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Neuvorstellung zur Übersicht
16.08.2005
Urte Finger-Trescher, Heinz Krebs (Hrsg.): Bindungsstörungen und Entwicklungschancen
Finger-Trescher: Bindungsstörungen Psychosozial-Verlag 2003

231 S., Broschur

Preis: 19,90 €, 33,90 CHF

ISBN: 3-89806-151-5
Psychosozial-Verlag





Kai Brüggemann, Bonn/Köln:

Urte Finger-Trescher und Heinz Krebs haben Beiträge einer wissenschaftlichen Fachtagung des Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytische Pädagogik im Herbst 2001 zu dem Sammelband „Bindungsstörungen und Entwicklungschancen“ zusammengestellt. Im ersten Teil werden grundlegende Aspekte menschlicher Bindungen dargestellt, im zweiten Teil geht es um die Bedeutung der Bindungsforschung für die praktische beraterische Arbeit, der dritte Teil enthält neben möglichen praktischen Bezügen auch Überlegungen zu präventiven Maßnahmen.

Heiner Keupp
zeichnet in seinem Beitrag „Identitätsbildung in der Netzwerkgesellschaft: Welche Ressourcen werden benötigt und wie können sie gefördert werden?“ ein Bild der Gesellschaft, wie es sich sowohl aus der Presse als auch aus sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen ergibt.
Aus der Shell-Studie 2000 wird deutlich, dass Identitätsfindung für die heutige Jugend komplexer geworden ist, weil Vorstellungen von Wohnen, Partnerschaft und Lebenszielen flexibler als früher gehandhabt werden und traditionelle Identitäts- und Rollenentwürfe immer seltener übernommen werden können. Wichtige Schlagworte sind Patchworkbiographien und biografische Mitfahrgelegenheiten mit temporären Zielen anstelle des früheren „Langstrecken-Zuges auf fremd vorgegebenen Lebenslauf-Gleisen“ (S.18). Die Jugend heute sei von ihren Eltern und Lehrern auch deshalb schwerer zu begleiten, weil sie selbst zu einer Projektionsfläche geworden sei für Hoffnungen und Ängste der Erwachsenen.
Keupps Diagnose hieraus lautet: Mit einem Verfall von Werten und der Bedeutung von sozialen Bindungen wird Identitätsfindung für Heranwachsende immer schwerer. Unterstützend führt Keupp Zahlen der Shell-Studie an, wonach zwischen 35 % und 43 % der west- bzw. ostdeutschen Jugendlichen düster in ihre Zukunft sehen. Daher sei es wichtig, eine alltägliche Identitätsarbeit zu leisten, um Lebenssinn zu schöpfen und um sich selbst im Spannungsfeld zwischen neuen Chancen und Verlorengehen zu organisieren. Für die alltägliche Identitätsarbeit sei nach außen die Anerkennung durch das soziale Netz, nach innen ein Gefühl von Authentizität wichtig. Dabei hänge es vom Zugang zu materiellen und sozialen Ressourcen ab, ob dem Einzelnen das gelinge.
Hier findet Keupp Verknüpfungen zum Salutogenesemodell von Antonovsky. Das Modell erklärt – im Gegensatz zur pathogenetischen Sichtweise der Entstehung von Krankheiten – wie Menschen es schaffen, trotz täglichen Umgangs mit Stressoren gesund zu bleiben. Hierbei spielt das sog. Kohärenzgefühl eine zentrale Rolle. Der Gegenpol zum Kohärenzgefühl ist Demoralisierung. Das Kohärenzgefühl bezeichnet die Art und Weise, wie ein Mensch das Leben als sinnvoll erlebt, statt sich einem unkontrollierbaren Schicksal ausgesetzt zu sehen. Menschen mit dieser Kompetenz glauben, schwierige Situationen bewältigen und Ziele erreichen zu können. Dieses Kohärenzgefühl ist in Antonovskys Modell ein zentraler Faktor, der über Zugang zu den materiellen, kognitiven und sozialen Ressourcen entscheidet.
Da gerade im Jugendalter die Identität die Entwicklungsaufgabe schlechthin ist, hat der Autor Interviews Jugendlicher im Alter zwischen 17 und 18 Jahren qualitativ mit Hilfe der Kategorien von Antonovsky ausgewertet, was er an drei Fallbeispielen demonstriert. Dies geschieht auf drei Ebenen:  der Sinnebene, die Projekte, Ziele, Wünsche umfasst, der Verstehensebene, die das Einordnen von Erlebtem in ein eigenes, mehr oder weniger stimmiges Selbstbild meint, und der Bewältigungsebene, der Überzeugungen, dass man  schafft, was man sich vornimmt, zuzuordnen sind.
Der Autor macht deutlich, dass diese Identitätsarbeit auch in einem ökonomischen Rahmen geschieht: Wer von Armut bedroht ist, ist in seinen Chancen bereits stark eingeschränkt, für sich Lebenskohärenz zu finden. Alarmierend ist in diesem Zusammenhang der Anstieg der Kinder und Jugendlichen, die von Armut betroffen sind, wie Zahlen aus dem Jahr 2000 belegen. Studien zeigten, dass der Zugang zu sozialen Ressourcen, damit sind selbst initiierte soziale Netzwerke gemeint wie Freundeskreise, Vereine, Nachbarschaft, Selbsthilfegruppen etc., wiederum von materiellen Ressourcen abhängt. Die Solidargemeinschaft der klassischen Arbeiterfamilie sei Vergangenheit, Vereinzelung gerade in diesem Bereich die Wirklichkeit.
Aus der Gegenüberstellung von modernisierter Gesellschaft einerseits und dem Salutogenesekonzept andererseits kommt Keupp zu Bedingungen, die es v.a. Heranwachsenden ermöglichen sollen, die „riskanten Chancen“ für eine gelingende Identität zu nutzen. Hierzu gehören Nutzung der geschilderten Ressourcen, aber auch Partizipationsmöglichkeiten wie z.B. Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an Jugendhilfeplänen sowie die Idee des Empowerments, d.h. der Wiedergewinnung von Kontrolle über eigene Lebensbedingungen.
Keupp tritt klar für eine stärkere (sozial-)staatliche Rolle ein, indem z.B. soziale Netzwerkbildung in unteren Schichten vom Staat gefördert werden soll. Er sieht die Identitätsarbeit von Menschen durch eine Sichtweise gefährdet, in der die Regulationskraft des Marktes alleinbestimmend für eine (sozial-)politische Agenda wird. Dies bezieht er sowohl auf eine abstrakte politische Ebene, dann auf die Ebene von sozial-, entwicklungs- und gesundheitspsychologischen Theorien (Identitätsentwicklung) als auch auf konkrete Einzelfallgeschichten. Ich halte dies für einen anschaulichen Rahmen, um klarzumachen, vor welchem Hintergrund eher mikroanalytische Beobachtungen von Bindungsprozessen auch zu sehen sind.

