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Neuvorstellung zur Übersicht
07.07.2005
Niklas Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft
Luhmann Gesellschaft Hrsg. von Dirk Baecker

Carl-Auer Verlag Heidelberg 2005

333 Seiten

ISBN 389670477X

€ 29.95
Carl-Auer-Verlag





Tom Levold, Köln:

Die Lektüre Luhmanns ist ein Unterfangen, das bei manchen Menschen - wenn sie sich nicht aus Leidenschaft oder von Berufs wegen damit befassen - schnell Gefühle von Fremdheit und Überforderung auslösen kann. So berichtete mir kürzlich eine (Psychotherapie betreibende) Seminarteilnehmerin, dass sie ein Buch Luhmanns geschenkt bekommen, hinein geschaut und es gleich weiter verschenkt habe, da sie den Eindruck hatte, diese Art von Texten sei nichts für sie (Am Ende des Seminars gab sie übrigens die Rückmeldung, dass sie sich das Buch zurückholen wollte).
Aus solchem Erleben heraus meidet man dann entweder die weitere Auseinandersetzung mit Luhmann oder man greift zu einer Einführung in Luhmanns Werk durch andere Autoren. Das hohe Abstraktionsniveau, auf dem die zahlreichen Bücher Luhmanns verfasst sind, täuscht aber darüber hinweg, dass Luhmann seine Theorie durchaus auf höchst anregende und verständliche Weise zu vermitteln vermochte, insbesondere in seinen Vorträgen, Vorlesungen und Seminaren. Der Carl-Auer-Verlag hat sich darum verdient gemacht, nach den Vorlesungen zur „Einführung in die Systemtheorie“ nun auch die letzte Vorlesung des 1993 emeritierten Systemtheoretikers zur „Einführung in die Theorie der Gesellschaft“ in 13 Teilen zu veröffentlichen, ebenfalls unter der umsichtigen, sich nahe an die mündliche Vortragsform haltenden Redaktion des Herausgebers Dirk Baecker (vgl. sein Vorwort weiter unten).
Mit ihrer Gliederung (s.u.) stimmt die „Einführung in die Theorie der Gesellschaft“ schon recht genau mit der Gliederung des 1998, also fünf Jahre nach der Vorlesung erschienenen Hauptwerkes „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ überein. Aus diesem Grund wäre eigentlich eine Parallelbesprechung beider Bücher interessant, die aber an dieser Stelle nicht zu leisten ist und eher Gegenstand einer eigenständigen Arbeit sein sollte. Zumindest empfiehlt Dirk Baecker, anhand des weit ausführlicheren Registers das Hauptwerk zu Rate zu ziehen, um einzelne Fragen, die sich aus der Lektüre der Vorlesung ergeben, zu vertiefen. Hier liegt jedoch der Schwerpunkt eher auf der Frage des Zugangs zum Werke Luhmanns. Und die vorweggenommene Antwort lautet: Auf diese Weise kann Luhmann auch Systemtheorie-Novizen Vergnügen bereiten.
Die erste Vorlesung beginnt mit den Worten: „Die Absicht dieser Vorlesung ist leicht zu formulieren, aber schwer durchzuführen. Meine Idee ist es, dass man eine Theorie der modernen Gesellschaft haben müsste, und die Vorlesung ist ein Versuch, so etwas in Gang zu setzen“ (S. 11). Dies soll einerseits mit einer historischen Perspektive geschehen, aus der die moderne Gesellschaft mit älteren Gesellschaften verglichen werden kann, andererseits geht es Luhmann um den „Versuch, mit sehr abstrakten Theoriegrundlagen zu arbeiten und so Begrifflichkeiten einzuführen, die der Soziologie nicht ohne weiteres vertraut sind und die eher interdiszipliniäre Einzugsbereiche haben. Das läuft also, grob gesagt, unter dem Stichwort ‚Systemtheorie‘“ (12). Und: „Theoretische Abstraktion und historische Perspektive fordern sich somit wechselseitig. Das unterscheidet diese Vorlesung von dem, was Historiker mit natürlich sehr viel besserer Quellenkenntnis anbieten würden. Ich möchte versuchen, Theoriegrundlagen zu benutzen, um aus geschichtlichem Material herauszuziehen, was eventuell für einen Vergleich historischer Gesellschaften mit der modernen Gesellschaft interessant sein könnte“ (13).
