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14.02.2006
David Quammen: Die zwei Hörner des Rhinozeros. Kuriose und andere Geschichten vom Verhältnis des Menschen zur Natur
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List Taschenbuch 2003
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Enderwitz
383 Seiten, Kartoniert
ISBN: 3548603823
Preis 8,95 €, 9,20 € [A], sFr 16,50 |
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List Verlag
Barbara Hüppauf, Berlin:
Die deutsche Übersetzung des,Boilerplate Rhino’ erschien 2001 bei Claassen und wurde nur von wenigen Rezensionen begrüßt. Das mutet schon erstaunlich an, handelt es sich bei Quammen doch um einen der bekannten Wissenschaftsjournalisten, die es verstehen, auch nicht akademisch gebildete Laien und biologisch Entwicklungsverzögerte mit verständlichen Darstellungen komplexer Zusammenhänge zu erreichen. Vielleicht liegt die Erklärung darin, dass der Autor kein Biologe ist sondern seine Karriere als Schreiber mit dem Verfassen von Literatur begonnen hat. Mit großer Unbekümmertheit zieht er die vielfältigsten Quellen heran – psychoanalytische Theoretiker, Mathematiker, Biologen, Dichter, längst verstorbene Forscher und Zeitgenossen. Er ist belesen, vertraut mit der Fachsprache, liefert zu jedem Text eine ausführliche Dokumentation. Er arbeitet mit unerwarteten Kombinationen von Forschungsergebnissen, liefert keine einfachen Antworten und fordert vom Leser die Bereitschaft, sich auf Überraschungen und gleichzeitig auf ethische und moralische Herausforderungen einzulassen. Seine Betrachtungen sind nie sentimental. Neugierig auf das Leben in allen seinen Formen – der Naturforscher interessiert ihn ebenso wie die Natur– weitet sich der Horizont des Lesers. Die 25 in diesem Buch gesammelten Essays wurden aus den mehr als 170 ausgewählt, die Quammen 15 Jahre lang für die Zeitschrift „Outside“ geschrieben hat. Was die Texte verbindet und zusammenhält, ist die Frage: Was ist das Verhältnis des Menschen zur Natur? Eine Antwort, die der Autor im Laufe der Essays entwickelt, ist, dass „wir Menschen tief in unserer Seele, tief in unserer DNS mit unserer natürlichen Umwelt verbunden bleiben.“(S.85) Das ist an sich schon eine aufregende Aussage, auch wenn die weit verbreitete Vorstellung von der Einzigartigkeit des Menschen durch die moderne Forschung mehr und mehr aufgeweicht wird. Wenn man aber bedenkt, wie viele psychologische und therapeutische Bücher immer wieder in verschiedenen Varianten betonen, dass wir tief im Innern wissen, was für uns gut ist, kann einem leicht schwindelig werden, wenn man diese Aussagen miteinander in Zusammenhang bringt. Es könnte ja sein, dass die Antwort für die Frage nach den Werten, nur zum Beispiel, in der Evolutionsbiologie zu finden sein könnte. Mein Arbeitsalltag besteht in der Arbeit mit Menschen. Wenn ich in der Supervision meine Fragen stelle, Fragen des Zusammenhangs, der Veränderung, Fragen, die ein Ziel setzen, Fragen, die Potenziale aktivieren, bleiben die Antworten immer auf Menschen und Menschenwerk beschränkt. Selbst im relativ grünen Berlin scheinen die Straßenbäume, die Tiere in den Parks, das Leben am Fluss keine Rolle zu spielen. Menschen, die mir ihrem Hund reden oder die alten Damen, die im Zoo „ihren“ Elefanten regelmäßig besuchen, gelten nur als absonderlich. Umso mehr habe ich dieses Buch genossen, in dem es um das Verhältnis des Menschen zur Natur geht und in dem die Aufmerksamkeit des Autors so viel weiter reicht als nur der Mensch in der Stadt.
