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07.07.2005
Niklas Luhmann: Rezeption in den Fachdisziplinen
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Helga
Gripp-Hagelstange (Hrsg.): Niklas Luhmanns Denken. Interdisziplinäre
Einflüsse und Wirkungen
UVK Universitäts-Verlag Konstanz 2000 254 S., broschiert
ISBN: 389669958X
Preis: 17,90 €
Henk
de Berg, Johannes Schmidt (Hrsg.): Rezeption und Reflexion. Zur
Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie
Suhrkamp Verlag 2000
510 S., Reihe stw 1501
ISBN: 3518291017 Preis: 16,00 €
Tom Levold, Köln:
Als Konstrukteur einer Universaltheorie sozialer Systeme, die sich die
Beobachtung und Beschreibung von Kommunikation aller Art im
gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zum Ziel setzt, hat sich Niklas
Luhmann auch ausführlich mit den verschiedensten
gesellschaftlichen Funktionssystemen auseinandergesetzt, z.T. in
umfangreichen Monografien, z.T. in einzelnen Aufsätzen. Vor diesem
Hintergrund kann es reizvoll sein, auf die Seite der beobachteten
Funktionssysteme bzw. ihrer Reflexionstheorien (etwa Recht und
Rechtswissenschaften, Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaften) zu
wechseln und zu sehen, ob - und wenn ja, wie weit - diese Beobachtungen
und Beschreibungen hier aufgenommen und bewertet werden.
Zwei Sammelbände widmen sich mehr oder weniger ausführlich dieser
Fragestellung. Henk de Berg, Literaturwissenschaftler aus Sheffield,
und Johannes K. Schmidt, Soziologe aus Bielefeld, sind die Herausgeber
eines umfangreichen Bandes mit 15 Beiträgen zum Thema. Bevor sich 13
Artikel mit der Rezeption von Luhmann in unterschiedlichen
Wissenschaften und Praxisfeldern beschäftigen, führt Schmidt in seiner
Einleitung in die Rezeptionsproblematik ein, gefolgt von einem Beitrag
von Andre Kieserling, der Reflexionstheorien der einzelnen
Funktionssysteme wiederum einer soziologischen Betrachtung unterzieht.
„Während Reflexionstheorien als Selbstbeschreibungen im System
anschlussfähig sein müssen, nimmt die Soziologie und hier insbesondere
die soziologische Systemtheorie eine dezidiert externe Position bei der
Beschreibung des jeweiligen Funktionsbereiches ein; zum einen, weil sie
Wissenschaft ist, und zum anderen, weil sie die unterschiedlichen
Formen der Selbstbeschreibung auf ihre Ähnlichkeiten hin untersuchen
will. Luhmanns Funktionssystembeschreibungen sind deshalb nicht darauf
angelegt, eine ‚nützliche‘ Theorie zu bieten in dem Sinne, dass ihre
Beschreibungen eine sinnvolle Anwendung innerhalb der von ihr
beschriebenen gesellschaftlichen Teilbereiche erfahren sollten
(Schmidt, S. 13f.). Von daher bedeutet Rezeption keinesfalls
Theorieimport (ebd., S. 19). Was Rezeption dann aber bedeutet, muss in
erster Linie empirisch geklärt werden, da es, wie der Band
eindrucksvoll zeigt, große Unterschiede in den einzelnen Bereichen
gibt. Zunächst ist festzuhalten, dass in vielen Fällen die Aufnahme der
Luhmannschen Systemtheorie ohnehin überraschend schwach, in manchen
Bereichen (Ökonomie) völlig ausfällt. Schmidt betont dabei, dass sich
die Resonanz Luhmanns ohnehin so gut wie ausschließlich auf den
deutschen Sprachraum beschränkt. Weiterhin könne von einer ernsthaften
Rezeption in vielen Fällen gar nicht gesprochen werden, da die
Systemtheorie eher als ein Steinbruch für die Entnahme kleinerer oder
größerer Brocken benutzt werde. Und schließlich würden in einigen
Rezeptionsbereichen weniger die gegenstandbezogenen Überlegungen
Luhmanns aufgegriffen, sondern eher auf seine grundlagentheoretischen
Aussagen Bezug genommen, wie z.B. in der Kunstwissenschaft oder der
Familientherapie.