Karl-Heinz Brisch gibt einen Überblick über wesentliche Konzepte der Bindungsforschung wie Feinfühligkeit, Bindungsqualität des Kindes in der Versuchsanordnung der „Fremden Situation“, Bindungsrepräsentation der Bindungspersonen im Zusammenhang mit deren Erfassung über das Erwachsenen-Bindungs-Interview und Transmission dieser Bindungserfahrungen von den Eltern zum Säugling/Kleinkind. Die Bedeutung der Sprache bzw. Vokalisation und Lautimitation in der dialogischen Abstimmung zwischen Mutter und Kind wird gerade dann sichtbar, wenn diese Mechanismen wie bei postpartaler Depression fehlschlagen. Bei neurologisch kranken Kindern sind selbst Eltern mit sicherer Bindungsrepräsentation und feinfühligem Verhalten sehr stark gefordert und leicht überfordert. Dann erläutert Brisch die Klassifikation von Bindungsstörungen, die er in seiner Monographie (Brisch, 1999) ausführlicher erläutert hat. Im Unterschied zu desorganisiertem Bindungsverhalten, welches durch pathogene Faktoren wie Misshandlung, Deprivation und Störungen der Eltern-Kind-Interaktion vorübergehend auftreten könne, resultieren diese Bindungsstörungen, wenn entsprechend ungünstige frühe Beziehungserfahrungen über mehrere Jahre angedauert haben. Brisch unterscheidet insgesamt acht Arten von Bindungsstörungen; das Fatale an diesen besteht zum einen darin, dass sich hier beim Kind derart bizarre Verhaltensweisen zeigen wie z.B. soziale Promiskuität, Unfallrisikoverhalten, fehlendes Bindungsverhalten, dass die Bindungswünsche des Kindes kaum noch als solche erkannt werden und somit auch nicht kontingent darauf reagiert werden kann. Zum anderen erzwingen die Verhaltensweisen bei Bindungsstörungen, dass die Bindungspersonen sehr stark kontrollierend darauf reagieren müssen, was eine liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kind fast unmöglich macht. Eine Behandlung, die auf eine Änderung dieses kindlichen Verhaltens abzielt, könne nur kurzfristig wirken, da Bindungsstörungen in einer bestimmten Interaktion entstehen, an der auch die Eltern und deren Repräsentationen beteiligt sind. Die verhaltensbezogene Intervention könne die zugrundeliegende Bindungsstörung letztlich nicht therapieren. Daher müssen Anteile der Eltern am Zustandekommen solcher Störungen mitbedacht werden.
Der praktische Bezug dieses Beitrags ist von daher sehr hoch, als man mit der Kenntnis dieser Bindungsstörungen nun bei vielen kindlichen Verhaltensstörungen auch Bindungsstörungen differentialdiagnostisch abklären sollte. Ist eine solche festgestellt, kann man vor dem Hintergrund der Bindungsgeschichte des Eltern-Kind-Systems im Elterngespräch ggf. eher an Bindungsrepräsentationen der Eltern gelangen.
Kritisch ist dazu einerseits anzumerken, dass eine Meta-Analyse von Bakermans-Kranenburg, van IJzendoorn und Juffer (2003) zeigt, dass bindungsbezogene Interventionen, die auf das Verhalten abzielen (Feinfühligkeitstraining), einen größeren Effekt erzielten als repräsentationsbezogene Interventionen. Zum anderen mag in der klinischen Fallarbeit dem Beobachter noch so deutlich sein, dass Anteile der Eltern eine Rolle spielen beim Zustandekommen einer Bindungsstörung. Letztlich ausschlaggebend dafür, ob eine eher repräsentationsbezogene oder verhaltensbezogene Intervention erfolgt, sollte der Zugang zum Klientensystem sein, mit dem es am ehesten gelingt, ein sicheres (!) Arbeitsbündnis aufzubauen. Ist Entlastung über ein verhaltensbezogenes Training möglich, kann in einem elternbezogenen Gespräch nach Ressourcen gesucht werden und können dann auf einer so gewonnenen therapeutisch sicheren Basis Suchbewegungen in elterliche Repräsentationen ggf. leichter gestartet werden.