Soweit das Programm. Die Durchführung folgt dann von Anfang an dem selbstgewählten Anspruch, in der Theoriearbeit eine Unterscheidung zu treffen, die zunächst immer als kontingent gedacht wird, also grundsätzlich auch anders ausfallen könnte, die dann aber durch ihren Vollzug auch zu einer Festlegung führt, die bestimmte Folgen hat. Mithilfe dieser kontingenten Unterscheidungen wird nun jedes Mal Fall für Fall festgelegt, was beobachtet und beschrieben werden kann und damit natürlich auch, was sich aufgrund der eigenen Theorieentscheidungen der Beobachtung entzieht - und unter Umständen erst im Nachhinein, wenn überhaupt, noch in die Theorie eingebaut werden kann. In einer „normalen“ wissenschaftlichen Monographie verschwindet nicht selten gerade dieser Konstruktionsaspekt der Theoriearbeit hinter dem ausformulierten Ergebnis, das sich in der Regel als schlüssig und zwangsläufig darstellen muss, um seinen Platz im wissenschaftlichen Diskurs als in sich abgeschlossenes Werk behaupten zu können.
Luhmann geht in seiner Vorlesung auf durchaus faszinierende Art und Weise einen anderen Weg. Er führt in der gesamten Anlage seiner Vorlesung den Aspekt der Reflexion der eigenen Theorieentscheidungen ständig mit und bemüht sich so um maximale „theoriebautechnische“ Transparenz. Auf diese Weise stellt er es dem Hörer (bzw. Leser) anheim, seinen Entscheidungen zu folgen oder nicht und Überlegungen anzustellen, welche Konsequenzen andere Theorieentscheidungen mit sich bringen würden, z.B. so:  „…zum anderen müsste hier deutlich werden, was man ausgrenzt, was man also, wenn man sich für Systemtheorie entscheidet, nicht sehen kann oder nicht an den ersten Platz der Theorie rückt. Da geht es dann einerseits um den Menschen, aber andererseits auch um normative Erwartungen, also um Vorstellungen, wie die Gesellschaft besser sein könnte. Das kann zwar alles nachher wieder eingeführt werden, aber im Aufbau der Theorie, wenn man es systemtheoretisch macht, ist das nicht die prominente Idee“ (15f.). Ein anderes Zitat, das diese methodische Vorgehensweise deutlich macht: „Wenn man das so theoretisch formuliert und sich nicht wirklich überlegt, dann ist das zunächst einmal ganz einleuchtend. Aber ich will einmal ein Beispiel bringen, um zu zeigen oder um die Entscheidung offen zu halten, ob Sie das mitmachen oder nicht“ (245).
Die von Luhmann immer wieder in seinem Werk gewählte Architekturmetapher wird hier ganz anschaulich vor seinem Publikum zelebriert. Er führt die Bausteine vor, zeigt sie von allen Seiten, erläutert, was man damit machen kann, was vielleicht auch nicht oder was auf keinen Fall geht, und baut sie zu einem komplexen Gebilde mit manchmal überraschenden, immer aber interessanten und anregenden Ergebnissen zusammen, während er gleichzeitig im Bewusstsein hält, dass das Ergebnis mit einem anderen Baumeister oder einem anderen Bauplan auch anders ausfallen könnte. Die Plausibilitätsentscheidung wird dem Hörer/Leser überlassen.