André Kieserling erklärt, warum sich Reflexionstheorien nicht ohne
weiteres mit den Beschreibungen ihres Gegenstandes von außen, also etwa
der Frage nach ihrer Funktion oder ihrem Sinn, auseinandersetzen
müssen. „Reflexionstheorien sind affirmative Theorien. Sie können auf
die Frage nach dem positiven Sinn der Einheit ihres Systems nicht
einfach eine negative Antwort oder gar keine geben. Schon eine Haltung
der Indifferenz würde zu massiven Problemen führen und wäre im System
nicht mehr als Reflexion zu erkennen“ (50). Zudem müssten
Reflexionstheorien zu den Plausibitäten ihres Systems und dessen Praxis
passen: „Sie können gegenüber dieser Praxis und ihren Abstraktionen
nicht völlig indifferent sein, sondern müssen an diese Abstraktionen
(und nicht etwa: an diejenigen der Wissenschaft) anschließen, um
verständlich zu bleiben“ (51). Dies macht nachvollziehbar, warum eine
Aufnahme der Luhmannschen Theorie in vielen Bereichen eher als Zumutung
denn als Bereicherung der eigenen Sichtweise erscheinen mag. Eher schon
mögen soziologische Beschreibungen anderer Funktionssysteme
Berücksichtigung finden: „Willkommen im Religionssystem wäre demnach
nicht die Religionssoziologie, sondern beispielsweise die Soziologie
der Wissenschaft oder die Soziologie der Jugend (…), während die
soziologische Theorie des politischen Systems politisch nicht
anschlussfähig ist, weil sie auf dessen Selbstsinngebung zu wenig
Rücksicht nimmt und die Symbole für die Identität dieses Systems …
einer respektlosen Analyse aussetzt“ (80).
Helga Gripp-Hagelstange, 2001 emeritierte und im Herbst 2004 nach
langer Krankheit gestorbene Soziologie-Professorin in Duisburg, legte
im
Universitätsverlag Konstanz als Herausgeberin eine Sammlung von Texten
vor, die teilweise auf die Beiträge zu einer von ihr veranstalteten
interdisziplinären Tagung von 1998 zurückgehen, teilweise für diese
Publikation neu geschrieben worden sind. Dabei gliedern sich die
Aufsätze gewissermaßen in drei Abteilungen. Ein erster Block ist sehr
stark theoretisch ausgerichtet, die übrigen Arbeiten sind den
interdisziplinären Resonanzen der Systemtheorie in Theologie und
Rechtswissenschaften, Wirtschaftswissenschaft, Sozialarbeit und
Medientheorie gewidmet, und enthalten darüber hinaus zwei Beiträge aus
der Praxis, nämlich der Unternehmensberatung und der systemischen
Therapie.
Neben der Einleitung von Gripp-Hagelstange, die noch einmal die
differenzlogischen Implikationen des Luhmannschen Beobachtungs- und
Kommunikationsbegriffs nachzeichnet und in die einzelnen Beiträge
einführt, beschäftigt sich eine Arbeit von Armin Nassehi mit der
Funktion des Zeitbegriffs bei Luhmann. Autopoietische Systeme seien für
diesen immer temporalisierte Systeme, da ihre Elemente nicht als
invariante, gewissermaßen ontologische Bestandteile gedacht werden
könnten, sondern nur als flüchtige Ereignisse (etwa Gedanken in
psychischen, Kommunikationsereignisse in sozialen Systemen), die
jeweils nur von kurzer Dauer sind. Systembildung besteht aus dieser
Perspektive gerade darin, Ereignisse im zeitlichen Nacheinander
aneinander anzuschließen (operative Zeit), vollzieht sich also in einem
wie auch immer zu konzipierenden „geschichtlichen“ Prozess. Auch die
Beobachtung von Systemen selbst als Prozessieren immer neuer
Unterscheidungen nimmt Zeit in Anspruch (Beobachtungszeit) und lässt
sich daher nicht auf die kategorialen Inhalte der Beobachtung
reduzieren. Die Bedeutung des Zeitbegriffs für ein Verständnis
systemischer Zusammenhänge wird im Weiteren ausführlich dargestellt.