Wilfried Datler untersucht die Frage, ob die Bindungstheorie für die psychoanalytische Theorienbildung von Bedeutung ist. Obwohl diese wissenschaftstheoretische Fragestellung an sich eher praxisfern wirkt, gelingt es ihm, die Relevanz dieser Fragestellung für die Praxis klarzumachen.
Er unterscheidet zwischen unmittelbarer und mittelbarer Wirkung der Bindungsforschung auf die Psychoanalyse. Eine Forschungsrichtung übe einen unmittelbaren Einfluss auf ein bestehendes Theoriensystem aus, wenn deren Ergebnisse ohne Brüche und Modifikationen darin eingefügt werden können. Zwar habe die Bindungsforschung Variationen von innerpsychischen Konflikten (nämlich „Sicherheit vs. Autonomie“) und Abwehrprozessen (wie das Unterdrücken von Gefühlen bei unsicher-meidenden Kinden) detailliert untersucht und sei von daher eine Bereicherung für psychoanalytische Modellbildung. Die Art und Weise aber, wie die Bindungsforschung die genannten Abwehrprozesse untersucht, sieht Datler kritisch, da das Hauptinteresse der Bindungsforschung auf einige Kernkonzepte wie Feinfühligkeit und Bindungsmuster begrenzt ist. Demgegenüber geht es der Psychoanalyse ja um latente oder manifeste mentale Inhalte des Erlebens, es werde ein viel breiteres Feld menschlichen Erlebens abgedeckt. Diesen Unterschied zeigt er an einem Fallbeispiel, in welchem ein sechs Monate alter Säugling von seiner Mutter zwar liebevoll gestillt, gefüttert, gewickelt und gebadet wird, ein affektiver Austausch aber unabhängig von solchen Pflegesituationen kaum zu beobachten ist. Aus Sicht der Bindungstheorie könne man sich hier darüber verständigen, ob die Mutter feinfühlig handelt (was offensichtlich der Fall ist) und Prognosen zum Bindungsstatus ein Jahr später abgeben. Für die psychoanalytische Pädagogik jedoch stellen sich im Anschluss an solche Beobachtungen eine Reihe von weiterführenden Fragen: Wie erlebt der Säugling Phasen, in denen er nach Abschluss einer feinfühligen Pflegesituation allein gelassen wird? Was bedeutet es, wenn er nach sonst oft tränenlosem Aufschreien erstmals in einer Interaktion mit der Mutter Tränen zeigt? Welche Motive leiten die Mutter?
Dann bespricht Datler mittelbare Folgen der Bindungstheorie für die Psychoanalyse und stellt fest, dass Ergebnisse bindungstheoretischer Untersuchungen zu einer Abänderung einiger analytische Konzepte geführt haben. So habe man erkannt, dass die dualistische Triebtheorie Freuds nicht erklären kann, wie das Bedürfnis nach Bindung zustandekommt, so dass Lichtenberg eine Modifikation der Vorstellung von motivationalen Systemen vornahm, in der das Bedürfnis nach Bindung eine zentrale Rolle spielt. Dies sei keine bloße Ergänzung, sondern eine Neukonzeption gewesen. Auch dass bei einem unsicher-meidend gebundenen Kind bereits ab dem 12. Lebensmonat Abwehrprozesse anzunehmen sind, ist eine Neuerung durch die Bindungstheorie, da dies bedeutet, dass eine Strukturbildung in der Persönlichkeit stattfindet, noch ehe das Kind über Symbolisierungsfähigkeiten verfügt.
An einem Fallbeispiel aus dem Text „Ghosts in the Nursery“ von Selma Fraiberg demonstriert er noch weitere Konsequenzen, die die Bindungsforschung für die psychoanalytische Praxis hat. Darin spielt das psychoanalytische Konzept des containment von Bion eine wichtige Rolle: Eine Mutter, die in der therapeutischen Arbeit über ihre eigenen negativen Erfahrungen in der Kindheit sprechen kann, wird von diesen „Gespenstern“ loslassen können und dann ihr eigenes Kind weniger als Projektionsfläche nutzen und weniger verzerrt wahrnehmen müssen. Für diese therapeutische Arbeit muss der Therapeut die schlimmen Erlebnisse der Mutter quasi wie ein Container aufnehmen, eine Zeitlang aufbewahren, dann aber in verträglicherer Form wieder an die Mutter zurückgeben können. Dieses Containment-Konzept erfuhr nun durch die Bindungstheorie eine Weiterentwicklung; Fonagy und Mitarbeiter fanden nämlich, dass die Art der Bindung weniger von der Feinfühligkeit der Eltern abhängt, sondern mehr von deren Fähigkeit, eigenes und kindliches Verhalten als Ausdruck von Gefühlen, Wünschen etc., kurz: von mentaler Befindlichkeit zu sehen. Dies wird als Mentalisierungsfähigkeit bezeichnet. Haben Kinder Eltern mit solchen Fähigkeiten, die also kindliche Verhaltensweisen nicht verzerrt wahrnehmen, sondern als Ausdruck eines affektiven Zustandes, dann finden hier auch erfolgreiche Containment-Prozesse statt. Somit ergibt sich die Verknüpfung von sicherer Bindung und erfolgreichem Containment. Schließlich zeigt Datler, dass sich die dadurch ergebenden theoretischen Modifikationen am containment-Konzept bereits in der Fallschilderung von Selma Fraiberg finden, dass diese somit auch Relevanz für die Praxis haben, jedoch zum damaligen Zeitpunkt nicht weiter beachtet und ausgearbeitet worden waren.

