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07.07.2005
Niklas Luhmann: Schriften zur Pädagogik
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Suhrkamp 2004
Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Dieter Lenzen
350 S., kartoniert
ISBN: 3-518-29297-8
Preis: 11,00 €, 20,30 sFr
stw 1697 |
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Suhrkamp-Verlag
Bruno Hildenbrand, Marburg:
Dieser Band versammelt jene Beiträge Luhmanns zum Erziehungssystem, die
während und nach seiner konstruktivistischen Wende entstanden sind.
Damit rücken zwei wesentliche Gedanken in den Vordergrund, die auch
systemisch orientierte Therapeutinnen und Therapeuten beschäftigen: Die
Selbstreferentialität verstehender Systeme mit der Konsequenz, dass
Verstehen (im Unterricht) eher unwahrscheinlich ist, und die Entstehung
und Bewältigung von Paradoxien. Letzterer Punkt bezieht sich
insbesondere auf zwei Sachverhalte: auf den Widerspruch von Erziehung
(Einflussnahme) zur Selbstbestimmung (Freiheit) und auf den von Bildung
und Selektion. Beide Themen haben insbesondere die
geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogen nachhaltig irritiert,
und damit dürfte bereits ein hauptsächliches Anliegen der Luhmannschen
Bemühungen um eine Theorie des Erziehungssystems erfolgreich realisiert
worden sein.
Diese Themen durchziehen in immer neuen Variationen die einzelnen
Beiträge in diesem Buch, wie man das von Luhmannschen Schriften kennt.
Ironisierend könnte man Luhmanns Wirken in etwa so beschreiben: Man
nehme ein Thema aus der Alltagswelt, stecke es oben in die
systemtheoretische Maschine hinein, und unten kommt ein verblüffender
Befund, eine originelle neue Perspektive auf dieses Thema heraus.
Leider jedoch verliert bei diesem Prozess das Thema seinen
alltagsweltlichen Bezug, an dem der Autor auch nicht weiter
interessiert ist, und wer nach den Konsequenzen dieser
theoriereproduzierenden Pirouetten für die Lebenspraxis (hier: von
Pädagogen und Schülern) fragt, bleibt ratlos im Regen stehen.
Allerdings, und dieser Erfolg ist auch nicht zu unterschätzen, bewegt
sich die Ratlosigkeit immerhin auf einem neuen, möglicherweise
kreativitätserzeugenden theoretischen Niveau.
An zwei Beispielen soll dies deutlich gemacht werden: zunächst anhand
eines Beitrags in diesem Buch aus dem Jahr 1987, in dem Sozialisation
und Erziehung einander gegenübergestellt werden (S. 111 – 122), dann
anhand des Beitrags zur Paradoxie von Bildung und Bewertung aus dem
Jahr 1996 (S. 245 – 259).
In „Sozialisation und Erziehung“ beschreibt Luhmann Sozialisation als
ein „reziprokes Geschehen, das nicht nur auf die Sozialisanden, sondern
auch auf die Sozialisationsagenten zurückwirkt“ (111). Luhmann legt nun
eine Theorie selbstreferentieller Systeme zugrunde, die davon ausgeht,
dass Systeme (im vorliegenden Fall: Sozialisanden und
Sozialisationsagenten) gegeneinander abgeschlossen sind, und er stellt
sich die Frage, wie diese Systeme miteinander in Kontakt treten können:
bekanntlich auf dem Wege der Kommunikation. Diese geschieht in
Ereignissen, in denen die Systeme zwar miteinander in Kontakt, aber als
getrennte bestehen bleiben. Die Kommunikation reproduziere ständig, so
Luhmann, die Alternativen Konformität und Abweichung. Sie werde dadurch
aufgelöst, dass Muster positiver Abweichung präferiert würden.