Ein weiterer - sprachlich etwas verrätselt formulierter - Text von
Peter Fuchs widmet sich der Differenz von Theorie und Praxis, der trotz
einer gegenläufigen Einladung des Autors eher theoretisch ambionierte
Leser ansprechen dürfte als sogenannte Praktiker.
Der Hauptteil des Bandes beschäftigt sich aber, wie der Untertitel
bereits ankündigt, mit den interdisziplinären Einflüssen und Wirkungen
der Luhmannschen Theorie, was eine gemeinsame Besprechung mit dem Band
von de Berg/Schmidt rechtfertigt.
In einem lesenswerten Beitrag über „Sozialarbeit im Licht der
Systemtheorie“ untersucht Theodor M. Bardmann zwar nicht in erster
Linie die Rezeption Luhmanns in der Sozialarbeit, entfaltet aber
Vorstellungen, wie Systemtheorie für eine Theorie sozialer Hilfen
genutzt werden kann. Er knüpft dabei an einen frühen Beitrag Luhmanns
zur Soziologie der Hilfe von 1973 an, der sich mit der
Ausdifferenzierung von Hilfesystemen als Antwort auf soziale
Ungleichheitslagen in modernen Gesellschaften beschäftigt. Im
Unterschied zu archaischen Gesellschaftsformen, die Hilfe als reziproke
Unterstützung unter Stammesangehörigen ohne vertragliche Regelungen
institutionalisieren (wie etwa heute noch Familien oder private
Unterstützungsnetzwerke), wird Hilfe in hochkulturellen Gesellschaften
zunehmend organisiert, monetarisiert und an spezifische Professionen
delegiert, die entsprechende Hilfebedarfe zunächst (nämlich als Fälle)
konstruieren müssen, um überhaupt ihre jeweiligen Hilfeprogramme
einsetzen zu können. Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass im Zuge
der gesellschaftlichen Differenzierung traditionelle
Ungleichheitsdefinitionen (etwa als Differenz von arm und reich mit
Wohltätigkeit als Antwort) nicht mehr ausreichen:
„Ungleichheitskompensationen sind in einer funktional differenzierten
Gesellschaft zwar mehr denn je von Nöten, da die Gesellschaft auf
eigenwillige Art und Weise mehr Ungleichheiten (unter den Gleichen)
produziert denn je, doch die Ungleichheitslagen treten entsprechend
gesellschaftlicher Differenzierung differenzierter, verschachtelter und
zugleich gebrochener auf. Sie entspringen nicht mehr nur einer Quelle,
die alles weitere bestimmt, sie sind nicht mehr allein der Ökonomie
geschuldet, daher auch nicht mehr allein durch ökonomische
Ausgleichszahlungen und materielle Umverteilung zu beheben“ (S. 86).
Daher müssen sich Hilfeprogramme auf ihre Leitunterscheidungen kritisch
befragen lassen.