Eva Hédervári-Heller erläutert die psychobiologische Sichtweise auf die Mutter-Kind-Interaktion in den ersten Lebensmonaten. Diese von Hanus und Mechthild Papousek geprägte Richtung geht davon aus, dass auf Seiten von Mutter und Kind angeborene Verhaltensprogramme in der Mutter-Kind-Interaktion eine Rolle spielen, und zwar schon früher als von Psychoanalyse und auch Bindungstheorie angenommen. Dabei wird zunehmend der aktiven Rolle des Säuglings in der Entwicklung der Mutter-Kind-Interaktion Beachtung geschenkt. Diese Programme gewährleisten, dass die Mutter aus den Signalen des Säuglings erkennt, was ihm fehlt. Störungen in dieser Abstimmung können entstehen, wenn Mütter Signale des Säuglings falsch interpretieren, so z.B. das Kopfwegdrehen als Ablehnung ihrer Person statt als Selbstregulation des Erregungsniveaus, oder unangemessen bzw. nicht rechtzeitig darauf reagieren.
Die Autorin berichtet dann von einer eigenen Untersuchung zum Zusammenhang von Bindungssicherheit des Kindes im Alter von 12 Monaten mit unterstützender Responsivität der Mutter auf den affektiven Zustand des Kindes im Alter von 2 bis 3 Jahren. Unterstützende Responsivität bedeutet z.B., dass die Mutter einen negativen Affekt des Kindes in einen positiven oder neutralen umwandelt. Erwartungsgemäß zeigte sich, dass diese Responsivität der Mutter mit der Bindungssicherheit des Kindes zusammenhängt: Mütter bindungssicherer Kinder verhielten sich unterstützender als die der unsicher gebundenen Kinder. Allerdings fand man diesen Unterschied nur im 2. Lebensjahr, im 3. Lebensjahr waren die Unterschiede zwischen den Bindungssicheren und –unsicheren aufgehoben. Dies lag v.a. daran, dass die Mütter mit Älterwerden des Kindes unabhängig von der Bindungssicherheit des Kindes responsiver wurden, zum einen, weil alle Kinder nun mehr kommunikative Kompetenzen besaßen, zum anderen, weil die Kinder nun auch Wünsche und Ziele des Gegenübers berücksichtigen (zielkorrigierte Partnerschaft). Das Kind wird so mehr und mehr als ein Sozialpartner wahrgenommen, demgegenüber man sich entsprechend unterstützender verhält.
Die unterstützende Responsivität durch die Mutter wird an zwei Beispielen aus Beobachtungssituationen, in denen Mutter und Kind miteinander spielen, verdeutlicht: Während des gemeinsamen Spiels bewegt sich plötzlich ein kleiner Spielzeugroboter geräuschvoll im Untersuchungsraum. Dieses mit der Mutter vorher vereinbarte Ereignis wirkt dabei für die Kinder stressauslösend. Es wird zunächst eine Mutter-Kind-Dyade mit unsicherem Bindungsmuster beschrieben, in der es dem Kind wesentlich schwerer fällt, seine negativen Affekte zu regulieren, als dies in der sicheren Mutter-Kind-Dyade zu sehen ist. Der Mutter fällt es im ersten Fallbeispiel auch wesentlich schwerer, das Kind zu beruhigen, es also in der Affektregulation zu unterstützen.
Der Beitrag gibt einen überschaubaren theoretischen Rahmen vor und greift hieraus mit der Responsivität ein Phänomen der Affektabstimmung heraus, welches auch von praktischer Relevanz ist. Dies wird dann von einer empirischen Untersuchung untermauert und schließlich an zwei Einzelfällen verdeutlicht, so dass dies als ein Beispiel für sowohl überzeugende quantitative als auch qualitative Forschung gesehen werden kann, die einen hohen Praxisbezug hat, z.B. in der Mutter-Säuglings/-Kleinkind-Beratung von Regulationsstörungen. Die Autorin räumt dabei ein, dass bei aller Klarheit der Fallbeispiele hier isoliert das Phänomen der Responsivität im Mittelpunkt stand, während der Praktiker auch kindliche Faktoren wir leichte Irritabilität oder Temperamentsfaktoren berücksichtigen muss.

Die folgenden drei Beiträge benutzen einen anderen als den herkömmlichen Bindungs- bzw. Beziehungsbegriff, indem sie bereits die vorgeburtliche Phase in die Bindungsentwicklung einbeziehen.
Hans von Lüpke schreibt in seinem Beitrag, dass die Bindungsentwicklung nicht mit der Geburt beginne, sondern von vorgeburtlichen Bindungs- bzw. Beziehungserfahrungen auszugehen sei. Hieraus leitet er Konsequenzen für die Interpretation und Begleitung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten ab.
Pränatale Beziehungserfahrungen würden im Uterus über hormonale, akustische, vestibuläre, olfaktorische und taktile Signale vermittelt. Einen Beleg hierfür sieht er darin, dass bereits Neugeborene über eine amodale Wahrnehmung verfügen, wonach Reizinformation aus einem Sinneskanal nicht nur in dem zugehörigen Hirnzentrum verarbeitet wird, sondern auch in Zentren anderer Sinneskanäle. So ist gezeigt worden, dass Säuglinge die verschiedenen Formen von Schnullern visuell unterscheiden können, auch wenn sie diese vorher nicht gesehen, sondern nur im Mund gespürt haben. Analog deute auch der Befund, dass das Neugeborene unmittelbar nach der Geburt das Gesicht der Mutter fixiert, auf eine amodale Wahrnehmungsverarbeitung pränataler Erfahrungen hin, da nun dem visuellen System die bekannten olfaktorischen, akustischen etc. Reize aus der Zeit im Uterus zur Verfügung stehen.
Die Säuglingsforschung, die pränatale Beziehungserfahrungen nicht berücksichtige, hält er für widersprüchlich, wenn z.B. interindividuell unterschiedliche Reaktionsweisen von Neugeborenen wie Wut oder Trauer auf etwas Unerwartetes mit angeborenen Temperamentsunterschieden statt mit pränatalen Erfahrungen erklärt werden. Den Begriff des Auftauchens eines Kernselbst von Daniel Stern in der frühkindlichen postnatalen Entwicklungsphase hält er für widersprüchlich, da das impliziere, dass etwas pränatal Vorhandenes nun zum Vorschein kommt. Dieses „Auftauchende“ müsse allein vom Begriff her schon pränatal erworben worden sein, was jedoch von Stern nicht thematisiert werde.
Für die Beratungsarbeit könne die pränatale Sichtweise insofern entlastend wirken, als den Eltern klargemacht werden kann, dass ihr Kind bereits dann ein eigenständiges Wesen mit bestimmten Eigenschaften ist, wenn es auf die Welt kommt und sie somit vieles von dem, was später ggf. zu Abweichungen führt, nicht beeinflussen können. Diese Eigenschaften habe das Kind durch pränatale Beziehungserfahrungen gemacht. Die etablierte Vorstellung hingegen, das Kind sei von Geburt an „amorph“, quasi eine tabula rasa und könne nun „geformt“ und erzogen werden, führe viel eher zu Schuldvorwürfen, wenn das Kind später Auffälligkeiten zeigt.
Diese Argumentation finde ich nicht ganz schlüssig: Entlastend für Eltern ist es zu wissen, das Kind ist ein eigenständiger Mensch, den man nur begrenzt beeinflussen kann, soweit stimme ich zu. Von Lüpke sagt aber gerade, diese Eigenschaften wären durch pränatale Beziehungserfahrungen entstanden. Wendet man dies auf die Beziehung von der Mutter zum Ungeborenen an, dann ist fraglich, inwiefern es für Eltern entlastend wirken soll, die ja in dieser Beziehung nur eine sehr begrenzte Einflussnahme haben. Das Beziehungskonstrukt ist m.E. eher dann hilfreich, wenn Eltern sich darin als effektiv erleben,  eine positive und konsequente Beziehung zum Kind aufzubauen und somit Einfluss auf das Kind zu nehmen.
Zustimmen möchte ich dem Autor insofern, als die Mutter Phantasien über das Ungeborene hat, die auch mit den Bewegungen des Fetus – deren besonderer Lebhaftigkeit oder gar deren Fehlen – im Mutterleib zutun haben, und dass solche Phantasien und Bewertungen für die künftige Beziehung zu diesem Kind eine Bedeutung haben. Spannend wäre nun, wie sich der Autor diese vorgeburtliche Interaktion vorstellt, er schreibt hierzu: „so interpretiert die Mutter eine Bewegung ihres Kindes als Mitteilung seiner emotionalen Verfassung jeweils ihren eigenen Voraussetzungen entsprechend. Aus dieser Interpretation entsteht die Antwort auf das Kind – auf welchem Weg auch immer.“ (S. 138) Eine ausführlichere Darstellung der empirischen Evidenz für die postulierte Kontinuität zwischen vor- und nachgeburtlichem Verhalten und Beziehungserfahrungen wäre hier wünschenswert.

