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08.05.2005
Rudolf Stichweh (Hrsg.): Niklas Luhmann. Wirkungen eines Theoretikers
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transcript Verlag Bielefeld 1999
72 S.
ISBN: 3933127041
Preis: 9,80 € |
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transcript-Verlag
Tom Levold, Köln:
Am 8. Dezember 1998 wurde, wenige Wochen
nach dem Tode von Niklas Luhmann am 6. November, ein Gedenk-Kolloquium
der Universität Bielefeld veranstaltet. An diesem Tage wäre Luhmann 71
Jahre alt geworden. Die Beiträge dieses Kolloquiums sind bereits 1999
im ausgesprochen feinen sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachverlag
transcript (mit einer übrigens bemerkenswerten website) erschienen,
herausgegeben von Rudolf Stichweh, der von 1994-2003 eine Professur für
Soziologische Theorie und Allgemeine Soziologie an der Fakultät für
Soziologie der Universität Bielefeld innehatte und gegenwärtig an der
Universität in Luzern lehrt.
Es ist ein schmaler Band von 71 Seiten geworden, mit sechs Beiträgen
von Männern, die gebeten wurden, ihre persönlichen Begegnungen mit
Niklas Luhmann und seinem Werk festzuhalten. Diese Beiträge - und dies
macht den Reiz des Buches aus - sind äusserst unterschiedlich angelegt.
Franz-Xaver Kaufmann, der älteste Autor, der sich zwei Jahre nach
Luhmann 1968 in Münster habilitierte und dann bis 1997 in Bielefeld als
Soziologieprofessor Kollege von Luhmann war, geht in seinem Beitrag bis
in die Zeit vor der Gründung der Bielefelder Universität zurück und
berichtet, wie er Luhmann in der “Sozialforschungsstelle Dortmund”,
einem “An-Institut” der Uni Münster unter dem Direktorat von Helmut
Schelsky, kennenlernte, bei dem es sich “um eine Art fröhliches
Wissenschaftskloster, wo jeder sein Klappbett im Zimmer hatte und nach
Belieben dort übernachtete”, handelte. Luhmann, zunächst als
Oberregierungsrat von der Verwaltungshochschule in Speyer (“Das
Überraschendste war für mich zunächst, dass man als soziologischer
Nachwuchs Oberregierungsrat sein könne”) zu einem Vortrag eingeladen,
wurde später Abteilungsleiter an der Sozialforschungsstelle, wo er dann
1966 innerhalb weniger Monate sowohl promovierte als auch sich
habilitierte. Gleichwohl hält auch Kaufmann - wie so viele - fest, dass
Luhmann als Person ganz hinter seinem Werk zurückgetreten sei:
“Luhmanns Verschwinden als Person lässt ihn nunmehr ausschließlich zu
einem kommunikativen, das heißt, gesellschaftlichen Ereignis werden”.
Gunther Teubner, Professor für Privatrecht und Rechtssoziologie an der
Universität Frankfurt, schildert, wie die Lektüre von Luhmann ihn 1968
als Gerichtsreferendar und Doktorand aus seiner Verzweiflung an der
Rechtswissenschaft gerettet hat, weil sie ihm deutlich machte, dass das
Recht “gerade nicht so eng wie möglich an das gesellschaftliche
Verständnis von Konflikten anschließen” sollte - wie es die
Protestbewegung forderte -, sondern vielmehr die Aufgabe hatte,
soziale oder moralische Konflikte in “genuine Rechtsprobleme” zu
transformieren, die dann auch unter Rückgriff auf - ausschließlich -
rechtsimmanente Operationen entscheidbar werden (eine frühe Konzeption
des Rechts als ausdifferenziertem gesellschaftlichen Funktionssystem).