Unabhängig von der Frage der Behebung von Ungleichheiten stellt sich
aber nicht zuletzt im Zuge der Globalisierung die Frage der Integration
von gesellschaftlichen Funktionssystemen noch einmal neu. Eine Frage,
die auch Luhmann zunehmend stärker beschäftigte. Wenn Menschen zur
Umwelt von sozialen Systemen gehören, stellt sich die Frage, welche
Voraussetzungen erfüllt sein müssen, dass sie eine relevante Umwelt
darstellen. Sie müssen daher in den Kommunikationen der sozialen
Systeme auftauchen, und zwar als „Personen“, im Sinne sozialer
Adressen. Auf diese Weise sind sie in Systeme eingeschlossen, in der
Terminologie Luhmanns „inkludiert“. Jedes Funktionssystem hat seine
eigenen Inklusionsmechanismen für Personen, das Wirtschaftssystem hat
Kunden, das Politiksystem Wähler usw. „Da davon auszugehen ist, dass
Lebenschancen hochgradig von den Teilnahmemöglichkeiten an
gesellschaftlicher Kommunikation abhängig sind, gewinnt die Theorie mit
dieser Unterscheidung (Inklusion/Exklusion, T.L.) ihren eigenen Zugang
zur Ungleichheitsproblematik“ (S. 89). Es lassen sich nun zunehmend
Tendenzen (besonders in den Ländern der dritten Welt) beobachten, dass
bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht mehr in der Lage sind, an den
Kommunikationen der jeweiligen Funktionssysteme teilzunehmen, weil die
dafür erforderlichen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen (Geld,
Wahlrechte, Schrift etc.). Soziale Hilfe kann aber Bardmann zufolge
nicht stellvertretend für die einzelnen Funktionssysteme deren
Integrationsaufgabe erfüllen: „Sie kann deren mißlingende oder
verweigerte Inklusion nur durch eigene Inklusion ins System Sozialer
Hilfe beantworten (S. 93).
Mit der Rezeptionsgeschichte innerhalb der Sozialarbeit beschäftigt
sich dagegen Albert Scherr (de Berg/Schmidt). Auch er erwähnt den
besagten Luhmann-Aufsatz von 1973, der jedoch im
neomarxistisch-gesellschaftskritischen Klima des
Sozialarbeits-Diskurses der 70er Jahre nicht mit breiter Aufmerksamkeit
rechnen durfte. Ein weiteres Hindernis bei der Rezeption dürfte damals
gerade in Luhmanns Ablehnung eines „ungleichheitstheoretisch fundierten
Gesellschaftsverständnisses“ gelegen haben. Mittlerweile sieht die
Rezeptionslage etwas freundlicher aus, und das hat Scherr zufolge etwas
mit der Einführung der o.g. Inklusions-/Exklusions-Differenz in die
Theorie zu tun, die nun wiederum für Sozialarbeitstheoretiker
anschlussfähiger zu sein scheint. Besonders der Vorschlag von Dirk
Baecker aus dem Jahre 1994, Soziale Arbeit als ein eigenständiges
gesellschaftliches Funktionssystem zu betrachten, hat einen intensiven
Diskurs zu Folge gehabt. Letztlich hat sich Scherr zufolge die
systemische Theorie der Sozialarbeit gegen die herkömmlichen
Ungleichheitstheorien als Alternative erfolgreich ins Spiel bringen
können.
In seinem Artikel über die Diskussion der religionstheoretischen
Arbeiten Luhmanns in der Theologie (der sich übrigens unter jeweils
anderen Titeln in weiten Teilen wortgleich in beiden Bänden findet)
setzt sich Hans-Ulrich Dallmann kritisch mit der Problematik
auseinander, dass „die Systemtheorie in mancher Hinsicht die Theologie
zu beerben sich anschickt“ (S. 105), was eine Rezeption in Theologie
und Kirche verständlicherweise erschweren dürfte. Er wehrt sich
insbesondere gegen die Vorstellung, dass das Grundproblem der Religion
in ihrer Funktion für die Gesellschaft zu sehen sei: „Vielmehr bezieht
sich Religion auf die Umwelt der Gesellschaft, indem sie die
Lebensführung der psychischen Systeme, also der Menschen, thematisiert.