Der Beitrag von Joachim Heilmann – ebenso wie der von Susanne Küpper-Heilmann – bezieht sich in der Argumentation sehr eng auf den Beitrag von von Lüpke.
Heilmann erörtert den Befund, dass der Beziehungsaufbau bei Kindern mit neurologischen Erkrankungen und Behinderungen sowie autistischen Kindern für Eltern sehr viel schwieriger ist als bei Gesunden. Autistische und andere behinderte Kinder lassen sich oft nicht in die klassischen Bindungskategorien einteilen und zeigen z.T. auch kein Bindungsverhalten, da sie von Geburt an die entsprechenden affektiv-kognitiven Voraussetzungen nicht mitbringen. Insofern sind diese Kinder insgesamt gesehen wesentlich stärker an der Entstehung von Bindungsmustern und Beziehungsstrukturen beteiligt als gesunde Kindern.
Ein Fallbeispiel hierzu handelt von einem autistischen Jungen, dessen Mutter während der Schwangerschaft von dem Vater des Kindes verlassen wurde. Das Kind wurde nach der Geburt nicht von der Mutter, sondern von den Krankenschwestern gepflegt, die Mutter durfte ihn nur einige Stunden am Tag sehen (institutionalierter Hospitalismus). Nach zwei Wochen kam er in eine Pflegefamilie. Die leibliche Mutter besuchte ihn zeitweise bei der Pflegefamilie. Zum Zeitpunkt der Spieltherapie, über deren Sitzungsinhalte dann berichtet wird, war der Junge vier Jahre alt. Die Spieltherapie führt dazu, dass der Junge nach und nach mehr Kontakt mit dem Therapeuten aufnehmen konnte und dass bei beiden so etwas wie Gemeinsamkeit entstand. Der Autor führt beispielhaft sich wiederholende Spiele und Rituale an, in denen es darum geht, dass der Junge sich gern einwickeln lässt oder in einem Schrank versteckt. Im Laufe der Therapie wollte der Pflegevater zunächst den Kontakt zwischen dem Jungen und der leibl. Mutter verhindern, dann wurde der Junge aufgrund einer Herzerkrankung des Pflegevaters wieder abgegeben in eine andere Pflegefamilie; übergangsweise musste er einige Monate in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen werden.
Für die leibliche Mutter bedeutete die Geburt des Kindes zugleich auch quasi dessen Verlust,  da sie das Kind sofort in fremde Hände geben musste. Daher wirft der Autor die Frage auf, inwiefern dieser Umstand, der von der Mutter während der Schwangerschaft ggf. unbewusst antizipiert wurde, sich während der Schwangerschaft auf die Beziehung von Mutter und Kind ausgewirkt habe. Er zieht unter anderem eine Verbindung zwischen dieser pränatalen Erfahrung und dem späteren autistischen Erscheinungsbild. Dabei ist dies gerade keine Argumentation für den Beitrag des Kindes, sondern primär für einen eltern- bzw. institutionenbezogenen Beitrag zur Beziehungsentwicklung. Deutlicher wäre dies ggf. mit einem Fallbeispiel eines organisch beeinträchtigten Kind geworden, zu dem es auch sicher gebundenen Eltern schwer fällt, eine Beziehung aufzubauen. Damit lässt sich meines Erachtens auch an diesen Beitrag die Frage stellen, inwiefern es für die therapeutische Arbeit mit den Eltern entlastend und hilfreich ist, einen Zusammenhang zu pränatalen Beziehungserfahrungen herzustellen.