Zu Beginn wird noch einmal auf den Systembegriff eingegangen, ohne ihn in aller Breite auszufalten, was ja schon Gegenstand seiner bereits genannten Vorlesung zur „Einführung in die Systemtheorie“ ist. Dann geht es ausführlicher um den Begriff der Gesellschaft, die als globaler Gesamtzusammenhang von Kommunikation vorgestellt wird, d.h. alles was Kommunikation ist, lässt sich der Gesellschaft zurechnen. Auch die Kritik an der Gesellschaft ist demzufolge Kommunikation, sie kritisiert sozusagen von innen und ist daher zwangsläufig Teil der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, eine externe Beobachterposition wird verworfen und daher auch nicht selbst in Anspruch genommen. Aus dieser Perspektive lässt sich logischerweise auch nicht mehr sinnvoll von unterschiedlichen Gesellschaften reden, der Gesellschaftsbegriff ist nicht nationalisierbar oder regionalisierbar, sondern bezeichnet eine Singularität. Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern Menschen aus der Gesellschaft herausfallen können. Luhmann trägt - quasi aus der Werkstatt - an dieser Stelle vorläufige, später erst ausgearbeitete Überlegungen zur Inklusion und Exklusion von Menschen aus Kommunikationszusammenhängen vor, die mit der vorhandenen oder fehlenden Verfügbarkeit von Kommunikationsmedien (Geld, Sprache, Macht usw.) zutun haben, und die er an Beobachtungen aus Südamerika und Asien erläutert: „Wenn man kein Geld hat, kann man fast nichts anderes machen, ebenso, wenn man keinen Ausweis hat, wenn man keine Rechtsposition hat und so weiter. Die Familie wird illegal, die Ehe wird nicht registriert, die Kinder sind formal uneheliche Kinder und so weiter. Es scheint so zu sein, dass eine Tendenz besteht, den ausgeschlossenen Teil der Bevölkerung auf die körperliche Existenz zu reduzieren“ (80). Luhmann sieht in diesen Exklusionstendenzen ein  zunehmendes Problem der Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionssysteme, das mit den jeweiligen systemeigenen Mitteln nicht abgefangen werden kann. Aus diesem Grund bringt er den Gedanken ins Spiel, inwiefern die Differenz von Inklusion und Exklusion eine Art von Metacodierung oder „Superleitdifferenz“ der gegenwärtigen Gesellschaftsformation abgibt (277). Seine Zeitdiagnose erscheint damit viel pessimistischer als etwa noch vor 20 Jahren: „Diese Situation wird in der normalen Terminologie eher als Repression, Unterdrückung oder Ausbeutung beschrieben. Aber das sind Spätwirkungen eines marxistischen Ansatzes, während die Sachverhalte, wenn ich das richtig sehe, viel gravierender sind. Da ist nämlich nichts mehr auszubeuten. Von Repression kann auch keine Rede sein, sondern es ist einfach so - mit einer Gravität und einer Fatalität, die sich der Kalkulation von Oberschichten völlig entzieht. … (Die ausgeschlossenen Bevölkerungsteile) sind auch im Design des Marxismus keine Bevölkerung, die für eine Revolution in Betracht kommt. Sie können Unruhe, Gewalt erzeugen, aber sie können nicht die Verhältnisse ändern“ (276f.)
Auf knapp 100 Seiten erläutert Luhmann dann im zweiten Teil sein Konzept der Kommunikationsmedien auf eine sehr nachvollziehbare und verständliche Weise. Dabei geht in der vierten Vorlesung zunächst um die Sprache und in der fünften Vorlesung um die sogenannten Verbreitungsmedien Schrift, Buchdruck, Elektronische Medien „und damit auch um die Technologieabhängigkeit der Expansion von Kommunikation und damit der Expansion von Gesellschaft“ (87). Auf dieser Grundlage wird dann die Idee der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien entwickelt, die den „Erfolg unwahrscheinlicher Kommunikation wahrscheinlich machen“, indem sie potentiell endlose sprachliche Kommunikation gewissermaßen abkürzen und dafür Motive bereitstellen (Geld, Macht, Liebe, Wahrheit usw.), wobei die einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme sich jeweils spezifischer generalisierter Medien bedienen.