… Religion zielt (im Selbstverständnis der Glaubenden) immer auch auf
Lebensführung, das mag ihr - unaufgebbarer ‚alteuropäischer‘ Impetus
sein. In theologischer Sprache: Glaube und Lebensführung, Dogmatik und
Ethik, gehören für Glaubende zusammen (131).“
Die Abteilung Recht wird von Udo di Fabio, Jurist, Soziologe und
Verfassungsrichter (Gripp-Hagelstange) sowie von Klaus Ziegert, Jurist
an der Universität Sydney (de Berg/Schmidt) bearbeitet. Sie haben es
insofern mit einer interessanten Aufgabe zu tun, als Luhmann selbst als
Jurist tätig war, bevor er sich an sein theoretisches Lebenswerk
gemacht hat. Und dies ist ihm Ziegert zufolge auch anzumerken: So
„weisen ihn … gerade die Belege seiner Meisterschaft zumindest in
Arbeitsstil und Technik als generalistischen Volljuristen aus: einsame
oder gar solipsistische Stubengelehrsamkeit; umfassende,
enzyklopädische Textkenntnisse und unerschrockener Eklektizismus bei
der Wahl auch disziplinferner Ausgangstheorien und theoretischer
Versatzstücke; akribische, besserwisserische und bisweilen skurrile
Referenznachweise; systematische, enggeführte Argumentation mit
perfekter Konsistenzkontrolle; rhetorische Kunstfertigkeit und
Wortschöpfungskraft, mit feinem Gespür für ‚buzzwords‘ und
sensibilisierende, zum Widerspruch auffordernde Konzepte, denen mit
griechischer, latinisierter oder auch anglifizierter Verbrämung
anspruchsvoller wissenschaftlicher Tonfall verliehen werden konnte;
anekdotische und hintersinnige Einzelbeispiele, die der Fallsammlung
hypertropher Problemkonstruktionen im Einführungskurs zum Bürgerlichen
Recht entnommen worden sein könnten; die unerschöpfliche Fähigkeit, in
hypothetischen ‚was wenn?‘-Szenarien nicht nur zu denken, sondern sie
auch radikal in allen Einzelheiten auszuformulieren und begrifflich
durchzudeklinieren“ (95f.). Kann man den wissenschaftlichen Habitus von
Luhmann schöner beschreiben? Und nicht nur die Arbeitsweise, sondern
auch die juristischen Argumentationsweise liefert für Ziegert
Vorlagen für Luhmanns Theoriearchitektur, „für das
Beobachtungsschema, die überragend wichtige Form, mit denen soziale
Systeme nicht so sehr beobachtet als vielmehr auf den Begriff oder gar
auf das griffige und dann robuste Argument gebracht werden können“
(99).
Ziegert stellt Luhmann in einen historischen Zusammenhang mit Eugen
Ehrlich, der mit seiner These vom „lebenden Recht“ schon zu Anfang des
20. Jahrhunderts den Schwerpunkt des Rechts nicht in der Rechtspraxis,
sondern in der Gesellschaft verortet hat. Dennoch hat dies keine
Tradition in den Rechtswissenschaften etablieren können, so dass die
Rezeption „einer allgemeinen Theorie, wie die anderer soziologischen
Theorien auch, im Kern des Rechtssystems erheblichen Widerständen
ausgesetzt ist und in der offeneren Peripherie bessere Chancen hat,
diskutiert zu werden. Sie ist dort dann freilich auch von erheblich
geminderter Relevanz für die Selektionen des Rechtssystems“ (113).