Ungewöhnliche Fragen stellen
Vermutlich beschert der schon erwähnte glückliche Umstand, dass Quammen kein Naturwissenschaftler, kein Biologe ist, dem Leser einen Autor, der unbekümmert fragt und auch vor ungewöhnlichen und absurden Fragen nicht zurückschreckt. Da er selber kein Experte in einer der naturwissenschaftlichen Disziplinen ist und ein skeptisches Verhältnis zu Institutionen hat, da „die Wissenschaft ein für Irrtümer anfälliges menschliches Tun“(S.15) ist und ein Journalist seine Leser zunächst überzeugen muss, dass er etwas Interessantes zu sagen hat, liest sich das zum Beispiel so: Warum essen wir Hühnereier, aber nicht Hühnerspermien? Warum haben Eulen keinen Penis? Was erzeugt die Ähnlichkeit zwischen Schlangen– und Spinnenphobie? Warum ist ein Mensch anfällig für eine bestimmte Phobie und der andere nicht? Welche Faktoren haben für die Aufspaltung des Genpools der Ordnung Coleoptera in bis zu zehn Millionen isolierte Minipools geführt? Was treibt zur Artenbildung? Was wird in ein paar Millionen Jahren vom Menschen übrig bleiben? Manchmal werden diese nicht alltagsüblichen Fragen beantwortet, oft bleibt die Antwort aus, da es nur Spekulationen und Vermutungen gibt. Oft sind sie ein Anstoß, der uns nachdenken lassen soll und an Essentielles heranführen. Was wird von uns bleiben? Wird in fünfhundert Millionen Jahren etwas von uns erhalten sein, das bewundert werden kann, so wie wir die Versteinerungen von Trilobiten betrachten und bewundern? Was lässt die Schleimpilze ihre Metamorphose von einem Zustand in den anderen vollziehen? Was macht Turing zu dem Staunen erregenden, schwierigen Menschen, der er war? Die Sprache der Experten, die er zitiert, passt er mit schöner und lehrreicher Leichtigkeit dem Leser an. Aus „Welche Faktoren führen zu neuen Fällen von reproduktiver Isolation bei Tier– und Pflanzenpopulationen?“ wird dann umformuliert in: „Allgemeinverständlich gesagt: Wie entstehen Arten? (S.331)“
Mit Überschriften provozieren
Was soll sich der Leser, der das Buch, vielleicht angezogen vom schön gestalteten Umschlag, aufschlägt unter: „Unfalltote auf der Zeitautobahn“ eigentlich vorstellen? Oder: „Den Tumor ertasten“? Oder: „Ent– oder weder“? Wo der Titel unverfänglich und vertraut erscheint, wie: “Das Tier im Spiegel“ sorgt ein Untertitel: „Die Wissenschaft fördert einen anderen Affen zutage“ für skeptische Aufmerksamkeit. Die so geweckte Erwartung an spannend präsentierte Informationen, die gleichzeitig unterhaltend und lehrreich sind, wird in keinem der Texte enttäuscht.
Ähnlichkeiten finden
Quammen sucht und findet die Ähnlichkeiten zwischen menschlichem und nicht–menschlichem Leben. Er zeigt die Grenzen der jahrhunderte lang zumindest in Europa vorherrschenden Vorstellung, die den Menschen als höchste Entwicklungsform verstanden hat. Das für mich beste Beispiel ist der Essay „Ent– oder Weder: Schleimpilze, Binäres Denken und das Gericht über Alan Turing“. Turing (1912 –1954) war ein britischer Logiker, Mathematiker und einer der Urväter des Computers. Heute gilt er als einer der einflussreichsten Theoretiker der frühen Computerentwicklung und Informatik. Während des Zweiten Weltkrieges war er maßgeblich an der Entschlüsselung der deutschen Funksprüche beteiligt. Nach ihm ist der Turing–Preis benannt, die bedeutendste Auszeichnung in der Informatik, sowie der Turing–Test. Soweit so gut. Turing war aber auch homosexuell zu einer Zeit, als das in England noch strafbar war. Seine intellektuellen und praktischen Leistungen schützten ihn nicht vor der Justiz. Er musste sich einer Hormonbehandlung unterziehen, als seine sexuelle Ausrichtung bekannt wurde. Er beging Selbstmord, indem er einen vergifteten Apfel aß. Schleimpilze sind komplizierte Lebensverbände, die keine typische eigene Form haben. Die meisten Mitteleuropäer haben sie wohl nie je mit Bewusstsein gesehen, für die Forscher in den Laboren sind sie jedoch besondere Geschöpfe, da sie, so sagt unser Autor, „alle vertrauten biologischen Kategorien Lügen strafen“ (S. 191) Seine schöne und ausführliche Beschreibung muss man selber lesen, damit man dann die kühne Verbindung, die er zu Turing zieht, schätzen kann. Morphogenese und