Anders sei es, wenn Erziehung (also gesellschaftlich
institutionalisierte Sozialisation) auftrete. Erziehung sei eine auf
Veränderung von Personen gerichtete Veranstaltung sozialer Systeme, die
an Resultaten orientiert sei (117). Im Unterschied dazu geschehe
Sozialisation sozusagen immer nur kontextuell und ereignishaft. Da
zudem Erziehung auf vorab definierte Resultate aus sei, müsse sie
Personen wie Trivialmaschinen behandeln, die nach der Logik linearer
Kausalität funktionieren: Erziehungsrelevante Kommunikation ist der
Input, die gewünschten Resultate (kluge Schüler) sind der Output. Weil
aber psychische Systeme (also Personen) keine Trivialmaschinen seien,
stelle sich die Frage, wie man dort als Schüler überlebe.
Luhmanns Antwort lautet: Indem ein „hidden curriculum“ entsteht, in
welchem der Schüler lernt, wie man solche Zumutungen unterläuft.
Dieser letzte Punkt ist aus der erziehungswissenschaftlichen Forschung
altbekannt. Mit Hilfe der Luhmannschen konstruktivistischen
Systemtheorie weiß man nun als Leser jedoch, wie das Problem des über
alle Schüler hinweg laufenden Lehrplans und der Bewältigungsstrategie
des hidden curriculums systemtheoretisch reformuliert werden kann. Für
Luhmann ist dieses Problem eine Konsequenz komplexer Gesellschaften und
daher nicht aus der Welt zu schaffen. Die Pädagogen könnten allenfalls
dafür Sorge tragen, das Schlimmste zu verhüten.
Eine andere Schlussfolgerung wäre gewesen, die auch von Luhmann
erkannte Wurzel des Übels, das offizielle Curriculum, direkt anzugehen
und über dessen Abschaffung nachzudenken, um zu Alternativen zu kommen,
die der individuellen Entwicklungsgeschwindigkeit von Schülern gerecht
werden. Ein Beispiel dafür wäre die Montessori-Pädagogik. Von hier aus
wäre auch darüber nachzudenken, was Therapie und Pädagogik hinsichtlich
ihrer Handlungslogik verbindet: Ersetzt man „Leidensdruck“ durch
„Wissensdurst“, hat man einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt. Mit solchen
Feinheiten pädagogischen Handelns befasst sich aber nicht die
Systemtheorie, sondern die Objektive Hermeneutik (Werner Helsper,
Ulrich Oevermann, Andreas Wernet), die den Vorzug hat, ihre
„Anstrengung des Begriffs“ (Hegel) nicht aus dem Lehnstuhl heraus,
sondern in Auseinandersetzung mit empirischen Daten
(Interaktionsprotokollen von schulischen Veranstaltungen wie z. B.
Unterricht) voranzubringen.
In „Takt und Zensur im Erziehungssystem“ befasst sich Luhmann wiederum
mit dem Paradox von Einflussnahme auf den Schüler und dessen
individueller Autonomie. Dieses wird festgemacht am Widerspruch
zwischen Wissen und Leistung. Die durch diesen Widerspruch geschaffene
double-bind-Situation führe sowohl auf der Seite der Schule wie auch
auf der des Schülers zu einer Ambivalenz, die den Schüler dazu
verführt, in einem Spiel der Selbstdarstellung negative Leistungen zu
verdecken. Den Ausweg aus dieser Paradoxie sieht Luhmann in „taktvoller
Kommunikation“: einer Kommunikation, die „nicht ganz so gemeint ist,
wie sie sich darstellt“ (248). Diese für das 18. Jahrhundert typische
Kommunikationsform des geselligen Umgangs in bürgerlichen Kreisen
stellt für Luhmann einen gültigen Ausweg aus der beschriebenen
Paradoxie dar, vor allem dann, wenn sie routinisiert ist. Er grenzt
diese Bewältigungsstrategie von paradoxen Kommunikationen in der
Familie ab, von denen er weiß (aus Büchern), dass sie sich negativ
auswirken. Er gibt dafür auch einen Grund an: Kinder in Familien sind
dort ganze Personen (zu ergänzen wäre: sie haben keinen Ausweg, sie
können ihrer Familie erst einmal nicht kündigen, während Schüler, als
Rollenträger, auch ein Leben außerhalb der Schule haben).
