Carl-Auer-Verlag
Tom Levold, Köln:
Die Lektüre Luhmanns ist ein
Unterfangen, das bei manchen Menschen - wenn sie sich nicht aus
Leidenschaft oder von Berufs wegen damit befassen - schnell Gefühle von
Fremdheit und Überforderung auslösen kann. So berichtete mir kürzlich
eine (Psychotherapie betreibende) Seminarteilnehmerin, dass sie ein
Buch Luhmanns geschenkt bekommen, hinein geschaut und es gleich weiter
verschenkt habe, da sie den Eindruck hatte, diese Art von Texten sei
nichts für sie (Am Ende des Seminars gab sie übrigens die Rückmeldung,
dass sie sich das Buch zurückholen wollte).
Aus solchem Erleben heraus meidet man dann entweder die weitere
Auseinandersetzung mit Luhmann oder man greift zu einer Einführung in
Luhmanns Werk durch andere Autoren. Das hohe Abstraktionsniveau, auf
dem die zahlreichen Bücher Luhmanns verfasst sind, täuscht aber darüber
hinweg, dass Luhmann seine Theorie durchaus auf höchst anregende und
verständliche Weise zu vermitteln vermochte, insbesondere in seinen
Vorträgen, Vorlesungen und Seminaren. Der Carl-Auer-Verlag hat sich
darum verdient gemacht, nach den Vorlesungen zur „Einführung in die
Systemtheorie“ nun auch die letzte Vorlesung des 1993 emeritierten
Systemtheoretikers zur „Einführung in die Theorie der Gesellschaft“ in
13 Teilen zu veröffentlichen, ebenfalls unter der umsichtigen, sich
nahe an die mündliche Vortragsform haltenden Redaktion des Herausgebers
Dirk Baecker (vgl. sein Vorwort weiter unten).
Mit ihrer Gliederung (s.u.) stimmt die „Einführung in die Theorie der
Gesellschaft“ schon recht genau mit der Gliederung des 1998, also fünf
Jahre nach der Vorlesung erschienenen Hauptwerkes „Die Gesellschaft der
Gesellschaft“ überein. Aus diesem Grund wäre eigentlich eine
Parallelbesprechung beider Bücher interessant, die aber an dieser
Stelle nicht zu leisten ist und eher Gegenstand einer eigenständigen
Arbeit sein sollte. Zumindest empfiehlt Dirk Baecker, anhand des weit
ausführlicheren Registers das Hauptwerk zu Rate zu ziehen, um einzelne
Fragen, die sich aus der Lektüre der Vorlesung ergeben, zu vertiefen.
Hier liegt jedoch der Schwerpunkt eher auf der Frage des Zugangs zum
Werke Luhmanns. Und die vorweggenommene Antwort lautet: Auf diese Weise
kann Luhmann auch Systemtheorie-Novizen Vergnügen bereiten.
Die erste Vorlesung beginnt mit den Worten: „Die Absicht dieser
Vorlesung ist leicht zu formulieren, aber schwer durchzuführen. Meine
Idee ist es, dass man eine Theorie der modernen Gesellschaft haben
müsste, und die Vorlesung ist ein Versuch, so etwas in Gang zu setzen“
(S. 11). Dies soll einerseits mit einer historischen Perspektive
geschehen, aus der die moderne Gesellschaft mit älteren Gesellschaften
verglichen werden kann, andererseits geht es Luhmann um den „Versuch,
mit sehr abstrakten Theoriegrundlagen zu arbeiten und so
Begrifflichkeiten einzuführen, die der Soziologie nicht ohne weiteres
vertraut sind und die eher interdiszipliniäre Einzugsbereiche haben.
Das läuft also, grob gesagt, unter dem Stichwort ‚Systemtheorie‘“ (12).
Und: „Theoretische Abstraktion und historische Perspektive fordern sich
somit wechselseitig. Das unterscheidet diese Vorlesung von dem, was
Historiker mit natürlich sehr viel besserer Quellenkenntnis anbieten
würden. Ich möchte versuchen, Theoriegrundlagen zu benutzen, um aus
geschichtlichem Material herauszuziehen, was eventuell für einen
Vergleich historischer Gesellschaften mit der modernen Gesellschaft
interessant sein könnte“ (13).
Soweit das Programm. Die Durchführung folgt dann von Anfang an dem
selbstgewählten Anspruch, in der Theoriearbeit eine Unterscheidung zu
treffen, die zunächst immer als kontingent gedacht wird, also
grundsätzlich auch anders ausfallen könnte, die dann aber durch ihren
Vollzug auch zu einer Festlegung führt, die bestimmte Folgen hat.
Mithilfe dieser kontingenten Unterscheidungen wird nun jedes Mal Fall
für Fall festgelegt, was beobachtet und beschrieben werden kann und
damit natürlich auch, was sich aufgrund der eigenen
Theorieentscheidungen der Beobachtung entzieht - und unter Umständen
erst im Nachhinein, wenn überhaupt, noch in die Theorie eingebaut
werden kann. In einer „normalen“ wissenschaftlichen Monographie
verschwindet nicht selten gerade dieser Konstruktionsaspekt der
Theoriearbeit hinter dem ausformulierten Ergebnis, das sich in der
Regel als schlüssig und zwangsläufig darstellen muss, um seinen Platz
im wissenschaftlichen Diskurs als in sich abgeschlossenes Werk
behaupten zu können.