 Sprache ist für Luhmann deshalb zentral, weil nur bei Sprache „eine Art flüssiger Kontinuität gesichert ist“ (89), die als Voraussetzung fungiert, damit „die Autopoiesis der Gesellschaft in Gang kommt“. Nur im Falle von Sprache läge ganz eindeutig eine Trennung von Mitteilung und Information vor: „Wenn diese Unterscheidung nicht gemacht wird, sieht man nur Verhalten, eine Bewegung, eine Geste, eine interpretierbare Einstellung vielleicht, aber man sieht nicht etwas, was im Kontext von Kommunikation eine Reaktion nahe legt, eine Antwort erfordert oder eine Interpretation, eine Rückfrage und dergleichen motivieren kann“. Es wäre an dieser Stelle interessant zu überlegen, inwiefern wir es hier nicht mit einer theoretischen Engführung zu tun haben, die etwas mit der Theoriesystematik Luhmanns zu tun hat, nämlich mit seiner Trennung von Sinn über Sprache produzierenden (sozialen und psychischen) Systemen einerseits und biologischen Systemen andererseits. Körperlichkeit in diesem Modell ist ausschließlich eine Bezugsgröße, die psychische und soziale Systeme durch Wahrnehmung/Bewusstsein bzw. sprachliche Kommunikation als relevante Umwelt berücksichtigen müssen. Es lässt sich aber die Frage stellen, was sich ändern würde, wenn der Kommunikationsbegriff auch auf nonverbale, körperliche Kommunikation ausgedehnt würde. Zumindest vor dem Hintergrund der jüngeren empirischen Erforschung affektiver Kommunikationsprozesse wird deutlich, welches hohe Maß an Koordination und wechselseitiger Abstimmung im Mikrobereich sozialer Interaktion bereits ab der Geburt vorliegt, also lange vor der Phase des Spracherwerbes. Diesen Phänomenen das Attribut „sozial“ oder „Kommunikation“ vorzuenthalten, scheint mir fragwürdig zu sein. Ab wann wäre die Kommunikation zwischen Eltern und Kind Teil des sozialen Systems Familie, bis wann ausschließlich Verhalten? Luhmann erwähnt zwar kurz die Möglichkeiten nichtsprachlicher Kommunikation, aber eben nur als Alternative, als Substitut von Sprache, die schon verfügbar ist: „Eine Kultur der indirekten, nichtverbalen Kommunikation kann es so nur geben, wenn es Sprache gibt - in gewisser Weise als Ergänzung zur Sprache, denn wenn man die Fassbarkeit, die Beobachtbarkeit, die Rechenschaftspflicht von Sprache vermeiden will, benutzt man indirekte Kommunikation“ (112).
Die Darstellung der Verbreitungsmedien, bei der Luhmann wie auch sonst im Text mit historischen Detailkenntnissen brilliert, die er immer wieder - manchmal wie spielerisch - einstreut, verdeutlicht, dass differenzierte Gesellschaften erst möglich werden, wenn sie Möglichkeiten haben, Kommunikation von der Interaktion von Anwesenden (Sprache) abzukoppeln und situationsunabhängig zu stellen, nämlich durch externe Speicher wie Schrift, Buchdruck, Computer etc.
