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Neuvorstellung zur Übersicht
07.07.2005
Armin Nassehi u. Gerd Nollmann (Hrsg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich
Nassehi: Bourdieu und Luhmann Suhrkamp Verlag 2004
(stw1696)

ISBN: 351829296X

Preis: 12,00 €
Suhrkamp-Verlag





Michael Kauppert, Jena:

Ein Unternehmen, das sich dem Vergleich der Sozialtheorien von Bourdieu und Luhmann verschreibt, dabei jedoch auf die etablierten Unterscheidungen des akademischen Betriebs mit der Begründung verzichtet, dass die Perpetuierung dieser Unterscheidungen zu keinen neuen Einsichten führe, sondern nur alte Ansichten reproduzieren könne, ist eines, das Aufmerksamkeit erheischt, indem es sich selbst Originalität bescheinigt. Die wissenschaftliche Umwelt wird seitens der Herausgeber einesteils als eine weitgehend von Lehrbuchunterscheidungen kolonialisierte Forschung beobachtet, andernteils aber auch als eine, die das eigene, prinzipiell unwahrscheinliche Unterfangen nicht nur zulässt, sondern sogar ermöglicht. Der Sammelband demonstriert daher an sich selbst, was zu den Grundeinsichten seiner Bezugsautoren gehört. Er konstruiert zum einen eine Sicht der Dinge, die man mit Luhmann als das eigensinnige Resultat rekursiver Operationen eines ausdifferenzierten Teilsystems der Wissenschaft ansehen kann. Zum anderen lässt sich diese Umweltwahrnehmung mit Bourdieu als einen zu feinen Unterschieden sublimierten Kampf um knappes symbolisches Kapital im sozialen Raum der Wissenschaft beschreiben. Die Suche nach einem von den fachüblichen Unterscheidungen nicht kontaminierten tertium comparationis führt die Herausgeber in der Gliederung der Beiträge zu nur teilweise unverbrauchten Paradigmen. Fünf Beiträge des Bandes beschäftigen sich mit der sogenannten „Theoriekonstruktion“ (Architektur, Ingenieurwesen) bzw. mit der „Theorieästhetik“ (Kunst) - ein weiteres Indiz dafür, dass die Bildung und Rezeption von Großtheorien nach Meinung der Herausgeber besser in Händen von „Künstler-Ingenieuren“ ( Krohn 1977, S. 49) als bei Lehrbuchwarten aufgehoben ist. Die verbleibenden drei Aufsätze, die das „diagnostische“ Potential im Werk beider Sozialtheoretiker ausloten, werden demgegenüber einem vergleichsweise traditionellen Paradigma zugerechnet: der Medizin. Die Einheit der Unterscheidung beider Paradigmen bildet die Organisationsform der „Abteilung“ - ein Ausdruck, der sonst nur noch in den Werkausgaben verstorbener Klassiker auftaucht. Auch die Personalisierung des Buchtitels („Bourdieu und Luhmann“), sowie die Schlichtheit des Untertitels („Ein Theorievergleich“) ist dem Bemühen der Herausgeber entsprungen, beide Sozialtheorien von den üblichen Etikettierungen möglichst frei zu halten und somit Autoren wie Lesern einen vorurteilsfreien Raum für die Begegnung zweier Sozialtheorien zu eröffnen, die, wie es in der Einleitung heißt, „gemäß den Lieblingsunterscheidungen unseres Faches kaum weiter auseinanderliegen könnten“ (8). Wie immer bringt die Praxis die Ordnung der Dinge durcheinander. Quer zum Inhaltsverzeichnis lassen sich drei thematische Hauptlinien erkennen:
1. Die Beiträge von Georg Kneer (1. Abteilung), Anja Weiß (2. Abteilung) und Markus Schroer (2. Abteilung) widmen sich in unterschiedlicher Abstraktionslage den Vorstellungen beider Autoren hinsichtlich der Verfassung der (Gegenwarts)Gesellschaft. Eine beinahe schon  lehrbuchartig zu nennende Gegenüberstellung differenzierungstheoretischer Annahmen bei Bourdieu und Luhmann liefert Georg Kneer. Anja Weiß schließt in ihrem Beitrag daran an und buchstabiert die Implikationen aus, die die These der funktional differenzierten Gesellschaft (Luhmann) bzw. die Annahme einer stratifikatorischen Ordnung (Bourdieu) für die Analyse sozialer Ungleichheit hat. Markus Schroer unternimmt den leider nur angedeuteten Versuch, anhand der Zeitdiagnosen beider Autoren die Rückkoppelungseffekte von empirischer Beobachtung zur theoretischen Konzeptionalisierung aufzuzeigen.
2. Christine Weinbach (1. Abteilung) und Ursula Pasero (2. Abteilung) führen am Beispiel des Geschlechterverhältnisses, Gerd Nollmann für den methodologischen Fall des Sinnverstehens vor, wie man mit Bourdieu und Luhmann als Theorieressourcen umgehen kann. Weinbach unternimmt dabei den Versuch, Bourdieus Habituskonzept in Beziehung zur Kommunikationsform „Person“ bei Luhmann zu setzen. Dergestalt wird aus dem Habitus eine in Interaktionen „vom Bewusstseinsystem wahrgenommene Seite der Form Person“ (70). Ursula Pasero begnügt sich dagegen mit einer Hypothese, die in der Geschlechterforschung eher ungewöhnlich ist. Sie ist der Ansicht, dass die Luhmann’sche Konzeption der funktional differenzierten Gesellschaft für die Analyse der Entwicklung des Geschlechterverhältnisses besser geeignet sei, als die auf Klassenlagen ausgerichtete Theorie Bourdieus. In Gerd Nollmanns Beitrag (1. Abteilung) werden schließlich aus dem Praxistheoretiker Bourdieu und dem Systemtheoretiker Luhmann zwei produktive Zulieferer für eine an Max Webers Handlungstheorie ausgerichtete Methodologie des soziologischen Sinnverstehens gemacht.