Luhmann geht in seiner Vorlesung auf durchaus faszinierende Art und
Weise einen anderen Weg. Er führt in der gesamten Anlage seiner
Vorlesung den Aspekt der Reflexion der eigenen Theorieentscheidungen
ständig mit und bemüht sich so um maximale „theoriebautechnische“
Transparenz. Auf diese Weise stellt er es dem Hörer (bzw. Leser)
anheim, seinen Entscheidungen zu folgen oder nicht und Überlegungen
anzustellen, welche Konsequenzen andere Theorieentscheidungen mit sich
bringen würden, z.B. so: „…zum anderen müsste hier deutlich
werden, was man ausgrenzt, was man also, wenn man sich für
Systemtheorie entscheidet, nicht sehen kann oder nicht an den ersten
Platz der Theorie rückt. Da geht es dann einerseits um den Menschen,
aber andererseits auch um normative Erwartungen, also um Vorstellungen,
wie die Gesellschaft besser sein könnte. Das kann zwar alles nachher
wieder eingeführt werden, aber im Aufbau der Theorie, wenn man es
systemtheoretisch macht, ist das nicht die prominente Idee“ (15f.). Ein
anderes Zitat, das diese methodische Vorgehensweise deutlich macht:
„Wenn man das so theoretisch formuliert und sich nicht wirklich
überlegt, dann ist das zunächst einmal ganz einleuchtend. Aber ich will
einmal ein Beispiel bringen, um zu zeigen oder um die Entscheidung
offen zu halten, ob Sie das mitmachen oder nicht“ (245).
Die von Luhmann immer wieder in seinem Werk gewählte
Architekturmetapher wird hier ganz anschaulich vor seinem Publikum
zelebriert. Er führt die Bausteine vor, zeigt sie von allen Seiten,
erläutert, was man damit machen kann, was vielleicht auch nicht oder
was auf keinen Fall geht, und baut sie zu einem komplexen Gebilde mit
manchmal überraschenden, immer aber interessanten und anregenden
Ergebnissen zusammen, während er gleichzeitig im Bewusstsein hält, dass
das Ergebnis mit einem anderen Baumeister oder einem anderen Bauplan
auch anders ausfallen könnte. Die Plausibilitätsentscheidung wird dem
Hörer/Leser überlassen.
Zu Beginn wird noch einmal auf den Systembegriff eingegangen, ohne ihn
in aller Breite auszufalten, was ja schon Gegenstand seiner bereits
genannten Vorlesung zur „Einführung in die Systemtheorie“ ist. Dann
geht es ausführlicher um den Begriff der Gesellschaft, die als globaler
Gesamtzusammenhang von Kommunikation vorgestellt wird, d.h. alles was
Kommunikation ist, lässt sich der Gesellschaft zurechnen. Auch die
Kritik an der Gesellschaft ist demzufolge Kommunikation, sie kritisiert
sozusagen von innen und ist daher zwangsläufig Teil der
gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, eine externe Beobachterposition
wird verworfen und daher auch nicht selbst in Anspruch genommen. Aus
dieser Perspektive lässt sich logischerweise auch nicht mehr sinnvoll
von unterschiedlichen Gesellschaften reden, der Gesellschaftsbegriff
ist nicht nationalisierbar oder regionalisierbar, sondern bezeichnet
eine Singularität. Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern Menschen
aus der Gesellschaft herausfallen können. Luhmann trägt - quasi aus der
Werkstatt - an dieser Stelle vorläufige, später erst ausgearbeitete
Überlegungen zur Inklusion und Exklusion von Menschen aus
Kommunikationszusammenhängen vor, die mit der vorhandenen oder
fehlenden Verfügbarkeit von Kommunikationsmedien (Geld, Sprache, Macht
usw.) zutun haben, und die er an Beobachtungen aus Südamerika und Asien
erläutert: „Wenn man kein Geld hat, kann man fast nichts anderes
machen, ebenso, wenn man keinen Ausweis hat, wenn man keine
Rechtsposition hat und so weiter. Die Familie wird illegal, die Ehe
wird nicht registriert, die Kinder sind formal uneheliche Kinder und so
weiter. Es scheint so zu sein, dass eine Tendenz besteht, den
ausgeschlossenen Teil der Bevölkerung auf die körperliche Existenz zu
reduzieren“ (80). Luhmann sieht in diesen Exklusionstendenzen ein
zunehmendes Problem der Differenzierung der gesellschaftlichen
Funktionssysteme, das mit den jeweiligen systemeigenen Mitteln nicht
abgefangen werden kann. Aus diesem Grund bringt er den Gedanken ins
Spiel, inwiefern die Differenz von Inklusion und Exklusion eine Art von
Metacodierung oder „Superleitdifferenz“ der gegenwärtigen
Gesellschaftsformation abgibt (277). Seine Zeitdiagnose erscheint damit
viel pessimistischer als etwa noch vor 20 Jahren: „Diese Situation wird
in der normalen Terminologie eher als Repression, Unterdrückung oder
Ausbeutung beschrieben. Aber das sind Spätwirkungen eines marxistischen
Ansatzes, während die Sachverhalte, wenn ich das richtig sehe, viel
gravierender sind. Da ist nämlich nichts mehr auszubeuten. Von
Repression kann auch keine Rede sein, sondern es ist einfach so - mit
einer Gravität und einer Fatalität, die sich der Kalkulation von
Oberschichten völlig entzieht. … (Die ausgeschlossenen
Bevölkerungsteile) sind auch im Design des Marxismus keine Bevölkerung,
die für eine Revolution in Betracht kommt. Sie können Unruhe, Gewalt
erzeugen, aber sie können nicht die Verhältnisse ändern“ (276f.)