Auch Susanne Kupper-Heilmann geht es in ihrem Beitrag um Auswirkungen frühen Mutterverlustes auf die psycho-emotionale Entwicklung des Kindes, was sie anhand von Fallbeispielen aus dem heilpädagogischen Reiten zeigt. Die Autorin vertritt die Auffassung, dass der Fetus bestimmte Erwartungen an das Versorgt- und Gehaltenwerden seitens der Mutter nach der Geburt mitbringe, weil er auf dieses spezielle Muster schon vorgeburtlich geprägt sei. Findet diese Erwartung durch die Bindungspersonen keine entsprechende Antwort, weil wie bei einer Adoption kein Kontakt mehr zur leiblichen Mutter besteht, entstehe ein Bruch. Dieser Bruch werde bei Adoptionseltern häufig verschwiegen. Wesentlicher erscheint der Autorin aber, ob, wann und in welcher Weise dieser „Bruch“ später von den Adoptiveltern mit dem Kind thematisiert wird. Hierzu erläutert sie nach einer Übersicht über Arten und Theorie des therapeutischen Reitens Untersuchungen zur Adoption. Dabei handelt es sich um Auswertungen, die der von Kupper-Heilmann zitierte Psychoanalytiker H. Wieder an eigenen Fällen vorgenommen hat. Er kommt zu dem Ergebnis, dass man nicht genau sagen könne, wann der geeignetste Zeitpunkt dafür ist, ein adoptiertes Kind über seine Herkunft aufzuklären. Er fasst die Befundlage mehrerer (leider nicht angeführter) Studien dahingehend zusammen, „dass es psychologischen und psychohygienischen Erwägungen in bezug auf Adoptierte eher entspricht, wenn die Aufklärung kleinerer Kinder hinausgeschoben und älteren Adoptierten der Zugang zu ihrer Geschichte eröffnet wird (S. 176f).“ Konkret hieße dies nach Wieder, dass Kinder im Vorschulalter nicht in der Lage seien, eine Aufklärung über ihre Herkunft angemessen zu verarbeiten.
Es folgen zwei Fallvignetten aus der Arbeit des heilpädagogischen Reitens der Autorin mit einem 6jährigen und einer 18jährigen, die im Alter von wenigen Tagen zu ihren Adoptiveltern gekommen waren. Der Beitrag liefert einen interessanten Einblick in das heilpädagogische Reiten und Hinweise für den Umgang mit Adoptivkindern, insbes. mit der Aufklärung der Kinder darüber. Ich halte die Beobachtung des „Bruchs“ für sehr relevant, wie auch die Fallbeispiele zeigen. Ob jedoch ein solcher Bruch in der Entwicklung für das Kind tatsächlich zustandekommt und, wenn ja, in welcher Weise, dafür werden ebenfalls keine empirischen Belege angeführt.

Rolf Göppel beleuchtet den Zusammenhang von frühen Bindungserfahrungen und sozialer Kompetenz von Kindern. In der entwicklungspsychologischen Forschung standen zunächst insbesondere Kinder mit Deprivationserfahrungen in der frühen Kindheit, etwa Kinder aus Säuglingsheimen, im Fokus von Untersuchungen. Während in der psychoanalytischen Tradition oftmals die sehr frühe Trennung von der Mutter für späteres aggressives und delinquentes Verhalten von Kindern und Jugendlichen verantwortlich gemacht wird, zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass diese Kinder überwiegend nicht an Verhaltensstörungen, sondern an emotionalen Problemen wie Schlafstörungen, Antriebsstörungen, Rückzug, Ängstlichkeit und Depressivität leiden. Dies ergab eine Hospitalismusstudie von Marie Meierhofer und Wilhelm Keller, die Ende der 50er Jahre begann und 1971-1973 eine Nachuntersuchung beinhaltete. Bemerkenswert dabei ist, dass diese Symptome nicht etwa auf belastende frühkindliche Phasen, sondern auf die Zeit nach dem Heimaufenthalt zurückzuführen waren. Die Daten aus den früheren Phasen dieser Kinder hatten nämlich wenig prognostische Aussagekraft für das Wohlbefinden im frühen Jugendlichenalter. Ausschlaggebend war die soziale Umwelt nach dem Heimaufenthalt: „Frühe Erfahrungen hinterlassen nur dann bleibende Spuren, wenn sie durch spätere, gleichartige Erfahrungen immer wieder verstärkt werden. ... Eine gestörte psychische Entwicklung ist nicht Resultat von früher, sondern von kontinuierlicher Erfahrung; frühes soziales Lernen ist nicht wirksamer als späteres soziales Lernen“ zitiert Göppel Ernst und v. Luckner, (1985, Stellt die Frühe Kindheit Weichen, S. 152).“
Göppel führt dann Risikofaktoren für das Entstehen von antisozialem, aggressivem Verhalten auf, die aus einem Bündel von Aufwachsen in einem familiären Klima von fehlender Wärme, Demütigung und Gewalt bestehen. Er untersucht, ob sich neben diesen relativ globalen Kategorien auch subtilere Formen einer gestörten Eltern-Kind-Interaktion ausfindig machen lassen, die eine prognostische Aussagekraft bzgl. der sozialen Entwicklung des Kindes haben, und kommt von diesem Ansatzpunkt auf die Bindungsforschung. So wurde zum Beispiel im Rahmen der Regensburger Längsschnittstudie der Zusammenhang vom Bindungsmuster der Kinder im Alter von einem Jahr mit der Sozialkompetenz von Kindern im Alter von fünf Jahren nachgewiesen: Als sicher gebunden klassifizierte Kinder waren in Spielsituationen im Kindergarten seltener in Konflikte verwickelt als unsicher klassifizierte; wenn sie in Konflikte verwickelt waren, bewältigten sie diese kompetenter, indem sie diese beilegten und ohne Hilfe der Erzieherinnen eine Lösung fanden. In Bildgeschichten konnten sie realistischer wahrnehmen, ob einer Konfliktszene eine Absicht eines Kindes oder ein Versehen zugrundelag.
Göppel macht somit deutlich, dass mit Hilfe eines methodischen und objektiven Vorgehens wie in der Regensburger Längsschnittstudie (durch Integration verschiedener Datenebenen, unabhängigen und nicht in Untersuchungshypothesen eingeweihten Beobachtern) vor dem Hintergrund der Bindungstheorie eine Erklärungslücke in der Entstehung von sozialen Defiziten bei Kindern geschlossen werden kann. Konnten bisherige Ansätze keine Kontinuität zeigen von frühen Störungen im Säuglingsalter zu sozialen Defiziten im Kindesalter, gelingt dies der bindungsbasierten Längsschnittforschung überzeugend. Dies hängt damit zusammen, dass die psychoanalytisch orientierte Forschung eher retrospektiv vorgehe und (Fehl-)Entwicklungen an – sehr ausführlich dokumentierten – Einzelfallberichten  festmache. Dabei werde meist versucht, identische Verhaltensmuster aufzuspüren, die sich wie ein roter Faden durch eine Fallgeschichte ziehen. Aufgrund der Komplexität der Entwicklung finde man jedoch solche identischen Verhaltensweisen kaum: „Es wäre sicherlich unangemessen, bei jenen problematischen Verhaltensweisen nun einfach von einer Fixierung an bestimmte frühkindliche Verhaltensmuster auszugehen. Natürlich verhält sich ein Kind, das im Kindergarten- oder Grundschulalter wegen Defiziten im Sozialverhalten auffällig wird, nicht wie ein Säugling“ (S. 208).
Der Bindungstheorie hingegen geht es um Ähnlichkeiten von Verhaltensmustern im Entwicklungsverlauf: Ein Kind, das eine sichere Bindungsbeziehung erlebt hat, wird diese Art des sozialen Umgangs miteinander verinnerlichen und auf andere soziale Beziehungen übertragen. Und somit bekommt es auch ein positiveres Feedback von seiner Umwelt, z.B. den Gleichaltrigen und Erzieherinnen im Kindergarten, was wiederum die Sozialkompetenz des Kindes stärkt. Unsicher gebundene Kinder bekommen demnach kontinuierlich ein eher negativeres Feedback und damit Selbstbild, was der Sozialkompetenz immer abträglicher werden kann. Damit ergibt sich im Sinne von Rückkopplungsschleifen zwischen Kind und Umwelt eine Stabilität von sozialen Erfahrungen und Verhaltensmustern, und diese Muster sind im Laufe der Jahre einander ähnlich, aber eben nicht identisch. Gleichzeitig liegt dem kein linear-kausales Denken zugrunde, denn die einzelnen sozialen Kompetenzen, Verhaltensstile und Rollen, die Kinder in Gruppen haben, lassen sich nicht allein aus dem Bindungsstil der frühen Kindheit erklären. Dieser ist aber ein bedeutsamer Schutz- resp. Risikofaktor für die Entwicklung der kindlichen Sozialkompetenz.