Auch Teubner setzt sich mit der kühlen Distanziertheit Luhmanns
auseinander, die ihn zunächst als “Unfähigkeit zu kumpelhafter
Kommunikation” befremdete, die er aber dann gerade als Ergebnis von
Luhmanns Erkenntnis deutet, dass “jeder Versuch, extreme Intimität zu
erreichen, doch stets in der Einsamkeit psychischen Welterlebens
endet”. Die Konstruktion der “eigenständigen Sinnwelt des
Kommunikativen” erscheint vor diesem Hintergrund geradezu als
“Kompensation für die schmerzhafte Erfahrung der Unmöglichkeit von
Sinnverschmelzung”. Für die “Theoriearchitektur” Luhmanns findet
Teubner übrigens eine bemerkenswerte Metapher: “In ihrer formalen
Strenge und ihrer merkwürdigen affektiven Intensität empfinde ich die
‘sozialen Systeme’ durchkomponiert wie die ‘Kunst der Fuge’ oder das
‘musikalische Opfer’ von Bach. …Luhmanns Bücher sind Variationen eines
Themas in verschiedenen Kontexten, … ständige Suche nach Isomorphien,
so wie man es in den Kanons und Fugen der alten Musik findet” (und
passenderweise spielte der Pianist Andrej Fadejew als musikalische
Rahmung des Gedenkkolloquiums Bachs Sarabande aus der Partita Nr. 6
e-moll und den Orgelchoral "Mich ruft zu Dir, Herr Jesu Christ").
Der italienische Soziologe Raffaele De Giorgi, Professor für Soziologie
an der Universität von Lecce, ein langjähriger Freund Luhmanns,
schreibt über diese Freundschaft, die sich nicht nur in vielen
Italienaufenthalten von Luhmann niedergeschlagen hat, sondern auch in
dem Beschluss, in Lecce “ein Niklas Luhmann-Institut zu gründen,
welches das gesamte Werk Luhmanns aufnehmen wird, um der Forschung und
dem Studium seines Denkens zu dienen” - und er schreibt in überraschend
zärtlichen und poetischen Worten, die ganz im Gegensatz zum
Sprachduktus stehen, in dem Luhmann normalerweise beschrieben wird (und
den er selbst für sich in Anspruch genommen hat).
Der folgende Beitrag von Dirk Baecker ist denn auch gleich,
kontrapunktisch, der “wissenschaftlichste” des Bandes und befasst sich
mit der Frage, welchen Stellenwert der Ansatz von Luhmann als und
innerhalb der Soziologie denn haben könne - in Abgrenzung zur
positiven, d.h. empirischen Soziologie in der Tradition Comtes
einerseits und der kritischen Soziologie andererseits, die sich der
Denkungsweise von Karl Marx verdankt. Während die positive Soziologie
sich mit der Frage “was ist der Fall?” zufriedengäbe, und die kritische
Soziologie danach frage: “was steckt dahinter?”, begründet Luhmann für
Baecker eine “reflexive Soziologie” (die sonst “Die Soziologie des
Niklas Luhmann” heißen müsse), die sich selbst mit diesen ihren
Fragestellungen zum Gegenstand wird - als Beobachtung der Beobachtung.
Und diese Selbstreflexivität der Theoriebildung bei Luhmann dekliniert
Baecker nun - hochverdichtet - an den wichtigsten der “großen
Begriffsfiguren” Luhmanns in Bezug auf die Fragestellungen “was ist der
Fall?” und “was steckt dahinter?” durch. Dabei behauptet er, dass die
zweite Fragestellung - ohne die entsprechenden reflexiven
Sicherungsmechanismen “toxische Effekte” erzeuge, einen Rausch. “Der
Rausch resultiert daraus, dass man immer etwas findet, wenn man fragt,
was dahinter steckt, dass man jedoch zugleich für das, was man findet,
nur Einschränkungen bei sich selbst findet: Man stößt auf sich selbst,
wollte jedoch genau das vermeiden. Der Rausch ist die Oszillation
zwischen der Selbstentdeckung und der Selbstvermeidung”. Allerdings
lässt sich hier auch die Frage anbringen, inwiefern nicht auch die
Perspektive der radikalisierten Reflexion, der Beobachtung der
Beobachtung der Beobachtung etc., selbst auch “toxische Effekte”
hervorbringen muss, wie jede Theorie, die aufgrund ihrer inneren
Geschlossenheit und Hermetik rauschhaft wirken kann.
Dietrich Schwanitz,
im Jahre 2004 verstorbener Anglistik-Professor an der Universität
Hamburg, schildert (nicht ganz frei von Eitelkeit) persönliche
Begegnungen mit Luhmann auf Tagungen des Interuniversity Centers von
Dubrovnik, in denen er, trotz oder gerade wegen seiner
Schüchternheit “von Luhmanns freundlicher Zugänglichkeit charmiert”
war, obwohl er, wie er später auch immer wieder bei seinen Studenten
beobachtet, “vom Imponiereffekt seines Werkes auf persönlichen Habitus
geschlossen” hatte.