Auf knapp 100 Seiten erläutert Luhmann dann im zweiten Teil sein
Konzept der Kommunikationsmedien auf eine sehr nachvollziehbare und
verständliche Weise. Dabei geht in der vierten Vorlesung zunächst um
die Sprache und in der fünften Vorlesung um die sogenannten
Verbreitungsmedien Schrift, Buchdruck, Elektronische Medien „und damit
auch um die Technologieabhängigkeit der Expansion von Kommunikation und
damit der Expansion von Gesellschaft“ (87). Auf dieser Grundlage wird
dann die Idee der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien
entwickelt, die den „Erfolg unwahrscheinlicher Kommunikation
wahrscheinlich machen“, indem sie potentiell endlose sprachliche
Kommunikation gewissermaßen abkürzen und dafür Motive bereitstellen
(Geld, Macht, Liebe, Wahrheit usw.), wobei die einzelnen
gesellschaftlichen Funktionssysteme sich jeweils spezifischer
generalisierter Medien bedienen.
Sprache ist für Luhmann deshalb zentral, weil nur bei Sprache
„eine Art flüssiger Kontinuität gesichert ist“ (89), die als
Voraussetzung fungiert, damit „die Autopoiesis der Gesellschaft in Gang
kommt“. Nur im Falle von Sprache läge ganz eindeutig eine Trennung von
Mitteilung und Information vor: „Wenn diese Unterscheidung nicht
gemacht wird, sieht man nur Verhalten, eine Bewegung, eine Geste, eine
interpretierbare Einstellung vielleicht, aber man sieht nicht etwas,
was im Kontext von Kommunikation eine Reaktion nahe legt, eine Antwort
erfordert oder eine Interpretation, eine Rückfrage und dergleichen
motivieren kann“. Es wäre an dieser Stelle interessant zu überlegen,
inwiefern wir es hier nicht mit einer theoretischen Engführung zu tun
haben, die etwas mit der Theoriesystematik Luhmanns zu tun hat, nämlich
mit seiner Trennung von Sinn über Sprache produzierenden (sozialen und
psychischen) Systemen einerseits und biologischen Systemen
andererseits. Körperlichkeit in diesem Modell ist ausschließlich eine
Bezugsgröße, die psychische und soziale Systeme durch
Wahrnehmung/Bewusstsein bzw. sprachliche Kommunikation als relevante
Umwelt berücksichtigen müssen. Es lässt sich aber die Frage stellen,
was sich ändern würde, wenn der Kommunikationsbegriff auch auf
nonverbale, körperliche Kommunikation ausgedehnt würde. Zumindest vor
dem Hintergrund der jüngeren empirischen Erforschung affektiver
Kommunikationsprozesse wird deutlich, welches hohe Maß an Koordination
und wechselseitiger Abstimmung im Mikrobereich sozialer Interaktion
bereits ab der Geburt vorliegt, also lange vor der Phase des
Spracherwerbes. Diesen Phänomenen das Attribut „sozial“ oder
„Kommunikation“ vorzuenthalten, scheint mir fragwürdig zu sein. Ab wann
wäre die Kommunikation zwischen Eltern und Kind Teil des sozialen
Systems Familie, bis wann ausschließlich Verhalten? Luhmann erwähnt
zwar kurz die Möglichkeiten nichtsprachlicher Kommunikation, aber eben
nur als Alternative, als Substitut von Sprache, die schon verfügbar
ist: „Eine Kultur der indirekten, nichtverbalen Kommunikation kann es
so nur geben, wenn es Sprache gibt - in gewisser Weise als Ergänzung
zur Sprache, denn wenn man die Fassbarkeit, die Beobachtbarkeit, die
Rechenschaftspflicht von Sprache vermeiden will, benutzt man indirekte
Kommunikation“ (112).
Die Darstellung der Verbreitungsmedien, bei der Luhmann wie auch sonst
im Text mit historischen Detailkenntnissen brilliert, die er immer
wieder - manchmal wie spielerisch - einstreut, verdeutlicht, dass
differenzierte Gesellschaften erst möglich werden, wenn sie
Möglichkeiten haben, Kommunikation von der Interaktion von Anwesenden
(Sprache) abzukoppeln und situationsunabhängig zu stellen, nämlich
durch externe Speicher wie Schrift, Buchdruck, Computer etc.
Der dritte Teil der Vorlesung ist der Evolution der Gesellschaft
gewidmet, wobei auch hier am Anfang die Frage steht, wofür dieser
Begriff taugen kann und was damit gerade ausgeschlossen werden soll
(nämlich Schöpfungstheorien einerseits und Phasentheorien, die etwa in
der Idee eines stetigen gesellschaftlichen Fortschritts zu finden sind,
andererseits). Evolution soll Luhmann zufolge dabei nicht als Metapher
gedacht werden, sondern als „allgemeine Form“ von Variation, Selektion
und Stabilisierung von Systemen, auf die Darwin dann nur als erster
präzise zugegriffen hat (188). Entscheidend für diese Konzeption ist
die Vorstellung, dass sich das, was wir als Gesellschaft vorfinden,
durch Zufall konstelliert und trotz aller Stabilisierungsbemühungen
nicht planmäßig unter Kontrolle zu bekommen ist: „Planung ist ein
Faktor in der Evolution, der Zufallseffekte, das heißt nicht
vorgesehene, unkoordinierte Effekte hat und insofern wieder in die
Evolution wieder hineinwirkt“ (191). Aus diesem Grund ist auch mit
sprunghaften Veränderungen zu rechnen, und nicht unbedingt immer mit
dem wünschenswerten, „d.h. Planung ist nicht gleichbedeutend mit
evolutionärer Selektion. Das System akzeptiert, geplant zu werden,
wehrt sich in gewisser Weise jedoch auf eigene Art auch dagegen, lässt
die Dinge entgleisen, lässt die Leute im nächsten Moment ihre Pläne
wieder umwerfen, erzeugt aus erfüllten Erwartungen Enttäuschungen und
und“ (ebd.). Aus diesem Grund setzt sich Luhmann auch so vehement von
normativen Gesellschaftstheorien ab, die sich mit der Frage
beschäftigen, wie Gesellschaft sein sollte und zu gestalten wäre und
damit dem gesellschaftlichen Wandel eine potentielle Rationalität (im
Sinne eines Richtigen oder Besseren) unterstellen, die Luhmann
nirgendwo erkennen kann.