Der dritte Teil der Vorlesung ist der Evolution der Gesellschaft gewidmet, wobei auch hier am Anfang die Frage steht, wofür dieser Begriff taugen kann und was damit gerade ausgeschlossen werden soll (nämlich Schöpfungstheorien einerseits und Phasentheorien, die etwa in der Idee eines stetigen gesellschaftlichen Fortschritts zu finden sind, andererseits). Evolution soll Luhmann zufolge dabei nicht als Metapher gedacht werden, sondern als „allgemeine Form“ von Variation, Selektion und Stabilisierung von Systemen, auf die Darwin dann nur als erster präzise zugegriffen hat (188). Entscheidend für diese Konzeption ist die Vorstellung, dass sich das, was wir als Gesellschaft vorfinden, durch Zufall konstelliert und trotz aller Stabilisierungsbemühungen nicht planmäßig unter Kontrolle zu bekommen ist: „Planung ist ein Faktor in der Evolution, der Zufallseffekte, das heißt nicht vorgesehene, unkoordinierte Effekte hat und insofern wieder in die Evolution wieder hineinwirkt“ (191). Aus diesem Grund ist auch mit sprunghaften Veränderungen zu rechnen, und nicht unbedingt immer mit dem wünschenswerten, „d.h. Planung ist nicht gleichbedeutend mit evolutionärer Selektion. Das System akzeptiert, geplant zu werden, wehrt sich in gewisser Weise jedoch auf eigene Art auch dagegen, lässt die Dinge entgleisen, lässt die Leute im nächsten Moment ihre Pläne wieder umwerfen, erzeugt aus erfüllten Erwartungen Enttäuschungen und und“ (ebd.). Aus diesem Grund setzt sich Luhmann auch so vehement von normativen Gesellschaftstheorien ab, die sich mit der Frage beschäftigen, wie Gesellschaft sein sollte und zu gestalten wäre und damit dem gesellschaftlichen Wandel eine potentielle Rationalität (im Sinne eines Richtigen oder Besseren) unterstellen, die Luhmann nirgendwo erkennen kann.
Vor dem Hintergrund dieser Entfaltung des Evolutionsbegriffs skizziert Luhmann relativ knapp seine Theorie der Differenzierung der Gesellschaft in die verschiedenen Funktionssysteme, die zunächst auch über Zufälle zustande kommt: „Ein Zufall entwickelt sich über Abweichungsverstärkung zu einer Differenzierungsstruktur, ohne dass sich die Gesellschaft am Anfang schon im Kopf, in der Planung oder auf eine verantwortungsfähige Weise umstellt auf: ‚Hier, wir sind nicht mehr Nomaden, sondern wir sind Siedler‘. Das hat auch evolutionstheoretisch erhebliche Vorteile, weil man jetzt die Vorgaben, die man braucht, um zu begründen, weshalb es dazu kommen kann, klein halten kann. Es muss natürlich irgendwo Wasser fließen, sonst könnte man da nicht siedeln, und es müssen, wenn der Zufall eintritt, dazu passende andere Ursachen eine Rolle spielen. Es ist also nicht eine Theorie der Beliebigkeit. Aber das Interessante ist, dass von dieser Spontangenese oder Zufallsgenese von Ordnung her gesehen die Prämissen der Ordnung in der Umwelt liegen und das System sich selber strukturiert“ (243).
Die - nicht unproblematische - Bestimmung dessen, was überhaupt als gesellschaftliches Funktionssystem gelten darf und was nicht, kommt in diesem Zusammenhang etwas kurz, vor allem die Frage, wie man die jeweiligen kommunikativen Operationen eindeutig einem bestimmten Funktionssystem zuschlagen kann. Luhmann postuliert für jedes Funktionssystem einen spezifischen „binären Code“, mit Hilfe dessen geregelt werden kann, welche Operationen im System anschlußfähig werden (der so genannte Positiv-Wert, z.B. Geld-Zahlungen in der Wirtschaft) und welche vom System abgelehnt werden (Negativ- oder Reflexionswert; z.B. unbezahlte Liebesdienste). Die These der binären Codierung von Funktionssystemen (z.B. wahr/unwahr für das Wissenschaftssystem) besagt entsprechend umgekehrt, dass alle Kommunikationen, die mit einem spezifischen binären Code beschrieben werden können, dem jeweiligen Funktionssystem (hier also Wissenschaft) zugerechnet werden müssen, während andere Codierungen (Liebe/Nich-Liebe oder Macht/Unterwerfung) anderen Funktionssystemen zugehören. Komplexe Kommunikationsstrukturen haben also Anschluss an unterschiedliche Funktionssysteme, ohne dass diese selbst aufeinander direkt zugreifen könnten.