die Frage, was über das Schicksal und den Charakter des Einzelnen entscheidet, bleiben unbeantwortet und jeder, der versucht war, einfache Kausalitäten zu sehen, wird von dem gelassenen Fazit getröstet werden: „Worauf diese umständliche Abhandlung über Alan Turing, Schleimpilze und Morphogenese letztlich hinausläuft, ist die Frage, ob wir tatsächlich erwarten können, die Faktoren zu begreifen, die einem Leben seine Gestalt, seine Rolle, seine Bestimmung geben. Manche bejahen das eisern. Andere verneinen es nicht minder eisern. Die Antwort, die ich vorziehe, klingt drückebergerisch, aber sie passt zu der Geschichte von Turing, der Geschichte von D. discoideum, und vielleicht ist sie weniger drückebergerisch, als es den Anschein hat: Sie lautet Ja und Nein.“ (S. 206) Die gute Absicht finden
Aus der genauen Naturbeobachtung und den nachdenklichen forschenden Fragen ergeben sich für Quammen die nächsten Fragen: die nach der Moral, dem richtigen Leben. Es sind die sinnlose Zerstörung und Verschwendung, die ihn mit Empörung erfüllen. In dem Essay: „Wer schwimmt mit dem Tunfisch?“ liest sich das so: „Man sieht, wie ein Tier durch die Motorwinde wandert, als glitte nasse Wäsche durch eine Mangel, und registriert, dass es nicht mehr um sich schlägt, sondern nur noch leise zuckt. …Um Gotteswillen, sie wollen ihn essen. Angesichts der Schlächterei fühlst Du eine von Grauen begleitete Empörung, zu der du gar kein Recht hast…” (S.97/98) Oder so: „Man könnte als Einwand gegen die Tötung auch vorbringen, dass der Tod von sechs Millionen Delfinen binnen dreißig Jahren – als Abfallprodukt und damit wir billigen Tunfisch kaufen können und ohne dass mit den Delfinkadavern etwas anderes angefangen wird, als sie ins Meer zurück zu schmeißen – eine unverantwortliche Verschwendung darstellt und dass genau diese schmähliche, selbstgefällige Verschwendung die größte Sünde wider die Natur ist, deren sich unsere Spezies schuldig macht.“ (S.99) In einem anderen Essay heißt es über Eltern, die ihre Kinder an den Klapperschlangerazzien in Texas teilnehmen lassen: (S.29) „Sie bringen den Kindern bei, mit der Tierwelt Schindluder zu treiben“ Unter dem Schutzmantel wissenschaftlicher Forschung werden weltweit etwa 5000 Schimpansen in Gefangenschaft gehalten. „Von ihnen schmachten ungefähr dreitausend in biomedizinischen Einrichtungen und mehr als die Hälfte befindet sich in den USA“ (S.220) Nachdem Quammen ausführlich über Forschungen berichtet hat, die belegen, dass die Schimpansen – den der Londoner Arzt Edward Tysson im Jahre 1699 wegen seiner großen Ähnlichkeit mit uns schon Homo sylvestris genannt hatte – zu den uns am engsten verwandten Wesen zählen. Der Moralist belässt es nicht bei der Frage, ob wir Menschen Teil der natürlichen Welt sind oder ob wir das Recht haben, andere Lebewesen für unseren Fortschritt leiden zu lassen. Dieser Artikel endet mit einem bösen Urteil: „Ein Unterschied zwischen den Schimpansen und uns besteht vielleicht in der Durchdringungskraft der Wahrnehmung. Wie Gordan Gallup gezeigt hat, ist ein „Schimpanse imstande, in seinem Spiegelbild sich selbst zu erkennen. Menschen hingegen sehen im Spiegel Gott höchstpersönlich.“ ( S.221) In seinem nächsten Buch wird Quammen sagen: „Nature is not utterly profane, humanity not utterly sacred, … and the boundary between them – perceived as stark – is illusuary.” (The Monster of God, S.315) Diese Fehlsicht verleitet den Menschen „Geschöpfe zu versklaven und vernichten, die zu 98,4 Prozent ebenso menschlich wie ihre Peiniger und dabei auch noch von kostbarer Seltenheit sind. Menschen, die sich dieses Recht zubilligen, werden sich irgendwann alles erlauben.“ (S.221) Wie wir wissen, erlauben sich Menschen alles. Quammen versucht verstehend an die Intention, die Absicht des Menschen heranzukommen, wenn er die Komplexität der Situation in den Vordergrund stellt. An die Emotionen heranzukommen geschieht zum Beispiel in bestimmten Naturfilmen, von denen er sich distanziert. Verhaltensänderungen sind durchaus möglich. Begrenzte Veränderungen, wie die Herstellung von Dosentunfisch ohne Delfinfleisch bewirken nur einen Verbraucherboykott. Ein Perspektivenwechsel wäre nötig.