Vor dem Hintergrund dieser Entfaltung des Evolutionsbegriffs skizziert
Luhmann relativ knapp seine Theorie der Differenzierung der
Gesellschaft in die verschiedenen Funktionssysteme, die zunächst auch
über Zufälle zustande kommt: „Ein Zufall entwickelt sich über
Abweichungsverstärkung zu einer Differenzierungsstruktur, ohne dass
sich die Gesellschaft am Anfang schon im Kopf, in der Planung oder auf
eine verantwortungsfähige Weise umstellt auf: ‚Hier, wir sind nicht
mehr Nomaden, sondern wir sind Siedler‘. Das hat auch
evolutionstheoretisch erhebliche Vorteile, weil man jetzt die Vorgaben,
die man braucht, um zu begründen, weshalb es dazu kommen kann, klein
halten kann. Es muss natürlich irgendwo Wasser fließen, sonst könnte
man da nicht siedeln, und es müssen, wenn der Zufall eintritt, dazu
passende andere Ursachen eine Rolle spielen. Es ist also nicht eine
Theorie der Beliebigkeit. Aber das Interessante ist, dass von dieser
Spontangenese oder Zufallsgenese von Ordnung her gesehen die Prämissen
der Ordnung in der Umwelt liegen und das System sich selber
strukturiert“ (243).
Die - nicht unproblematische - Bestimmung dessen, was überhaupt als
gesellschaftliches Funktionssystem gelten darf und was nicht, kommt in
diesem Zusammenhang etwas kurz, vor allem die Frage, wie man die
jeweiligen kommunikativen Operationen eindeutig einem bestimmten
Funktionssystem zuschlagen kann. Luhmann postuliert für jedes
Funktionssystem einen spezifischen „binären Code“, mit Hilfe dessen
geregelt werden kann, welche Operationen im System anschlußfähig werden
(der so genannte Positiv-Wert, z.B. Geld-Zahlungen in der Wirtschaft)
und welche vom System abgelehnt werden (Negativ- oder Reflexionswert;
z.B. unbezahlte Liebesdienste). Die These der binären Codierung von
Funktionssystemen (z.B. wahr/unwahr für das Wissenschaftssystem) besagt
entsprechend umgekehrt, dass alle Kommunikationen, die mit einem
spezifischen binären Code beschrieben werden können, dem jeweiligen
Funktionssystem (hier also Wissenschaft) zugerechnet werden müssen,
während andere Codierungen (Liebe/Nich-Liebe oder Macht/Unterwerfung)
anderen Funktionssystemen zugehören. Komplexe Kommunikationsstrukturen
haben also Anschluss an unterschiedliche Funktionssysteme, ohne dass
diese selbst aufeinander direkt zugreifen könnten.
Diese These ist auf den ersten Blick faszinierend, hat aber ihre
Tücken. Da der binäre Code erforderlich ist, um Anschlussfähigkeit oder
Ablehnung im Funktionssystem sicherzustellen, kann es nur ein einziges
zweiwertiges Schema geben: verschiedene Codes sind nicht zugelassen.
Nun erhebt sich sofort die Frage, ob die von Luhmann postulierten Codes
wirklich die einzig möglichen sind oder ob nicht auch Alternativen
denkbar wären. Luhmann zitiert ausführlich eine Kritik von
Knorr-Cetina, für die der Eindruck entscheidend sei, „dass in der
konkreten Realität beispielsweise des Forschungshandelns die Werte
wahr/unwahr gar nicht vorkommen, gar nicht zitiert werden, sondern
Gesichtspunkte wie Reputation, Selbstbehauptung,
Sich-auf-einem-Publikationsmarkt-durchsetzen, Karriere und dergleichen
dominant sind“ (272). Er geht aber nicht wirklich im Einzelnen auf
diese Kritik ein, sondern verharrt auf seiner Feststellung, dass es
dann eben um die Zuordnung zu unterschiedlichen Funktionssystemen gehe.
Mir scheint die Beantwortung der Frage, welche Codierungen denn in
Funktionssystemen benutzt werden, in erster Linie eine empirische
Aufgabe zu sein, die eine genauere Untersuchung der Verwendung
spezifischer Codes in der Praxis der Funktionssysteme erfordert. Solche
Untersuchungen hat Luhmann aber wohl nicht durchgeführt. Und, wie sich
zeigt, regt sich hier auch Protest aus den Reflexionswissenschaften
einiger Funktionssysteme, wie zwei (in systemagazin besprochene)
Sammelbände zur Rezeption Luhmanns zeigen.