Diese These ist auf den ersten Blick faszinierend, hat aber ihre Tücken. Da der binäre Code erforderlich ist, um Anschlussfähigkeit oder Ablehnung im Funktionssystem sicherzustellen, kann es nur ein einziges zweiwertiges Schema geben: verschiedene Codes sind nicht zugelassen. Nun erhebt sich sofort die Frage, ob die von Luhmann postulierten Codes wirklich die einzig möglichen sind oder ob nicht auch Alternativen denkbar wären. Luhmann zitiert ausführlich eine Kritik von Knorr-Cetina, für die der Eindruck entscheidend sei, „dass in der konkreten Realität beispielsweise des Forschungshandelns die Werte wahr/unwahr gar nicht vorkommen, gar nicht zitiert werden, sondern Gesichtspunkte wie Reputation, Selbstbehauptung, Sich-auf-einem-Publikationsmarkt-durchsetzen, Karriere und dergleichen dominant sind“ (272). Er geht aber nicht wirklich im Einzelnen auf diese Kritik ein, sondern verharrt auf seiner Feststellung, dass es dann eben um die Zuordnung zu unterschiedlichen Funktionssystemen gehe. Mir scheint die Beantwortung der Frage, welche Codierungen denn in Funktionssystemen benutzt werden, in erster Linie eine empirische Aufgabe zu sein, die eine genauere Untersuchung der Verwendung spezifischer Codes in der Praxis der Funktionssysteme erfordert. Solche Untersuchungen hat Luhmann aber wohl nicht durchgeführt. Und, wie sich zeigt, regt sich hier auch Protest aus den Reflexionswissenschaften einiger Funktionssysteme, wie zwei (in systemagazin besprochene) Sammelbände zur Rezeption Luhmanns zeigen.
Der letzte Abschnitt mit den Vorlesungen 12 und 13 ist der Selbstbeschreibung der Gesellschaft gewidmet. Den Begriff der Beschreibung grenzt der von dem der Beobachtung folgendermaßen ab: „Unter einer ‚Beschreibung‘ verstehe ich im Unterschied zu einer bloßen ‚Beobachtung‘ etwas, was nicht nur im Moment geschieht, sondern was zum Beispiel in einem weiten Sinne zu einem Text wird, oder eine Identität produziert, die auch in anderen Zusammenhängen wiederverwendet werden kann“ (286). Die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft sind aus dieser Perspektive nicht unabhängig von der Struktur der Gesellschaft, sondern „es bestehen Zusammenhänge zwischen dem, was jeweils plausibel gemacht werden kann und evident ist, einerseits und den Sozialstrukturen, vor allem den Differenzierungsformen, andererseits“ (20). Die zahlreichen wissenssoziologischen Studien Luhmanns zum Themenkomplex „Gesellschaftsstruktur und Semantik“ zielen darauf ab, diese Zusammenhänge herauszuarbeiten. In der Vorlesung geht es ihm zunächst darum, die „alteuropäischen Traditionen“, Gesellschaft zu denken, zu skizzieren und zu verdeutlichen, dass sie nicht mehr für eine Beschreibung der modernen Gesellschaft taugen. Gleichzeitig zeigt er auf, dass es grundsätzliche Unterscheidungen in dieser klassischen Perspektive gibt (die Unterscheidung von Ganzem und Teil, von Oben und Unten sowie von Zweck und Mittel), die auch heute immer noch in verschiedenen Zusammenhängen benutzt werden, obwohl  
sie ihm für die heutige Situation nicht mehr angemessen erscheinen.