3. Erst Irmhild Saake und mehr noch Armin Nassehi (beide 1. Abteilung) lösen den in der Einleitung auf den gesamten Band ausgeweiteten Anspruch ein, mit ihren Beiträgen so etwas wie die Grundstellungen (Heidegger) im Denken Bourdieus und Luhmanns durchsichtig werden zu lassen. Saakes Beitrag widmet sich der Aufgabe, Bourdieu und Luhmann als Theoretiker der Empirie in einem nicht-trivialen Sinne vorzustellen. Theoriearbeit ist demzufolge kein Modellbau der Wirklichkeit, sondern „Theorie“ meint bei Bourdieu wie bei Luhmann ein Verhältnis des Enthaltenseins im Gegenstand der Beschreibung. An beiden Theoretikern selbst lasse sich, so Saake, das Merkmal von Empirie, die Selbsteinschränkung von Kontingenz, deswegen vorzüglich studieren, weil Bourdieu wie Luhmann in der wissenschaftlichen Praxis auf die empirischen Bedingungen ihres eigenen Theoretisierens gestoßen seien. Während bei Bourdieu Begriffe wie „Habitus“, „Feld“ oder „Kapital“ als genuin praktische angelegt seien, habe die Bourdieu-Rezeption wiederholt auf die mangelnde theoretische Durcharbeitung dieser Konzepte hingewiesen. Bei Luhmann wiederum käme „kaum jemand auf die Idee, dass man mit dieser Theorie nachgerade empirisch arbeiten muss, weil sie sich schon selbst als empirische Lösung eines theoretischen Problems versteht“ (86, Kursiv i. O.). So wird die auch und gerade in der Wissenschaft geläufige, aber eben allzu landläufig gebrauchte Unterscheidung von Theorie und Empirie zum obstacle épistémologique (Bachelard) in der Wahrnehmung des Anliegens beider Sozialtheorien. Luhmann, ebenso wie Bourdieu, kämpfe unaufhörlich mit der Paradoxie, die Selbsteinschränkung der Praxis als theoretische Erkenntnis zu verkaufen und mehr noch: als Theoretiker ganz auf die Empirie zu vertrauen. Armin Nassehi schließlich macht darauf aufmerksam, dass Bourdieu für den sinnhaften Aufbau der sozialen Welt nur eine einzige Dimension zulassen will: die soziale. Obwohl Bourdieu den Akteur durch ein überindividuelles Gefüge relationaler Positionen dezentriere, werde die prinzipielle Ausrichtung am Akteur nicht aufgegeben. In dieser Engführung der Sozialtheorie auf die Sozialdimension bemerkt Nassehi „eine fast unweigerliche Notwendigkeit, die Logik des Sozialen in ökonomischen Begriffen auszudrücken“ (175). Das soziale Leben ist für Bourdieu stets „eine Frage des Kampfes um knappe Ressourcen und Positionen“ (172). Gegenüber diesem „nahezu transzendentalen Moment gesellschaftlicher Prozesse“ (174) sei die Luhmann’sche Systemtheorie der Empirie gegenüber sehr viel offener, da sie die Struktur des gesellschaftlich prozessierenden Sinns nicht mehr am Akteur festmache und demzufolge in mehreren Dimensionen (sachlich, zeitlich, sozial) zugleich untersuchen könne. Obzwar die Präferenz Nassehis hier unverkennbar ist, kommt es ihm bei einem Theorievergleich vor allem auf eines an: „Studieren lässt sich an solchen vergleichenden Perspektiven, dass soziologische Theoriearbeit tatsächlich darüber entscheidet, was dem soziologischen Blick überhaupt erscheint“ (186). En passant wird hier eine Aufgabe skizziert, die über die Standardauffassung eines Theorievergleichs hinausgeht, wie sie Georg Kneer beschrieben hat, nämlich als  „Explikation der Konvergenzen oder Divergenzen von zwei oder mehreren Theorien“ (26) nach Maßgabe eines gemeinsamen Gesichtspunktes. Eine anspruchsvollere Auffassung dessen, was ein Theorievergleich zu leisten hat, muss das für eine Sozialtheorie grundlegende Verhältnis von Theorie und Empirie problematisieren. Während „Theorie“ zunächst nichts weiter sein will oder zu sein scheint als die unschuldige Arbeit an den Phänomenen selbst, zeigt die Rekonstruktion der Grundstellungen einer Theorie auf, durch welche uneingestandenen Annahmen sich dieser Prozess namens Theorie die Phänomene selbst beschafft, deren bloße Abarbeitung er sein will. Ein Theorievergleich führt damit nicht, wie man glauben könnte, zu einer Kritik der Theorie unter Berufung auf Evidenzen, sondern bedeutet vielmehr eine Kritik der Phänomene selbst. Er kann in dem Maße als gelungen angesehen werden, wie die Ursprünglichkeit der Phänomene in der Pluralität theoretischer Stimmen verblasst. Je weniger empirische Evidenzen übrig bleiben, desto mehr wird die „Aus-Sage“ der Theorie selbst zum Phänomen und desto schärfer wird das mögliche Urteil über sie. Das Produktions-, Rekombinations- und Auflösevermögen empirischer Evidenzen ist somit der eigentliche Gegenstand, welcher im Vergleich von Theorien zum Vergleich, d.h. zur Beurteilung ansteht. Der Sammelband macht damit einen ersten Anfang. Ob er einer ist, auf den man zurückblicken wird, bleibt noch unausgemacht.  