Perspektivwechsel
„Wer aber schwimmt mit dem Gelbflossen–Tunfisch? Ganz einfach: die Delfine“. (S.100) Dieser Schlusssatz zu dem gruseligen Kapitel über den delfinfreien Dosentunfisch ist ein Beispiel für den Perspektivenwechsel, den Quammen anregt, damit unser Verständnis für komplexe Zusammenhänge geschärft wird. „Die Delfine sind klug, elegant, lustig, großzügig, einfühlsam, liebevoll und dabei geheimnisvoll – was kann man von Freunden mehr verlangen?“ (S.100) Vielleicht gehört auch die Begeisterung für die Vielfältigkeit der Natur zum genetischen Programm des Menschen. Ebenso scheinen Schlangen– und Spinnenphobien genetisch verankert zu sein. Wir können uns das zu Nutze machen, nicht indem die Tiere vermenschlicht werden wie in Kinderbüchern oder romantisiert wie in so manchem Naturbuch. Wir können aber sehr wohl die Perspektive anderer einnehmen. So lesen wir plötzlich ein Gedicht, in dem der Dichter Jim Harrison zur Schlange wird (S.88) und wer sich auf Dichtung einlassen mag, sieht um sich nicht mehr ein von Schlangen verseuchtes Land sondern spürt eine wunderbare Welt.
Genau Hinschauen
Als Wissenschaftsjournalist kommt Quammen seinem Auftrag nach, exakt und verständlich zu berichten. Dazu wählt er solche Experten als seine Informanten aus, die genau diese Fähigkeit haben. Er selber treibt das Hinsehen manchmal bis über die Schmerzgrenze hinaus. So schildert er, wie er sich das Video über den Tunfischfang angesehen hat, um wirklich zu verstehen, was genau er da sieht: „Genauer gesagt habe ich den Film nicht nur einmal gesehen – ich habe ihn mir im Laufe einer Woche wieder und wieder angeschaut, habe mich in die hässlichen Bilder von ertrinkenden, zerquetschten, blutenden Delfinen förmlich hineingefressen. Ich hielt Einzelbilder an, spulte zurück und drückte immer wieder den Abspielknopf, um die großen Delfinleiber zu sehen, wie sie, zermatscht und trostlos verunstaltet, in den Ozean zurückgeworfen wurden, als wären sie blanker Ausschuss.“ (S. 91) Genauigkeit in der Beobachtung und das Bemühen, möglichst realistisch das Gesehene wiederzugeben, schätzt er auch in der Kunst. Es ist dabei nicht das technische Vermögen, was er an einem Dürer bewundert (das natürlich auch), sondern seine Achtung vor der Natur. Über „Das große Rasenstück“ schreibt er: „Auf den ersten Blick hat man den Eindruck eines langweiligen, uninteressanten Bilds, aber wenn man näher hinschaut, entdeckt man, dass Dürer diesen Pflanzen mit tiefer Achtung begegnet ist und sie zu etwas zutiefst Bedeutendem – zu einer eigenen Welt, einem Ökosystem – gemacht hat. Wie genau schafft er das? Nun, er benutzt den Trick mit der Perspektive, um ihnen Statur zu verleihen, aber das ist noch nicht alles. Er lässt ihnen vor allem die Ehre einer genauen Darstellung gedeihen.