Zensuren, so Luhmann, haben nun den Vorteil eindeutiger Kommunikation
im Sinne binärer Kodes: es gibt nur ein Bestanden oder ein Nicht
bestanden, dazwischen gibt es nichts, und über dieses System
diskutieren lässt sich auch nicht, allenfalls darüber, ob die
Beurteilung gerecht ist oder nicht. Dieses so explizit Kommunizierte
werde im Systemgedächtnis aufbewahrt, aber auf eine Art und Weise, die
Zukunftsoffenheit ermögliche, so dass vergangene eindeutige
Zurechnungen immer wieder korrigiert werden können. Zensuren böten
demnach ein Gegengewicht gegen die für Erziehung typischen paradoxen
Kommunikationen. Oder: „Der Selektionscode ist letztlich eine
aufgelöste Paradoxie“ (259).
Während Luhmann offenbar die Rettung schulischer Kommunikation mit
ihren unverzichtbaren Paradoxien in binär kodierten Kommunikationen
sucht, könnte auch danach gefragt werden, ob Paradoxien tatsächlich nur
so konzeptualisiert werden können, dass ihnen ein potentiell
destruktiver Charakter zugeschrieben wird. In Anlehnung an Vaihingers
„Philosophie Als Ob“ könnte auch angenommen werden, dass Paradoxien
unerlässlich seien, um in einer Welt voller Uneindeutigkeiten rational
handlungsfähig zu bleiben. Das sieht auch die neuere Systemtheorie so,
man denke nur an das 18. Kamel Heinz von Försters. Diese schöne
Geschichte hat allerdings den Nachteil, dass mit ihr ein
formallogisches Problem in die Lebenswelt transportiert wird und dort
in dem Augenblick seine ansonsten fraglos angenommene Plausibilität
verliert, wenn man fragt, wo in aller (Alltags-)Welt man einen Vater
findet, der seine 17 Kamele auf seine drei Söhne so aufteilt, dass sie
einen vorbeikommenden Mullah (Heinz v. Förster persönlich?) brauchen,
um aus der Bredouille zu kommen. Diesen Weg - also den Weg, Paradoxien
als unerlässlich für die Bewältigung alltagsweltlicher Rationalität
aufzufassen, was wiederum eine Paradoxie ist - beschreitet zunächst
auch Luhmann; bevor er ihn aber weiter geht, sucht er die Rettung im
binären Kode der Zensuren. So löckt er wider den Stachel aller guten
Menschen, die die Welt von Üblem zu erlösen trachten, indem sie
beispielsweise die Schüler von Zensuren entlasten wollen, aber mehr
gewonnen ist damit auch nicht.
Die Pädagogik, von der Luhmann handelt, ist die Schulpädagogik. Sie
kennt er als Vater von Schülern, und vermutlich war er selbst auch
einmal Schüler. Von eigener empirischer Forschung her kennt er sie
nicht – jedenfalls lassen die Beiträge in diesem Buch solches nicht
vermuten. Diese Pädagogik konfrontiert er nun mit seiner neuesten
Variante von Systemtheorie, und was herauskommt, sind interessante
Einschätzungen, die zum Weiterdenken anregen. Nicht mehr, aber auch
nicht weniger.
Die Website des Herausgebers Dieter Lenzen, Erziehungswissenschaftler, Philosoph und seit 2003 Präsident der Freien Universität Berlin
Inhaltsverzeichnis:
D. Lenzen: Vorwort 7
Erziehender Unterricht als Interaktionssystem (1985), S. 11
Codierung und Programmierung: Bildung und Selektion im Erziehungssystem (1986), S. 23
Systeme verstehen Systeme (1986), S. 48
Strukturelle Defizite: Bemerkungen zur systemtheoretischen Analyse des Erziehungssystems (1987), S. 91
Sozialisation und Erziehung, s. 111
Die Homogenisierung des Anfangs: Zur Ausdifferenzierung der Schulerziehung (1990), S. 123
Das Kind als Medium der Erziehung (1991), S. 159
System und Absicht der Erziehung (1992), S. 187
Das Erziehungssystem und die Systeme seiner Umwelt (1996), S. 209
Takt und Zensur im Erziehungssystem (1996), S. 245
Erziehung als Formung des Lebenslaufes (1997), S. 260
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