Georg Romer stellt in seinem Beitrag Anwendungen der Bindungstheorie in der Prävention von Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen dar. Wichtig für die Praxis ist dabei, dass die Wirkung der schon öfter erwähnten Risiko- und Schutzfaktoren auf die Entwicklung eines Kindes nur vor dem Hintergrund seiner individuellen Beziehungserfahrungen und deren Verinnerlichung (Repräsentationen) im Laufe der Jahre verständlich sei. Auf diesem Gebiet habe die Bindungstheorie die wichtigsten Erkenntnisse geliefert, und uneingeschränkter als Wilfried Dattler gesteht Romer dieser zu, „von den benachbarten Wissenschaftsdisziplinen der Psychoanalyse, der Verhaltensbiologie, der kognitiven Entwicklungspsychologie und der empirischen Säuglingsforschung rezipiert und integriert (S.212)“ worden zu sein. 
Romer geht es auch darum, Fehlschlüsse und Missverständnisse der immer mehr „in Mode“ gekommenen Bindungstheorie aufzuklären bzw. zu beheben. Hierzu gehört als erstes, dass eine unsichere Bindung nicht pathologisch ist, sondern je nach sozialer Umwelt des Kindes eine funktionale Anpassung darstellt. Die These „Beziehungskontinuität führt zu Bindungssicherheit“ lasse sich insofern entkräften, als mehrere empirische Untersuchungen zeigten, dass man keinen Unterschied in der Bindungsqualität zeigen kann zwischen Kindern, die zu Hause betreut werden und solchen, die wegen Berufstätigkeit der Mutter fremdbetreut sind. Hierbei spielt natürlich die kindgerechte und feinfühlige Betreuung bei der Fremdpflege eine Rolle.
Romer erläutert, dass im Rahmen der Bindungsentwicklung interne Arbeitsmodelle gebildet werden, in denen wir unser In-Beziehung-Sein mit wichtigen Bezugspersonen abspeichern. Diese internen Repräsentationen von Beziehungen entwickeln sich jedoch auch dann noch weiter, wenn die Bindungsentwicklung abgeschlossen ist: So kann ein Kind mit sicherer Bindung durch später erlebte Traumatisierung in seinen Bindungsrepräsentanzen erschüttert werden, und ein Erwachsener mit ursprünglich unsicherer Bindung kann durch spätere, korrigierende Erfahrungen zu sicheren Bindungsrepräsentanzen gelangen. Hieraus leitet Romer ab, dass Präventivmaßnamen immer dann erfolgen sollten, „wenn in einer Belastungssituation das Risiko besteht, dass ein Kind nachhaltig emotional überfordert ist und, von Ohnmachtsgefühlen überschwemmt, das Gefühl basaler Zuversicht zu verlieren droht, die Situation bewältigen zu können“ (S. 219).
Typische Risikokonstellationen wie psychische oder körperliche Erkrankung oder Verlust eines Elternteils, Kriminalität, Armut, Misshandlung/Missbrauch sind aus der Forschung bekannt; die Verbindung zur Einzelfallarbeit besteht nach Romer in der indizierten Sekundärprävention, was bedeutet, in einem institutionellen Rahmen (z.B. in einer Klinik für Unfallopfer) konsiliarisch präventiv einzugreifen, „ohne dass es durch bestehende Krankheitssymptome und dadurch ausgelöste aktive Hilfesuche im therapeutischen System einen definierten Behandlungsauftrag gibt“ (S. 220). In einem Fallbeispiel schildert Göppel sehr eindrucksvoll, wie ein Vater vom Therapeuten darin unterstützt wurde, eine wichtige Entscheidung (ob seine achtjährige Tochter zur Mutter, bei der der Hirntod festgestellt wurde, ans Krankenbett gelassen werden kann oder nicht) dadurch selbst zu treffen, dass ihm wieder ein Zugang zu seinen intuitiven Vatergefühlen ermöglicht wurde. Dies kann in zweierlei Hinsicht als eine bindungsbezogene Intervention verstanden werden: Zum einen, da der Vater dem Kind wieder als sichere Basis zur Verfügung stand und entscheiden konnte, was in dieser schwierigen Lage zu tun ist. Zum anderen, da die Intervention darauf abzielte, dass der Vater wieder Zugang zu seinen intuitiven Vatergefühlen bekam.