Für Di Fabio (Gripp-Hagelstange) ist dafür auch „der mittlere bis späte
Luhmann mit seinem stets nur vorläufig fixierten und dem Kölner Dom in
seiner Unfertigkeit gleichenden Theorieangebot“ (142) verantwortlich,
dessen „Drehung zur Autopoiese … kaum jemand noch ernsthaft“ mitmachte
(ebd.). er kritisiert - übrigens bei aller Sympathie - gerade
gegenläufig zu Ziegert die Idee Luhmanns, das Funktionssystem des
Rechts nicht auf die Rechtspraxis der Gerichte zu beschränken, sondern
z.B. auch die Gesetzgebung nicht der Politik, sondern dem Rechtssystem
zuzuschlagen. Weiterhin stellt er auch den Gedanken in Frage, dass die
Funktionssysteme autonom und daher gleichberechtigt fungieren und
versucht dies an einem konkreten Rechtsbeispiel, nämlich dem Verbot der
Tabakwerbung in Europa, zu verdeutlichen.
Eine Grundfrage, die sich durch die Beiträge beider Bücher
hindurchzieht, betrifft die theoretische Konstruktion der
Funktionssysteme, die Luhmann zufolge erstens ausreichende Autonomie
von Fremdsteuerung, zweitens die Wahrnehmung einer spezifischen, von
anderen sozialen Systemen nicht erfüllbare Funktion sowie drittens ein
spezielles binäres Codierungsschema (Recht/Unrecht; wahr/unwahr usw.)
voraussetzen. Kritisch wird oft gesehen, dass die Einteilung und
Konzeption der Funktionssysteme oft theoriesystematischen Festlegungen
zu verdanken ist als empirischen Untersuchungen der einzelnen Bereiche.
Ein besonders aufschlussreicher Beitrag scheint mir hier der Aufsatz
von Jost Bauch (Soziologe, langjähriger Referent bei einer
Zahnärztekammer und Geschäftsführer der Hessischen Arbeitsgemeinschaft
für Gesundheitserziehung) über „Selbst- und Fremdbeschreibung des
Gesundheitswesens“ (de Berg/Schmidt) zu sein. Auch er konstatiert
Fehlanzeige, was die Rezeption Luhmanns im Gesundheitssystem angeht.
Das liegt einerseits daran, dass Luhmann keine umfassende Analyse des
Gesundheitssystems vorgelegt hat, andererseits daran, dass das
Gesundheitswesen über keine ausgeprägte Reflexionstheorie verfügt.
Gleichzeitig kritisiert Bauch, m.E. zu Recht, dass Luhmann mit seinem
Code-Vorschlag krank/gesund das Gesundheitswesen zu sehr mit mit der
(Akut-)Krankenbehandlung identifiziert und die „gesellschaftssanitäre“,
nicht-klinische Funktion des Gesundheitssystem in Prävention, Politik
usw. vernachlässigt. Dies ist besonders deshalb bemerkenswert, weil
gerade die letzteren Aspekte des Gesundheitsbereiches viel stärker auf
Kommunikation abzielen als z.B. die Intensivmedizin und von daher
eigentlich einer soziologischen Analyse viel mehr Angebote machen
können. Ein weiterer interessanter, aber unberücksichtigter Aspekt
liegt in der Tatsache, dass im Unterschied zu anderen Organisationen
Krankenhäuser im Kontakt mit ihrem Publikum nicht nur einen Teil der
Person inkludieren, sondern eine „Vollinklusion auf Zeit“ vornehmen.
„Die Weiterführung dieses Gedankens könnte der
organisationssoziologischen Analyse die Spezifität der
Organisationsstruktur des Krankenhauses eröffnen. Leider steht eine
solche Studie noch aus“ (406).