Literatur:

Krohn, Wolfgang (1977): Die „Neue Wissenschaft“ der Renaissance. In: Böhme, Gernot; van den Daele, Wolfgang; Krohn, Wolfgang (Hg.): Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt/M.: 13-128




Pierre Bourdieu in Wikipedia.de

Niklas Luhmann in Wikipedia.de

Die Website von Armin Nassehi
mit diversen Online-Texten

Die Website von Mitherausgeber Gerd Nollmann mit diversen Online-Texten

Eine weitere Besprechung unter dem Titel "Schotten auf und Schotten dicht" von Dieter Wenk

Ein Artikel von Armin Nassehi in der taz vom 26.1.2002 über Pierre Bourdieu: "Der illusionslose Illusionist"

Den im Buch enthaltene Beitrag von Anja Weiß über "Klassenlagen in den Theorien von Bourdieu und Luhmann" als Manuskript (PDF)

Eine Seite mit Links zu Nachrufen zum Tode von Pierre Bourdieu





Verlagsinfo: "Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann stellen für die Soziologie die beiden anregendsten Denker der jüngeren Vergangenheit dar. Dabei sind sie offensichtlich mit höchst unterschiedlichen Arbeitsweisen an ihren Gegenstand herangetreten. Bourdieu etwa gilt als Klassiker der Ungleichheitsforschung, während Luhmann Ungleichheit stiefmütterlich behandelte. Luhmann war ein begeisterter Begriffsarbeiter, während Bourdieu die Ausarbeitung eines Kategoriengebäudes als Abfallprodukt seiner empirischen Arbeit ansah. Die Beiträge dieses Bandes loten die vielfältigen Konvergenzen und Divergenzen in den Arbeiten der beiden Theoretiker aus mit dem Ziel, zu einer wechselseitigen Erhellung ihrer Werke zu führen."

Inhaltsverzeichnis:

Nassehi, Armin, & Nollmann, Gerd: Einleitung: Wozu ein Theorienvergleich? S. 7-22
Kneer, Georg: Differenzierung bei Luhmann und Bourdieu. Ein Theorienvergleich. S. 25-56
Weinbach, Christine: … und gemeinsam zeugen sie geistige Kinder: Erotische Phantasien um Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu. S. 57-84
Saake, Irmhild: Theorien der Empirie. Zur Spiegelbildlichkeit der Bourdieuschen Theorie der Praxis und der Luhmannschen Systemtheorie. S. 85-117
Nollmann, Gerd: Luhmann, Bourdieu und die Soziologie des Sinnverstehens. Zur Theorie und Empirie sozial geregelten Verstehens. S. 118-154
Nassehi, Armin: Sozialer Sinn. S. 155-188
Pasero, Ursula: Frauen und Männer im Fadenkreuz von Habitus und funktionaler Differenzierung. S. 191-207
Weiß, Anja: Unterschiede, die einen Unterschied machen. Klassenlagen in den Theorien von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann. S. 208-232
Schroer, Markus: Zwischen Engagement und Distanzierung. Zeitdiagnose und Kritik bei Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann. S. 233-270





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