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19.08.2005
Stefan Zahlmann, Sylka Scholz (Hrsg.): Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten
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Psychosozial-Verlag 2005
294 S., Broschur
Preis: 29,90 €, 52,20 CHF
ISBN: 3-89806-347-X |
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Psychosozial-Verlag
Corina Ahlers, Wien:
Scheitern ist bis jetzt kein Thema für Systemische TherapeutInnen
gewesen. Deren Techniken verführen biografische Identitäten zur
positiven Wende, unter Systemikern als „ressourcen- und
lösungsorientierte, zukunfts- und zwecksorientierte Arbeitshaltung“
bekannt. Gerade deshalb ist es für uns PraktikerInnen äußerst
lohnenswert, die hier dargestellten Fallgeschichten unter dem Aspekt zu
lesen, dass Scheitern nicht nur negativ, Erfolg nicht nur positiv sein
kann. Die meisten Menschen, die TherapeutInnen aufsuchen, haben
zumindest das Gefühl, in Teilbereichen ihres Lebens vorläufig
gescheitert zu sein. Im ersten Teil dieses Bandes über Arbeit und
Leistung wird an Hand von Beispielen aus verschiedenen Epochen gezeigt,
dass die Deutungen des Scheiterns nicht autonom sind, wie im
therapeutischen Credo so häufig transportiert wird, sondern
gesellschaftlich determiniert. Konnotationen des Scheiterns sind auch
heute noch maximal von einem Männlichkeitskonstrukt des beruflichen
Erfolges geleitet, von dem sich auch die in diesem Band dargestellten
zwei Frauengeschichten nicht abhalten lassen: Laut Gert Dressel und
Nikola Langreiter erzählen Wissenschaftlerinnen die Unwegsamkeiten
ihrer wissenschaftlichen Karriere zwar anders, vielleicht sogar offener
als Männer, dennoch können sie sich vom geforderten männlichen
Erfolgskonstrukt nicht abwenden. Ähnlich geht es Claudia Drekes
„Pseudomigrantin“, die als Politikerin am ostdeutschen
Verwaltungskontext scheitert und deshalb in den Westen zurückkehrt.
Während sich im Beitrag von Andreas Bähr der im 18. Jahrhundert
versagende Schriftsteller Gotthold Friedrich Stäudlin das Leben nimmt,
weil er seine Existenz nicht sichern kann und seiner Familie nicht zu
Last fallen will, ist Karl Marx – einer der bedeutendsten Theoretiker
des 19 Jahrhunderts – in der Analyse von Regina Roth und Jürgen Herres
durchgehend zerknirscht, weil er sich mit seinem anspruchsvollen Werk
den Lebensunterhalt und die Lebensqualität, die er für sich und
seine Familie beansprucht, nicht finanzieren kann und diesbezüglich
auf Friedrich Engels angewiesen ist. Dagegen schafft es der
Bildungsbürger Sebastian Hensel - in der Analyse von Martina Kessel -,
eine Erfolgsgeschichte mit mehreren beruflichen Brüchen zu leben, diese
wird jedoch von den Enkeln familienbiografisch nicht so positiv
verarbeitet wie es der Großvater wohl gerne gehabt hätte.
Besonders interessant für TherapeutInnen ist der Beitrag von Renate
Liebold über Interviews mit Managern, die durchgehend ihre Position in
der Familie als absent bis ausgeschlossen beschreiben. Ein
einziger alternder Manager besinnt sich: Er hätte im Rückblick gerne
mehr von seinen Kindern gehabt bzw. auch seine Position in der Familie
anders wahrgenommen. Bei erfolgreichen Führungspositionen wird die
Rollenaufteilung der Geschlechter unausweichlich, die besondere
Schwierigkeit ist es aber, gleichzeitig den zeitgemäßen Diskurs um die
partnerschaftliche Rollenaufteilung zu führen, die nicht stattfindet.
Die Kinder sind hier fast immer auf der Seite der Mutter und sehr weit
weg vom Vater.
Der zweite Teil des Sammelbandes bringt unter dem Titel „Religion,
Nation, Generation“ einige, meist wenig zusammenhängende Studien,
welche eher historisch gehalten und für TherapeutInnen weniger relevant
sind. Es geht einerseits um das Männlichkeitskonstrukt und dessen
Scheitern im zweiten Weltkrieg. Ein Interview mit Sander L. Gilman zum
Thema Scheitern in Literatur und Kultur der USA im Stil eines
Zeitungsartikels dient wohl eher der Aufwertung des Sammelbandes.
Der letzte Teil läuft unter dem Titel „Lob des Scheiterns, Einsichten
und Ausblicke“ und ist ebenfalls eher locker verknüpft. Utz Jeggle
sieht im Scheitern einen Schritt zur persönlichen Trennungskompetenz,
Erhard Meueler interpretiert an Hand seiner Karriere in der
Erwachsenenbildung Kreativität als eine mögliche konstruktive
Umgangsform mit Scheitern, Christian Klein analysiert Lebens- und Gesellschaftskonzepte rund ums
Scheitern in Kästners Roman „Fabian“ und Regeners Roman „Herr Lehmann“.