Es ist hier nicht der Platz, noch alle anderen, überwiegend sehr
lesenswerten Beiträge zu referieren. Abschließend sei noch auf die
Beiträge aus der Ecke der systemischen Therapie hingewiesen. Auch hier
zeigt sich die Diskrepanz zwischen einer Beschreibung des Feldes aus
der systemtheoretischen Außensicht der Soziologie einerseits und der
Aufnahme systemtheoretischer Gedankengänge in den systemtherapeutischen
Diskurs andererseits nur zu deutlich. Kurt Ludewig (Gripp-Hagelstange)
macht aus der Not eine Tugend und erklärt sich - nachvollziehbar - als
Praktiker, der Luhmanns Theorie nur punktuell in Anspruch nimmt: „Die
Übernahme von Partikeln aus diesem Theoriegebäude bedeutet keineswegs
eine Luhmannisierung der Systemischen Therapie. Der Wert dieser
Übernahme erweist sich vielmehr darin, ein aus der Praxis heraus
neu entstandenes Verständnis von Psychotherapie heuristisch angeregt zu
haben. Nicht mehr, nicht weniger!“. Was folgt, ist dann eine
Zusammenfassung der Konzeption Systemischer Therapie, die Ludewig seit
dem Ende der 80er Jahre in unterschiedlichen Publikationen
veröffentlicht hat.
Fritz B. Simon setzt dagegen die „erstaunlich große, bemerkenswert
geringe Rezeption Luhmanns“ in der Familienforschung und
Familientherapie in das Zentrum seines Beitrags (de Berg/Schmidt). Wie
Ludewig weist er darauf hin, dass nach langen Jahren der völligen
Nicht-zur-Kenntnisnahme Luhmann bereits 1988 der meistzitierte Autor in
den wichtigen deutschsprachigen familientherapeutisch orientierten
Fachzeitschriften - und betont zugleich, dass die Zitationen nicht
immer notwendigerweise auch für eine inhaltliche Rezeption stehen. Dies
sei zu bedauern, weil gerade seine Theorie der Familie (mit den
kommunikativen Paradoxien, die sich aus der familiären „Inklusion
der Vollperson“ ergeben) ein beträchtliches Potential für
Kliniker enthalte. Simon vermutet daher, dass Luhmann vor allem als
Außenseiter seiner eigenen Disziplin für Systemiker interessant
geworden sei: „Seine Popularität dürfte eher darauf beruhen, dass er in
einem professionellen Feld, dass sich außeruniversitär und gegen
Widerstände des psychoanalytischen und behavioristischen Establishments
entwickelt hatte, dankbar als Legitimationslieferant begrüßt wurde.
Seine Reputation färbte auf systemische Therapie und Therapeuten ab,
die sich in ihrer Arbeit auf ähnliche und damit vom Mainstream
abweichende theoretische Vorannahmen beriefen. Ihn zu zitieren, blieb
bislang nicht mehr als eine gehobene Form des ‚name dropping‘ (374).“
Als Einführung in die Systemtheorie taugen die Bücher aufgrund ihres
speziellen Zuschnittes eher nicht. Die 750 Seiten der beiden Bände sind
jedoch für jeden an Theoriebildung interessierten Leser unbedingt
lehrreich, sie eröffnen einen Blick auf mögliche Problemlagen und
zukünftige Theorieerfordernisse, der durch bloße Lektüre von Luhmann
oder seiner Exegeten alleine nicht zustande käme. Wer sich mit der
Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung in unterschiedliche
Funktionssysteme beschäftigt, kommt um die Lektüre ohnehin nicht herum.
Die Website von Henk de Berg
Hier finden Sie einen Hinweis auf Johannes Schmidt
Inhaltsverzeichnis von Helga
Gripp-Hagelstange (Hrsg.): Niklas Luhmanns Denken. Interdisziplinäre
Einflüsse und Wirkungen:
Gripp-Hagelstange, Helga: Einführung: Niklas Luhmanns Denken - Oder: Die Überwindung des alteuropäischen Denkens. S. 7-21
Nassehi, Armin: Tempus fugit? "Zeit" als differenzloser Begriff in Luhmanns Theorie sozialer Systeme. S. 23-52
Fuchs, Peter: Die Skepsis der Systeme. Zur Unterscheidung von Theorie und Praxis. S. 53-74
Bardmann, Theodor M.: Soziale Arbeit im Licht der Systemtheorie Niklas Luhmanns. S. 75-103
Dallmann, Hans-Ulrich: Immanenz, Transzendenz, Kontingenz. Luhmann und die Theologie. S. 105-137
Di Fabio, Udo: Luhmann im Recht - Die juristische Rezeption soziologischer Beobachtung. S. 139-155
Weischenberg, Siegfried: Luhmanns Realität der Massenmedien. Zu
Theorie und Empirie eines aktuelles Objektes der Systemtheorie. S.