Insgesamt ermöglicht die Zusammenschau der Beiträge aus diesem Buch, das Thema Bindung und Beziehung in seinen vielfältigen sozialen, wissenschaftstheroretischen und therapeutisch-praktischen Bezügen zu sehen. Es wird deutlich, dass „belastende Bindungsmuster … angemessene Antworten durch professionelle Erziehung, soziale Arbeit und Therapie sowie institutionelle Rahmenbedingungen, die haltende Funktionen ermöglichen“, erfordern (S.8). Zwar geht dies teilweise auf Kosten eines inhaltlich unscharfen Bindungsbegriffs, der in vielen Beiträgen eher synonym zu Beziehung verwendet wird. Dies erwartet man vom Titelbegriff „Bindungsstörungen“ nicht, da dieser ja, wie Karl-Heinz Brisch zeigt, in der klinischen Praxis sehr spezifisch verwendet werden sollte. Angesichts eines solch elementaren und existentiellen Themas wie der Bindung bzw. menschlicher Beziehungen ist die Breite der dargestellten Bezüge jedoch sicher angemessen. Hervorzuheben ist dabei insbesondere, dass bei unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung und verschiedener Schwerpunktsetzung der AutorInnen alle Beiträge von der Anschaulichkeit der jeweiligen Fallbeispiele sehr profitieren. Ich wünsche dem Buch eine große Leserschaft.





Verlagsinfo:

"Dieser Sammelband informiert über neue entwicklungspsychologische Erkenntnisse aus der Bindungs- und Kleinkindforschung. Deren Bedeutung für die pädagogische, beraterische und therapeutische Praxis wird in den einzelnen Beiträgen aus unterschiedlicher Perspektive dargelegt und diskutiert.
Der Umgang mit entwicklungs- und verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen ist Bestandteil des beruflichen Alltags in den unterschiedlichsten psychosozialen Einrichtungen. Die Fachkräfte sehen sich tagtäglich mit einer Fülle sozialer und psychischer Probleme konfrontiert. Für den Umgang mit diesen Problemstellungen benötigen sie ein fundiertes theoretisches und methodisches Wissen. Seit den Anfängen der Bindungsforschung durch John Bowlby sind mehr als 40 Jahre vergangen. Die neuere Bindungsforschung basiert auf seinen Erkenntnissen und geht davon aus, dass der Wunsch nach Sicherheit und verlässlichen Beziehungen ein entscheidendes Grundbedürfnis des Menschen ist. Für die psychische Entwicklung ist die Qualität der frühen Bindungserfahrungen entscheidend. Belastende Bindungsmuster im Kindes- und Jugendalter erfordern angemessene Antworten durch professionelle Erziehung, soziale Arbeit und Therapie sowie institutionelle Rahmenbedingungen, die haltgebende Funktionen ermöglichen."



Inhaltsverzeichnis:

Keupp, Heiner: Identitätsbildung in der Netzwerkgesellschaft: Welche Ressourcen werden benötigt und wie können sie gefördert werden? S. 15-50.

Brisch, Karl Heinz: Grundlagen der Bindungstheorie und aktuelle Ergebnisse der Bindungsforschung. S. 51-69.

Datler, Wilfried: Ist Bindungstheorie von psychoanalytischer Relevanz? Über unmittelbare und mittelbare Folgen der Bindungsforschung für Psychoanalytische Pädagogik. S. 71-108.

Hédervári-Heller, Éva: Frühe Interaktionsstrukturen in der Mutter-Kind-Dyade: Interaktionsprozesse sowie Selbst- und Objektrepräsentanzen. S. 109-132.

Lüpke, Hans von: Vorgeburtliche Bindungserfahrungen - Konsequenzen für die Interpretation und Begleitung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. S. 133-144.

Heilmann, Joachim: Die Beteiligung des Kindes an der Entstehung von Bindungsmustern und Beziehungsstrukturen. S. 145-165.

Kupper-Heilmann, Susanne: Auswirkungen frühen Mutterverlustes auf die psycho-emotionale Entwicklung des Kindes - Fallbeispiele aus dem heilpädagogischen Reiten. S. 167-190.

Göppel, Rolf: Die Bedeutung früher Bindungserfahrungen für die sozialen Interaktionen von Kindern in späteren außerfamiliären Kontexten. S. 191-210.

Romer, Georg: Anwendungen der Bindungstheorie bei präventiven psychotherapeutischen Interventionen im Kindes- und Jugendalter. S. 211-227.



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