Der letzte Abschnitt mit den Vorlesungen 12 und 13 ist der
Selbstbeschreibung der Gesellschaft gewidmet. Den Begriff der
Beschreibung grenzt der von dem der Beobachtung folgendermaßen ab:
„Unter einer ‚Beschreibung‘ verstehe ich im Unterschied zu einer bloßen
‚Beobachtung‘ etwas, was nicht nur im Moment geschieht, sondern was zum
Beispiel in einem weiten Sinne zu einem Text wird, oder eine Identität
produziert, die auch in anderen Zusammenhängen wiederverwendet werden
kann“ (286). Die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft sind aus dieser
Perspektive nicht unabhängig von der Struktur der Gesellschaft, sondern
„es bestehen Zusammenhänge zwischen dem, was jeweils plausibel gemacht
werden kann und evident ist, einerseits und den Sozialstrukturen, vor
allem den Differenzierungsformen, andererseits“ (20). Die zahlreichen
wissenssoziologischen Studien Luhmanns zum Themenkomplex
„Gesellschaftsstruktur und Semantik“ zielen darauf ab, diese
Zusammenhänge herauszuarbeiten. In der Vorlesung geht es ihm zunächst
darum, die „alteuropäischen Traditionen“, Gesellschaft zu denken, zu
skizzieren und zu verdeutlichen, dass sie nicht mehr für eine
Beschreibung der modernen Gesellschaft taugen. Gleichzeitig zeigt er
auf, dass es grundsätzliche Unterscheidungen in dieser klassischen
Perspektive gibt (die Unterscheidung von Ganzem und Teil, von Oben und
Unten sowie von Zweck und Mittel), die auch heute immer noch in
verschiedenen Zusammenhängen benutzt werden, obwohl
sie ihm für die heutige Situation nicht mehr angemessen erscheinen.
Allerdings macht er im Schlusskapitel auch deutlich, dass es noch lange
keine „definitive Selbstbeschreibung der modern Gesellschaft“ gibt.
Allenfalls haben wir es mit einer „Übergangssemantik“ zu tun, einer
„transitorische(n) Semantik, die auf den Umstand reagiert, dass man
schon nicht mehr in der alten Welt ist, also die alten Ordnungsbegriffe
nicht mehr brauchen kann, aber noch nicht weiß, in welcher Gesellschaft
man jetzt lebt“ (310). Die Frage stellt sich, ob mit einer solchen
Beschreibung angesichts der Tatsache, dass die Gesellschaft aufgrund
der technisch bedingten explodierenden globalen Kommunikation „in
Echtzeit“ zunehmend in eine mediale Resonanzkatastrophe
hineinschliddert, überhaupt gerechnet werden kann. Jedenfalls stellt
Luhmann fest, dass die Semantik der gesellschaftlichen
Selbstbeschreibung in verschiedene Teile zerfällt, also nur im Plural
zu verwenden ist. Ob und inwiefern diese Selbstbeschreibungen
füreinander anschlussfähig sind oder werden können, muss dahingestellt
bleiben. Luhmann formuliert zum Schluss optimistisch: „Die Idee ist, …
eine Verschränkung von großenteils vorhandenem Wissen zu erreichen und
in eine Gesellschaftstheorie zu überführen, und ich denke, der
Rückblick auf die semantische Tradition hat wenigstens andeutungsweise
gezeigt, dass man damit in alle Bereiche der historischen,
literarischen Erinnerungen und der aktuellen Diskussionen hineingreifen
kann. Ob die Antwort befriedigt, ist dann eine zweite Frage. Aber man
kann nicht sagen, dass eine Gesellschaftstheorie heute nicht möglich
ist. Ob sie adäquat ist und ob alle Engagements und Bedürfnisse und
alle Borniertheit und Einseitigkeit und alle moralischen Emphasen,
alles Sichausliefern an ein Gefühl der Hilflosigkeit, alle emotionalen
und voluntativen Komponenten eingebaut werden können, wird man
bezweifeln müssen, aber zunächst einmal würde eine Sprachregelung
erreicht werden, so dass aus dem Standpunkt einer Gesellschaftstheorie
heraus solche Phänomene beschrieben werden können“ (331).
Dies alles ist in der „Gesellschaft der Gesellschaft“ genauer,
anspruchsvoller und umfangreicher ausgearbeitet, deren Lektüre aber
auch weitaus voraussetzungsreicher ist. In der hier vorliegenden
Vorlesung erlebt man Luhmann gewissermaßen nachträglich „live“. Schon
die „Einführung in die Systemtheorie“, deren Gegenstand ja um einiges
abstrakter ist als der seiner Gesellschaftstheorie, beeindruckt durch
ihren geschliffenen, freien Vortrag, der immer elegant, ironisch und
souverän daherkommt. Im vorliegenden Band wirkt Luhmann hier noch
abgeklärter und entspannter, stärker im Kontakt mit dem Publikum und
absolut transparent im Hinblick auf seine eigenen
Theorieentscheidungen, eine wunderbare Einladung, ihm bei der
Entfaltung seiner Argumentation zuzuschauen. Die Vielzahl eingestreuter
Belege ist zwar höchst selektiv, Luhmann spricht selbst von „schwacher
Deckung in der Empirie“ (177), aber es geht ihm auch nicht um eine
historisierende, zusammenhängende Darstellung der
Gesellschaftsgeschichte, sondern, wie oben zitiert, um die
wechselseitige Befruchtung von theoretischer Abstraktion und
historischer Perspektive zu theoretischen Vergleichszwecken. Dies
geschieht immer anregend, oft vergnüglich, nie langweilig. Auch wenn
Luhmann selbst seinen Ansatz als zirkulär und nicht linear beschreibt,
also eher als ein Netzwerk der Begriffe, die alle aufeinander verweisen
und daher auch beliebige Einstiegspunkte für eine Rezeption bieten, hat
die Vorlesung manchmal auch fast narrativ anmutende Sequenzen, die sich
aus dem freien Vortrag ergeben.