Allerdings macht er im Schlusskapitel auch deutlich, dass es noch lange keine „definitive Selbstbeschreibung der modern Gesellschaft“ gibt. Allenfalls haben wir es mit einer „Übergangssemantik“ zu tun, einer „transitorische(n) Semantik, die auf den Umstand reagiert, dass man schon nicht mehr in der alten Welt ist, also die alten Ordnungsbegriffe nicht mehr brauchen kann, aber noch nicht weiß, in welcher Gesellschaft man jetzt lebt“ (310). Die Frage stellt sich, ob mit einer solchen Beschreibung angesichts der Tatsache, dass die Gesellschaft aufgrund der technisch bedingten explodierenden globalen Kommunikation „in Echtzeit“ zunehmend in eine mediale Resonanzkatastrophe hineinschliddert, überhaupt gerechnet werden kann. Jedenfalls stellt Luhmann fest, dass die Semantik der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung in verschiedene Teile zerfällt, also nur im Plural zu verwenden ist. Ob und inwiefern diese Selbstbeschreibungen füreinander anschlussfähig sind oder werden können, muss dahingestellt bleiben. Luhmann formuliert zum Schluss optimistisch: „Die Idee ist, … eine Verschränkung von großenteils vorhandenem Wissen zu erreichen und in eine Gesellschaftstheorie zu überführen, und ich denke, der Rückblick auf die semantische Tradition hat wenigstens andeutungsweise gezeigt, dass man damit in alle Bereiche der historischen, literarischen Erinnerungen und der aktuellen Diskussionen hineingreifen kann. Ob die Antwort befriedigt, ist dann eine zweite Frage. Aber man kann nicht sagen, dass eine Gesellschaftstheorie heute nicht möglich ist. Ob sie adäquat ist und ob alle Engagements und Bedürfnisse und alle Borniertheit und Einseitigkeit und alle moralischen Emphasen, alles Sichausliefern an ein Gefühl der Hilflosigkeit, alle emotionalen und voluntativen Komponenten eingebaut werden können, wird man bezweifeln müssen, aber zunächst einmal würde eine Sprachregelung erreicht werden, so dass aus dem Standpunkt einer Gesellschaftstheorie heraus solche Phänomene beschrieben werden können“ (331).
Dies alles ist in der „Gesellschaft der Gesellschaft“ genauer, anspruchsvoller und umfangreicher ausgearbeitet, deren Lektüre aber auch weitaus voraussetzungsreicher ist. In der hier vorliegenden Vorlesung erlebt man Luhmann gewissermaßen nachträglich „live“. Schon die „Einführung in die Systemtheorie“, deren Gegenstand ja um einiges abstrakter ist als der seiner Gesellschaftstheorie, beeindruckt durch ihren geschliffenen, freien Vortrag, der immer elegant, ironisch und souverän daherkommt. Im vorliegenden Band wirkt Luhmann hier noch abgeklärter und entspannter, stärker im Kontakt mit dem Publikum und absolut transparent im Hinblick auf seine eigenen Theorieentscheidungen, eine wunderbare Einladung, ihm bei der Entfaltung seiner Argumentation zuzuschauen. Die Vielzahl eingestreuter Belege ist zwar höchst selektiv, Luhmann spricht selbst von „schwacher Deckung in der Empirie“ (177), aber es geht ihm auch nicht um eine historisierende, zusammenhängende Darstellung der Gesellschaftsgeschichte, sondern, wie oben zitiert, um die wechselseitige Befruchtung von theoretischer Abstraktion und historischer Perspektive zu theoretischen Vergleichszwecken. Dies geschieht immer anregend, oft vergnüglich, nie langweilig. Auch wenn Luhmann selbst seinen Ansatz als zirkulär und nicht linear beschreibt, also eher als ein Netzwerk der Begriffe, die alle aufeinander verweisen und daher auch beliebige Einstiegspunkte für eine Rezeption bieten, hat die Vorlesung manchmal auch fast narrativ anmutende Sequenzen, die sich aus dem freien Vortrag ergeben.