Zuletzt vergleicht Sylka Scholz eine TV Show (Show des Scheiterns 2002)
in Berlin mit einem Künstlerclub (Club der polnischen Versager 2002)
und kommt zu dem Schluss, dass dessen Gründer nicht nur – wie schon die
Show des Scheiterns - das hegemoniale Männlichkeitsmodell implizit
kritisieren, sondern darüber hinaus Scheitern als neue
Lebensalternative identitätsbildend konstruieren: Im quasi familiären
Zusammenhalt der Mitglieder dieses „Clubs“ werden im Unterlaufen des
Erfolgsprinzips Versagen und Selbstzweifel zum konstitutiven Moment
eines alternativen Lebensmodells aufgewertet, das in komplexer Weise im
Zusammenhang zu modernen und postmodernen philosophischen und
künstlerischen Konzepten steht.
Abschließend versucht die Mitherausgeberin des Bandes, noch einmal den
roten Faden zwischen den Beiträgen zu spinnen, was allerdings nicht
viel mehr wird als die Forderung nach weiterer wissenschaftlicher
Bearbeitung des Scheiterns, z.B. gender- oder milieuspezifisch. Die
meisten existierenden Untersuchungen widmen sich nämlich der männlichen
Erfolgskarriere der Mittel- und Oberschicht.
Insgesamt eine Sammlung von unterschiedlich guten Beiträgen zum Thema
„Scheitern und dessen Deutung in unserer Gesellschaft“, für Praktiker
schon aus dem Grund lesenswert, weil es einen erweiterten Fokus zur
individualisierten therapeutischen Interpretation des Scheiterns
bringt, welche uns wieder einmal zeigt, dass Erzählungen oft in ihrer
Mehrdeutigkeit gewinnen, und dass Scheitern nicht nur persönlich,
sondern auch gesellschaftstheoretisch umgedeutet werden kann.
Eine Besprechung des Buches von Elisabeth von Thadden für die "Zeit".
Eine weitere Besprechung von Steffen Martus für die "Berliner Zeitung" vom 25.7.05 ist hier zu finden.
… und schließlich noch eine anonyme Kurzrezension
Verlagsinfo:
"Scheitern ist die andere Seite von modernen Biographiekonzepten, die
bisher kaum beleuchtet wurde. In einer Welt aber, die immer weniger
Gewinner kennt, ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema »Scheitern«
unerlässlich.
Die Moderne bietet dem Individuum vielfältige Möglichkeiten der
Selbstverwirklichung. Weniger im Blickpunkt steht dagegen die dazu
gehörende Möglichkeit des indivduellen Scheiterns. Die Beiträger dieses
Sammelbandes gehen diesem »großen Tabu der Moderne« (Sennett) aus
unterschiedlichen, disziplinären Perspektiven nach. Mit Beiträgen von
Jürgen Reulecke, Martina Kessel, Sander L. Gilmann, Utz Jeggle, Rainer
Pöppinghege, Andreas Bähr u. a."
Inhaltsverzeichnis:
Zahlmann, Stefan: Sprachspiele des Scheiterns. Eine Kultur biographischer Legitimation. S. 7-31.
Bähr, Andreas: Schiffbruch ohne
Zuschauer? Überlegungen zur heuristischen Kategorie des Scheiterns aus
der Perspektive moralischer Ausweglosigkeit im 18. Jahrhundert. S.
35-51.
Herres, Jürgen, & Roth, Regina: Karl Marx, oder: "Wenn die Karell Kapital gemacht hätte, statt etc.". S. 53-69.
Kessel, Martina: Ein Lebenslauf in absteigender Linie? Sebastian Hensel - Bildungsbürger, Landwirt, Hoteldirektor. S. 71-87.
Liebold, Renate: "Meine Kinder fragen mich schon lange nichts mehr." - die Kehrseite einer beruflichen Erfolgsbiographie. S. 89-105.
Dressel, Gert, & Langreiter, Nikola: WissenschaftlerInnen scheitern (nicht). S. 107-126.
Dreke, Claudia: Erfolg und Scheitern im "fremden Osten". S. 127-142.
Carl, Gesine: Umwege, Irrwege,
Auswege - Erfahrungen des Scheiterns im Prozess der Identitätsfindung
bei Christian Salomon Duitsch und Salomon Maimon. S. 145-163.
Reulecke, Jürgen: Eine
unbegreifliche Last? Vom Umgehen mit Scheitern, Schuld und Versagen am
Beispiel der jugendbewegten "Jahrhundertgeneration". S. 165-178.
Pöppinghege, Rainer: Zwischen kollektivem und individuellem Tabu - Gefangennahme im Krieg als verdrängtes Scheitern. S. 179-190.
Kühberger, Christoph: Gescheiterte Männer? Über den Bruch der idealtypischen Männlichkeit unter amerikanischer Besatzung. S. 191-206.
Gilman, Sander L.: "God never fails them that trust in him." Scheitern in Literatur und Kultur der USA. Ein Gespräch mit Stefan Zahlmann. S. 207-
218.
Jeggle, Utz: Scheitern lernen. S. 221-236.
Meueler, Erhard: Scheitern und Kreativität. S. 237-253.
Klein, Christian: Vom Glück des Scheiterns. Lebens- und Gesellschaftskonzepte in Kästners "Fabian" und Regeners "Herrn Lehmann". S. 255-264.
Scholz, Sylke: Die "Show des Scheiterns" und der "Club der Polnischen Versager" - Der (neue) Diskurs der Gescheiterten. S. 265-289.
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