G. Frankfurts konzises, polemisches und provokatives Buch Bullshit. In den Vereinigten Staaten war es der Überraschungserfolg eines philosophischen Buchs der letzten Jahrzehnte. Binnen weniger Monate wurden 400.000 Exemplare verkauft und seine Thesen nicht zuletzt an den Orten breit diskutiert, die er fest im Visier hat: im Fernsehen und in der Presse. Frankfurt erläuterte selbst in populären Fernsehsendungen mit dem Scharfsinn eines Philosophen und der Pointiertheit eines großen Essayisten, daß Bullshit die große Gefahr unserer Zeit darstellt.
Harry G. Frankfurt hat eine scharfsinnige Analyse vorgelegt, wie es kommt, daß das »Blödsinnquatschen, das Rumpalavern, das Heiße-Luft-Produzieren oder schlicht das ›bullshitting‹«, so Daniel Schreiber in der taz, so um sich greifen, daß wir ihnen überall begegnen: in den Medien, in der Politik, in der Kneipe und in der Bahn. Bullshit ist omnipräsent und schlimmer noch: Bullshit steckt an und droht zur Epidemie zu werden, bei der die Wirklichkeit Gefahr läuft zu verschwinden. Wer wissen will, ob und wie wir uns dagegen impfen können, dem sei geraten: Bullshit lesen!

Über den Autor:

Harry G. Frankfurt, geboren 1929, lehrte Philosophie u.a. in Cornell, Oxford und Yale. Seit 1990 ist er Professor für Philosophie an der Universität von Princeton. Er ist Träger zahlreicher Auszeichnungen und Mitglied der American Academy of Arts and Sciences.




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