Der Band wird abgerundet von einem Beitrag des Herausgebers Rudolf
Stichweh, der seine Erfahrungen als Student bei Luhmann als Lehrer von
1973 an in den Mittelpunkt stellt, welcher zunächst “Luhmanns großem
Kontrahenten, Jürgen Habermas, weit näher als Luhmann selbst” stand,
dann aber doch schnell merkte, das die “Überzeugungen, die ich zu
verteidigen suchte, unter dem Druck der Systemtheorie (kollabierten),
und wenn ich diesem kognitiven Druck mit einer Formel fassen müsste,
würde ich sagen: Für mich war es die unglaubliche Realitätsfähigkeit
der Systemtheorie, die zunehmend die kritische Theorie als ein dürres
Unterfangen vorwiegend normativen Gehalts erscheinen ließ”.
Eine sicherlich bedeutsame Beobachtung Stichwehs ist in diesem
Zusammenhang, dass bei Luhmann “keine Wissenschaftsgläubigkeit, keine
übersteigerten Erwartungen an das, was Wissenschaft zu leisten imstande
ist” zu beobachten war, sondern dass die “Höchstwertungen für Luhmann
nicht beim Wissenschaftsbegriff oder beim Wahrheitsbegriff liegen,
sondern deutlich auf den Theoriebegriff konzentriert sind”. Folgt man
dieser Beobachtung, lässt sich vermuten, dass Niklas Luhmann wenig
Interesse an einer Kanonisierung seiner eigenen Theoriebildung gehabt
haben dürfte, sondern ihren “Eigenwert” gerade darin gesehen hat, dass
sie sich selbst als Gegenstand ihrer Beobachtung und Reflexion, und
damit - fortlaufenden Veränderung - betrachten kann.
Wer Luhmann als Person näher kommen möchte, wird in diesem Büchlein mit
interessanten - und durchaus sehr subjekten Perspektiven bekannt
gemacht. Man kann es an einem ruhigen Nachmittag lesen. Und auch, wer
einem an Luhmann interessierten Menschen ein Geschenk machen möchte,
ist mit diesem Band gut bedient.
Auszüge aus den Beiträgen des Buches sind in der Bielefelder Universitätszeitung vom 12.2.1999 zu finden
Eine weitere Kritik von Andrea Praum für Literaturkritik.de
Inhaltsverzeichnis:
Franz-Xaver Kaufmann: Ein Wittgenstein'sches Schweigen
Gunther Teubner: Drei persönliche Begegnungen
Raffaele De Giorgi: Niklas Luhmann. Die Zukunft des Gedächtnisses
Dietrich Schwanitz: Niklas Luhmann. artifex mundi
Dirk Baecker: Wenn etwas der Fall ist, steckt auch etwas dahinter
Rudolf Stichweh: Niklas Luhmann. Theoretiker und Soziologe
Verlagsinfo:
"Das Buch dokumentiert die Beiträge eines Gedenkcolloquiums, das die
Universität Bielefeld am 8. Dezember 1998, wenige Wochen nach Luhmanns
Tod am 6. November des Jahres, veranstaltet hat. Die Autoren haben sehr
verschiedene Zugänge gewählt. Gemeinsam ist allen Texten, daß sie die
Erfahrungen mit dem Werk Luhmanns und die Begegnungen mit der Person
einschließen. Franz-Xaver Kaufmann beobachtet aus der Perspektive eines
jahrzehntelangen Fakultätskollegen. Gunther Teubner berichtet, wie
unwahrscheinlich Luhmann jemandem erschien, der bis dahin vergeblich
auf Verwissenschaftlichung und Soziologisierung des Rechts gehofft
hatte. Raffaele De Giorgi zeigt, wie anders Luhmann in dem ihm vertraut
gewordenen Süditalien wahrgenommen wurde. Dietrich Schwanitz versteht
Luhmann vor dem Hintergrund der literarischen Moderne. Dirk Baecker
schlüsselt Luhmanns Formel "Was ist der Fall?" und "Was steckt
dahinter?" auf. Rudolf Stichweh versucht das Verhältnis von Soziologie
und Philosophie in Luhmanns Werk zu bestimmen."
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