157-178
Bode, Otto F.: Die Ökonomische Theorie und die Systemtheorie
Niklas Luhmanns. Möglichkeiten und Grenzen der Kompatibilität auf der
theoretischen und praktischen Erklärungsebene. S. 179-208
Wagner, Rainer: Systeme und Unternehmensberater - Oder: Vom
Nutzen des Luhmannschen Denkens für die Unternehmensberatung. S. 209-226
Ludewig, Kurt: Systemische Therapie - Eine Psychotherapie jenseits normativer Gewissheit. S. 227-254
Inhaltsverzeichnis von Henk
de Berg, Johannes Schmidt (Hrsg.): Rezeption und Reflexion. Zur
Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie:
Schmidt, Johannes F.K.: Die Differenz der Beobachtung. Einführende Bemerkungen zur Luhmann-Rezeption. S. 8-37
Kieserling, André: Die Soziologie der Selbstbeschreibung. Über
die Reflexionstheorien der Funktionssysteme und ihre Rezeption der
soziologischen Theorie. S. 38-92
Ziegert, Klaus A.: Rechtstheorie, Reflexionstheorien des Rechtssystems und die Eigenwertproduktion des Rechts. S. 93-133
Göbel, Andreas: Politikwissenschaft und Gesellschaftstheorie. Zu
Rezeption und versäumter Rezeption der Luhmann'schen Systemtheorie. S.
134-174
de Berg, Henk: Kunst kommt von Kunst. Die Luhmann-Rezeption in der Literatur- und Kunstwissenschaft. S. 175-221
Dallmann, Hans-Ulrich: Von Wortübernahmen, produktiven
Missverständnissen und Reflexionsgewinnen. Niklas Luhmanns
Systemtheorie in der theologischen Diskussion. S. 222-253
Kaube, Jürgen: Wechselwirkungslosigkeit. Anmerkungen zum
Verhältnis von Systemtheorie und Wirtschaftswissenschaft. S. 254-266
Corsi, Giancarlo: Zwischen Irritation und Indifferenz. Systemtheoretische Anregungen für die Pädagogik. S. 267-295
Clam, Jean: Unbegegnete Theorie. Zur Luhmann-Rezeption in der Philosophie. S. 296-321
Werber, Niels: Medien der Evolution. Zu Luhmanns Medientheorie und ihrer Rezeption in der Medienwissenschaft. S. 322-360
Simon, Fritz B.: Name dropping. Zur erstaunlich großen,
bemerkenswert geringen Rezeption Luhmanns in der Familienforschung. S.
361-386
Bauch, Jost: Selbst- und Fremdbeschreibung des
Gesundheitswesens. Anmerkungen zu einem absonderlichen Sozialsystem. S.
387-410
Hellmann, Kai-Uwe: "… und ein größeres Stück Landschaft mit den
erloschenen Vulkanen des Marxismus." Oder: Warum rezipiert die
Bewegungsforschung Luhmann nicht? S. 411-439
Scherr, Albert: Luhmanns Systemtheorie als soziologisches Angebot an Reflexionstheorien der Sozialen Arbeit. S. 440-468
Dammann, Klaus: Luhmannianische und Luhmannesque Gedanken in der Verwaltungsreflexion. S. 469-510
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