Wer nicht nur in (der) Gesellschaft sein will, sondern sich auch -
gerade in der aktuellen globalen Krise - Gedanken über die Art ihrer
Verfasstheit machen will, sollte sich mit diesem Buch befassen. Und wer
die Lektüre Luhmanns bislang gescheut hat, könnte seine Scheu dabei
verlieren.
Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:
Ein weiteres Mal hat Carl Auer das Transkript einer Vorlesungsreihe von
Niklas Luhmann publiziert, wieder von Dirk Baecker herausgegeben, mit
einem anregenden Vorwort versehen und mit Literaturhinweisen ergänzt.
Es handelt sich um die letzte, von Luhmann im Wintersemester 1992/93
gehaltene Vorlesung. Sie bietet einen Einstieg in seine Theorie der
Gesellschaft, die er konsequent aus einer systemtheoretischen Sicht
ableitet. Gesellschaft definiert Luhmann als ein soziales System, das
sich mit Hilfe von Kommunikation, seiner kennzeichnenden Operation,
fortwährend selbst erschafft. Das ist spannend und hat Konsequenzen:
„Die Spezialität dieser Vorlesung ist das Problem eines Systems, das
alle sozialen Kommunikationen einschließt, aber alles andere auch
ausschließt“, heißt es (S.23). Und schon ist zu fragen: „Was ist nicht
gemeint, wenn von Kommunikation die Rede ist?“ und die im Zusammenhang
mit der Luhmann-Diskussion immer wieder schärfste Frage ist dann die
nach „dem Menschen“. Und schon wieder eine Unterscheidung: Während
Luhmann „den Menschen“ ausschließt aus dem Bereich, der sich durch
Kommunikation kennzeichnet, schließt er die Möglichkeit eines
konkreten, benannten Menschen wie der ein: „Die Systemtheorie hat keine
Schwierigkeiten, irgendeinen Menschen zum Ausgangspunkt zu nehmen, zum
Beispiel mich – und alles andere ist dann Umwelt (...) Aber es muss
immer ein konkretes System sein. Denn wenn man von „dem“ Menschen
spricht, weiß man gar nicht, was gemeint ist, wenn man
systemtheoretisch denkt“ (S.51). Immer wieder wird deutlich: „Die Wahl
einer Systemreferenz hat Konsequenzen!“ (S.52), vielleicht auch die:
„Wenn wir auf die Differenz abstellen, ist es nicht so tragisch, wenn
wir sagen, der Mensch gehört zur Umwelt der Gesellschaft. Es ist damit
weder bestritten, dass es Menschen gibt, noch ist damit gesagt, dass er
für die Gesellschaft bedeutungslos sei. Es ist nur gesagt, dass das,
was ein Mensch für eine bestimmte Gesellschaft bedeutet, sich über
Kommunikation bemerkbar machen muss“ (S.60). Und während man als Leser
noch staunt über die Nonchalance und Überzeugungskraft des Arguments,
erwischt einen die Bemerkung: „Wenn Sie sich das sorgfältig überlegen,
bin ich fast sicher, dass Sie sich außerhalb der Gesellschaft wohler
fühlen als innerhalb der Gesellschaft“ (S.60f.).
So geht das die ganze Zeit. Eins greift ins andere. Luhmann diskutiert
das unter den Überschriften „Die Gesellschaft als soziales System“,
„Kommunikationsmedien“, „Evolution“, „Differenzierung“ und
„Selbstbeschreibung“. Die damit verbundene Einladung, sich die „für die
Gesellschaft selber unfassbare Komplexität als Ausgangspunkt“ zu
verdeutlichen, könnte allzu leicht überfordern, wird jedoch abgefedert
durch die ebenso unaufgeregte wie humorvolle Weise, in der Luhmann das
entstehende Gedankenlabyrinth kommentiert. Souverän: Luhmanns Sprache,
und immer wieder der Bezug zum Alltagsleben, und sei es Bielefeld,
dieser Mikrokosmos, schade, dass der Ort nicht im Register auftaucht
(die Welt: ein biele Feld...). Die Lektüre hat mich manchmal in eine
Art tranceartige Neugier hineingezogen, wie das denn nun wohl weiter
geht, wie das wohl Sinn macht. Es ist dabei nicht so sehr die
(vermutliche) Illusion eines
anhaltenden Wissensgewinns, der mir das Buch so spannend machte,
sondern die teilweise mitreißende Vorstellung, Zeuge zu sein, wie
jemand vor Komplexität nicht kapituliert, sondern sich ihrer in
Annäherungen vergewissert. Wie jemand sich durch einen Kosmos von
Möglichkeiten und Querverbindungen hindurchfindet, immer wieder auch
die Vorläufigkeit des Gedachten mit einbezieht: ein Vorbild für den
konstruktiven Umgang mit Kontingenz. Das ausgebreitete Multiversum ist
stupend, erträglich gemacht durch den Respekt, der sich einstellt
angesichts der selbstbewussten Bescheidenheit, mit der Luhmann sich als
einen Vorantastenden kenntlich macht, der sich der Vorläufigkeit seiner
Schlussfolgerungen bewusst ist.
(veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von systhema)
Verlagsinfo:
"Mit seiner letzten Vorlesung an der Universität Bielefeld
verfolgte Niklas Luhmann das Ziel, der modernen Gesellschaft eine
Theorie zur Verfügung zu stellen, die ihr neue Spielräume und
"Navigationsmöglichkeiten" eröffnet. Durch Rückblenden auf ältere
Gesellschaften, ihre Strukturen und ihre Denkweise, arbeitet er heraus,
worin sich die moderne Gesellschaft von allen bisherigen unterscheidet.
Parallel dazu beschreibt Luhmann die heutige Gesellschaft
mit Hilfe von Begriffen, die der Soziologie bis dahin eher fremd waren.
Sie stammen vornehmlich aus der Systemtheorie, aber auch aus der
Biologie, der Kybernetik oder der Kommunikations- und
Informationstheorie.
Luhmann richtet seine Theorie an konkreten empirischen Phänomenen
aus - internationale Finanzmärkte, Politik, Sprache, moderne
Kommunikationsmedien u.a. - und macht sie dadurch gut nachvollziehbar.
Im Verlauf der Vorlesung gelingt es ihm, bestehende Erkenntnis- und
Denkblockaden aufzulösen und den Blick auf den Charakter und die Form
der gegenwärtigen Gesellschaft freizumachen."
Niklas Luhmann:
Niklas
Luhmann (1927-1998) zählt zu den bedeutendsten Soziologen des 20.
Jahrhunderts und überraschte immer wieder auch durch Stellungnahmen zu
zeittypischen Phänomenen. Von 1968 bis 1992 hatte er den Lehrstuhl für
Soziologie an der Universität Bielefeld inne.
Inhaltsverzeichnis:
I. Die Gesellschaft als soziales System 11
II. Kommunikationsmedien 87
III. Evolution 181
IV. Differenzierung 235
V. Selbstbeschreibung 286
Vorwort von Dirk Baecker:
„Niklas Luhmann gehörte zu jenen Autoren, die sich weder
durch Bücher noch durch Vorträge beeindrucken ließen. Gleichgültig, ob
er las oder zuhörte, er stellte sich, abgesehen davon, dass er
gelungene Formulierungen zu schätzen wusste und auch gerne die eine
oder andere von ihnen in seinem Zettelkasten festhielt, immer nur eine
einzige Frage: Welches Problem wird hier wie gestellt und gelöst? Alle
anderen Aspekte eines Textes oder eines Vortrags interessierten ihn nur
unter den Gesichtspunkten der gelungenen Formulierung, der Fähigkeit,
einen Gedanken nicht nur zu denken, sondern auch durchzuhalten, und der
Frage, wie zeitraubend oder zeitersparend ein Autor sein Pensum
bewältigt.
Ich erwähne diese Haltung von Luhmann hier nur deswegen,
weil er sich dieselbe Haihing auch von den Lesern und Zuhörern seiner
eigenen Texte und Vorträge wünschte. Er wollte daraufhin gelesen
werden, welches Problem er stellt und mit welchen Mitteln er dieses
Problem löst. Dabei kam es ihm darauf an, mit jeder dieser
Problemstellungen nicht nur ein Problem zu lösen, sondern auch das
Denken davon zu entlasten, über unklare, weil unzureichend gestellte
Probleme nachzudenken. Wenn man ihm zuhörte, sollte man daher nicht nur
darauf achten, was er sagte, sondern auch darauf, was nicht mehr gesagt
zu werden brauchte, wenn man seinem Gedanken folgte.
Luhmann ging davon aus, dass man nur kommuniziert, wenn man
sich nicht auskennt. Seine Kommunikation in seinem kaum noch zu
überschauenden Gesamtwerk wie auch in seinen Vorträgen und Vorlesungen
sollte dazu beitragen, sich auszukennen und sich damit viel
Kommunikation zu ersparen. Das lief interessanterweise nie auf ein
Plädoyer für die Ersetzung der Kommunikation durch das Schweigen
hinaus, sondern verfolgte vielmehr die Absicht, Zeit zu gewinnen, um
über anderes, mit dem man sich noch nicht auskennt, kommunizieren zu
können.
Zwei Zugänge sind daher zu der hier vorgelegten letzten Vorlesung
Luhmanns, die er im Wintersemester 1992/1993 an der Universität
Bielefeld vor einem Publikum von vielleicht 150 Studenten gehalten hat,
besonders zu empfehlen. Der eine Zugang fragt danach, welche
Problemstellung Luhmann verfolgt und wie er mit ihr umgeht.
Und der andere Zugang fragt danach, worüber Luhmann wohl
kommunizieren würde, wenn die Fragen, die er in dieser Vorlesung
behandelt, mehr oder minder geklärt sind.
Luhmanns Problemstellung wird von ihm deutlich genug genannt. Es geht
ihm in dieser Vorlesung um die Einführung in eine Gesellschaftstheorie,
der es gelingt, die bisherigen Erkenntnisblockaden, die jeder Einsicht
in die Typik und Form der Gesellschaft im Wege stehen, zu überwinden.