“ (S.283) In einem anderen Text „Gärtnerei auf dem Mars“ erzählt er die Geschichte von der Entdeckung der Canali auf dem Mars, die von Giovanni Schiaparelli im Jahre 1877 entdeckt wurden und in denen Percival Lowell, ein reicher amerikanischer Hobby–Astronom, Gärten und Oasen sah, die von Marsmenschen gebaut worden waren. Hier geht es um das Bedürfnis des Menschen, Muster zu entdecken und Ordnung herzustellen. Quammen nennt es „eine ansteckende optische Täuschung“, denn natürlich sahen bald eine ganze Reihe von Beobachtern, was Lowell gesehen hatte. Eine gewisse Respektlosigkeit ist nötig, damit man sich von weit verbreiteten Vorstellungen befreien kann; doch handelt es sich nicht um Bilderstürmerei. So schreibt er spöttisch über Freuds Traumdeutung und seine Interpretation von geträumten Schlangen „Aber was wusste Freud schon von Herpetologie? Er lebte mitten in der Großstadt Wien, wo ein geschätzter Neurologe leicht vergessen konnte, dass eine Schlange manchmal einfach eine Schlange ist.” (80)
Neue Möglichkeiten erschließen
D. Quammen ist aber ein Moralist, dessen Ziel es auch ist, neue Perspektiven und Möglichkeiten aufzuzeigen. „Für eklatant unsinniges Verhalten gibt es immer eine Alternative.“ ( S145) „Revision des Rasens“ endet mit dem Bericht darüber, wie er seinen eigenen Garten umgestaltet und nicht länger versucht, in seinem Fleckchen Land in den Bergen von Montana die grünen Flächen um einen englischen Landsitz zu imitieren (S.246). Er wird sein eigenes Verhalten als Gärtner nicht länger von unserer menschlichen Vorliebe für Savannen mit freistehenden Bäumen bestimmen lassen (auch wenn die Evolutionsbiologie dafür die Erklärung liefert) noch von der den Rasenkult stützenden Chemieindustrie. Er wird heimische Pflanzen wachsen lassen und mit einem Buch im Garten sitzen und lesen (“Grashalme” von Walt Whitman). In dem Essay über Henry Thoreau findet sich ein Hinweis, wo wir Anregungen finden können, unser Leben mehr in Einklang mit unserer biologischen Natur zu finden. Quammen zitiert eine berühmte Passage aus „Walden“: „Aus der verzweifelten Stadt fährt man aufs verzweifelte Land und zieht Trost aus der Tapferkeit, mit der Nerz und Bisam das Leben meistern.“ Und so wie Henry Thoreau von dieser Tapferkeit lernte und sein Buch „Walden“ schrieb, versucht Quammen dem Leser so bildlich und intensiv an der Tapferkeit der Lebewesen – von Schimpansen bis Schleimpilzen – teilnehmen zu lassen, auf dass wir lernen, unseren Dünkel als Krone der Schöpfung zu verlieren. Das würde uns helfen, sorgfältig zu schauen, sorgfältig mit dem Leben um uns umzugehen.
Geschichten erzählen
Dieses Buch steckt voll fantastischer und teilweise sehr komischer Geschichten. Der Autor hat Humor, einen ausgeprägten Sinn fürs Absurde und trägt Fakten und Informationen zusammen, die er manchmal ironisch „Wissensschrott“ (S.145) nennt. Die Anekdoten sind oft jedoch Augen öffnend, da die Realität absurder ist, als ein Geschichtenerzähler es hätte ausdenken können. So hatte die NASA vor, 32 Eier in den Weltraum zu schießen – leider an Bord der Challenger (S.144). Mit Staunen und Erheiterung liest man, dass Holländer im 16. Jahrhundert die winzige Molucken Insel Run wegen ihrer damaligen strategischen Bedeutung für den Handel mit Muskatnüssen gegen die Insel Manhatten eingetauscht haben. Eine der schönsten Geschichten ist die, in der Quammen sich mit dem amerikanischen Kult des Rasens beschäftigt und erzählt, wie er als Junge zu Hause immer den Rasen mähen musste und dabei eine kommunistische Verschwörungstheorie entwickelte, die dieses sinnlose Tun erklärte: „Mähen. Harken. Nachschneiden. Düngen. Mit Gift die breitblättrigen Eindringlinge bekämpfen. Wieder mähen. Das Ganze war zerstörerisch langweilig. Ich stellte mir Chruschtschow vor, wie er sich ins Fäustchen lachte.“(S. 234) Während Amerikaner ihre Tage hinter dem Rasenmäher verbringen, erobern die Russen den Weltraum! In „Halb blinde Dichter und Vögel“ geht es um Jim Harrison und Penn Warren, zwei amerikanische Dichter, in deren Werk und Leben Vögel eine besondere Bedeutung hatten. „Reisende in den Tropen“ unterhält mit einer Darstellung der vielen schrecklichen Krankheiten, die Menschen in den Tropen heimsuchen und die auch einen Reisenden befallen können. Seltsamerweise ist die Lektüre tatsächlich amüsant.
Zum Schluss kommen
Ich habe am Anfang die Frage gestellt, wie die Besprechung eines solchen Buches in ein Online–Journal für Systemiker passt. Unter den Titeln, die bis jetzt in diesem Verzeichnis der Bücher erschienen sind, gibt es ganze zwei, die die Worte „Natur“ und „Baum“ in ihrem Titel tragen. Handbücher für Berufsanfänger, die sich auf die elementaren Fragen konzentrieren, um den Handwerkskoffer zu füllen, enthalten keine Beispielfragen, die den Baum vor der Tür oder die Vögel auf dem Fensterbrett einbeziehen. Ich habe in diesem Buch eine ganze Reihe Ansätze und Vorgehensweisen gesehen, die für Beratung und Supervision wichtig sind. Es ist befreiend und bereichernd, nicht nur auf den Menschen zu schauen. Vielleicht würde ein tieferes Gefühl von Verbundenheit mit allem Lebendigen so manchen Ratsuchenden auch neue Wege zeigen und sie schneller aus unseren Praxen entlassen.
Eine weitere Rezension im Internet von Michael Drewniok
eine kurze Rezension von Birgit Will
eine noch kürzere Rezension von Hans-Volkmar Findeisen aus der Zeit 21/2002
ein (englischsprachiger) Aufsatz von David Quammen für die Online-Ausgabe von National Geographic Magazin über Charles Darwin
Verlagsinfo:
"Wie paaren sich homosexuelle Kraken? Wieso liegen auf Guam tiefgefrorene Flederhunde im Kühlregal? Diese und andere Kuriositäten hat der Biologe David Quammen bei seinen Forschungen über Mensch und Natur rund um den Globus unter die Lupe genommen. Eine herzerfrischende Lektüre voller Charme und Humor."
Inhaltsangabe
Einleitung 9
I. Unfalltote auf der Zeitautobahn 19 Klapperschlangenpassion 21 Imperium als Rauschmittel 33 Feste Teile 47
II. Zweifelhafte Gewissheiten, unerschrockene Theorien 63
Gewissheit und Zweifel in Baja 65 Phobie und Philie 76 Wer schwimmt mit dem Tunfisch 90 Reisende in den Tropen 101 Spatula– Theorie 114 Der große stinkende Schlüssel 127 Alles über Eier 140
III. Fisch oder Fleisch oder wie denn nun? 151
Katzen, die ihre eigenen Wege fliegen 153 Ein Vogel aus Montana, den alle Welt kennt 165 Des einen Freud ist des anderen Leid 179 Ent– oder Weder 191
IV. Nahsicht 207
Das Tier im Spiegel 209 Den Tumor ertasten 222 Revision des Rasens 234 Halb blinde Dichter und Vögel 249 Zeitstudie 261
V. Lichtspiele 271
Das Kesselblech Nashorn 273 Im Rampenlicht 286 Gärtnerei auf dem Mars 298 Der gespielte Henry Thoreau 311 Gottes Schwäche für Käfer 325 Beschränkte Wahrnehmung 336
Bibliografie 347 Register 373
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