Wie also, so fragt er, kann man die Annahmen hinter sich lassen, dass
die Gesellschaft aus Menschen besteht und dass sie im Wesentlichen
Regional- und nicht Weltgesellschaft ist? Und wie kommt man darüber
hinaus, innerhalb der Gesellschaft Subjekte und Objekte einander
gegenüberzustellen, Erstere überlastend und Letztere auf Abstand
haltend? Die um die Begriffe System, Sinn, Kommunikation, Form und
Medium kreisende Theorie Luhmanns will daran gemessen werden, ob es ihr
gelingt, auf diese Fragen mögliche Antworten zu entwickeln.
Luhmann selbst ist überaus skeptisch, ob ihm das gelungen
ist. Er wusste, dass die Massenmedien allemal schneller und
eindrucksvoller kommunizieren können, wenn es um die Orientierung in
der Gesellschaft geht. Und er wusste, dass die hochgradige
Beweglichkeit und Änderungsbereitschaft, mit der er an seine eigene
Theorie heranging, sie nicht gerade für Zwecke einer schulischen und
universitären Lehre auszeichnete. In dieser Hinsicht nahm er die
Konkurrenz mit den Massenmedien auf: Zwar wechselte er selten seine
Meinung, aber das Auswechseln der Gesichtspunkte bereitete ihm keine
Schwierigkeiten.
Worüber hätte Luhmann nachgedacht, geschrieben und
gesprochen, wenn die Fragen der Gesellschaftstheorie geklärt wären?
Womit hätte man nach seinem großen abschließenden Buch über Die
Gesellschaft der Gesellschaft (Suhrkamp 1997) rechnen dürfen, wenn er
nicht viel zu früh gestorben wäre? Auch darüber gibt seine letzte
Vorlesung Aufschluss. Am meisten beschäftigten ihn die beiden Fragen
der Individualisierung und Temporalisierung. Unter diesen beiden
Fragestellungen war die von ihm bewunderte Ordnung und Semantik
Alteuropas, ihre Ontologie und ihre Teleologie, ihr auf natürliche
Ruhepunkte abstellendes Seinsverständnis, wie er es in der zwölften
Vorlesung noch einmal beschreibt, zusammengebrochen. Man hatte die
Menschen als Individuen entdeckt, die sind, was sie sind, unabhängig
von Herkunft, Geburt und Stand, und die denken und fühlen, sehen und
schmecken, ohne dass ihnen die Gesellschaft mit Blick auf welche
Vernunft und welchen Geschmack auch immer Vorgaben machen könnte, die
nicht sofort wieder individuell, das heißt unkontrollierbar auf dem
Prüfstand stehen. Und man hatte, ein bis heute ungeklärter Unfall der
gesellschaftlichen Entwicklung, die alte Unterscheidung von Zeit
(tempus) und Ewigkeit (aeternitas), die Flüchtigkeit und Konstanz
auseinander zu halten erlaubte, durch die neue Unterscheidung von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ersetzt, die die Gegenwart nur
noch als Punkt der riskanten Auseinandersetzung mit einer unbekannten
Zukunft zu begreifen erlaubt. Seither haben wir es mit einer Moderne zu
tun, die die Individuen mit sich alleine lässt, während sie nur noch
daraus Ordnung gewinnt, dass niemand weiß, wie es um die Zukunft
bestellt ist.
Luhmanns Theorieverständnis lief darauf hinaus, für die Situation
dieser Moderne Navigationsmöglichkeiten bereitzustellen. An dieser
Vorlesung kann man darüber hinaus studieren, welchen Rückhalt an
konkreten empirischen Fragestellungen er immer zu suchen verstand, um
seiner Theorie ein hinreichendes Maß an Plausibilität zu geben. Wenn
man Luhmann fragte, an welcher Regel er sein eigenes Leben
orientierte, berief er sich auf seine Mutter, die ihm empfohlen hatte,
das, was er tat, gut zu machen. Wir würden ihm einen Gefallen tun, wenn
wir diese Vorlesung unter dem Gesichtspunkt prüfen würden, ob sie ihr
Problem gut gestellt und gut gelöst hat.
Wie schon bei der Transkription der vorletzten Vorlesung Luhmanns,
Einführung in die Systemtheorie aus dem Wintersemester 1991/1992 (1.
Aufl. 2002), habe ich mich auch im vorliegenden Fall bemüht, die
mündliche Diktion der Vorlesung in der schriftlichen Fassung
beizubehalten. Auch hier gilt wieder, dass der Text sicherlich nicht
Luhmanns Ansprüchen an eine Textfassung seiner Überlegungen genügt,
jedoch umso eher geeignet ist, in seine Überlegungen einzuführen. Die
zuweilen fast unfertig wirkenden Formulierungen zeigen umso
eindrucksvoller, welche Fragen er sich in welcher Form stellte, während
die fertigen Texte nur selten darum herumkommen, dieselben Fragen in
der Form möglicher Antworten zu präsentieren.
Alle Fußnoten und einige wenige Erläuterungen in Klammern im Text
stammen vom Herausgeber, weswegen ich darauf verzichtet habe, dies
jeweils im Einzelnen zu kennzeichnen. Ich habe auch darauf verzichtet,
jeweils anzugeben, welche Sachverhalte wo im schriftlichen Werk von
Luhmann ausführlicher behandelt werden als hier in der Vorlesung.
Generell empfiehlt es sich, mithilfe des Registers in Die Gesellschaft
der Gesellschaft das nachzuschlagen, woran ein besonderes Interesse
besteht. Meine Redaktion der Transkription orientiert sich eher an dem
Versuch, aus der Untugend der unfertigen mündlichen Formulierungen die
Tugend der Offenlegung möglicher Entscheidungen zu gewinnen, so oder
anders über einen Sachverhalt nachzudenken".
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