Wer nicht nur in (der) Gesellschaft sein will, sondern sich auch - gerade in der aktuellen globalen Krise - Gedanken über die Art ihrer Verfasstheit machen will, sollte sich mit diesem Buch befassen. Und wer die Lektüre Luhmanns bislang gescheut hat, könnte seine Scheu dabei verlieren.



Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:

Ein weiteres Mal hat Carl Auer das Transkript einer Vorlesungsreihe von Niklas Luhmann publiziert, wieder von Dirk Baecker herausgegeben, mit einem anregenden Vorwort versehen und mit Literaturhinweisen ergänzt. Es handelt sich um die letzte, von Luhmann im Wintersemester 1992/93 gehaltene Vorlesung. Sie bietet einen Einstieg in seine Theorie der Gesellschaft, die er konsequent aus einer systemtheoretischen Sicht ableitet. Gesellschaft definiert Luhmann als ein soziales System, das sich mit Hilfe von Kommunikation, seiner kennzeichnenden Operation, fortwährend selbst erschafft. Das ist spannend und hat Konsequenzen: „Die Spezialität dieser Vorlesung ist das Problem eines Systems, das alle sozialen Kommunikationen einschließt, aber alles andere auch ausschließt“, heißt es (S.23). Und schon ist zu fragen: „Was ist nicht gemeint, wenn von Kommunikation die Rede ist?“ und die im Zusammenhang mit der Luhmann-Diskussion immer wieder schärfste Frage ist dann die nach „dem Menschen“. Und schon wieder eine Unterscheidung: Während Luhmann „den Menschen“ ausschließt aus dem Bereich, der sich durch Kommunikation kennzeichnet, schließt er die Möglichkeit eines konkreten, benannten Menschen wie der ein: „Die Systemtheorie hat keine Schwierigkeiten, irgendeinen Menschen zum Ausgangspunkt zu nehmen, zum Beispiel mich – und alles andere ist dann Umwelt (...) Aber es muss immer ein konkretes System sein. Denn wenn man von „dem“ Menschen spricht, weiß man gar nicht, was gemeint ist, wenn man systemtheoretisch denkt“ (S.51). Immer wieder wird deutlich: „Die Wahl einer Systemreferenz hat Konsequenzen!“ (S.52), vielleicht auch die: „Wenn wir auf die Differenz abstellen, ist es nicht so tragisch, wenn wir sagen, der Mensch gehört zur Umwelt der Gesellschaft. Es ist damit weder bestritten, dass es Menschen gibt, noch ist damit gesagt, dass er für die Gesellschaft bedeutungslos sei. Es ist nur gesagt, dass das, was ein Mensch für eine bestimmte Gesellschaft bedeutet, sich über Kommunikation bemerkbar machen muss“ (S.60). Und während man als Leser noch staunt über die Nonchalance und Überzeugungskraft des Arguments, erwischt einen die Bemerkung: „Wenn Sie sich das sorgfältig überlegen, bin ich fast sicher, dass Sie sich außerhalb der Gesellschaft wohler fühlen als innerhalb der Gesellschaft“ (S.60f.).
So geht das die ganze Zeit. Eins greift ins andere. Luhmann diskutiert das unter den Überschriften „Die Gesellschaft als soziales System“, „Kommunikationsmedien“, „Evolution“, „Differenzierung“ und „Selbstbeschreibung“. Die damit verbundene Einladung, sich die „für die Gesellschaft selber unfassbare Komplexität als Ausgangspunkt“ zu verdeutlichen, könnte allzu leicht überfordern, wird jedoch abgefedert durch die ebenso unaufgeregte wie humorvolle Weise, in der Luhmann das entstehende Gedankenlabyrinth kommentiert. Souverän: Luhmanns Sprache, und immer wieder der Bezug zum Alltagsleben, und sei es Bielefeld, dieser Mikrokosmos, schade, dass der Ort nicht im Register auftaucht (die Welt: ein biele Feld...). Die Lektüre hat mich manchmal in eine Art tranceartige Neugier hineingezogen, wie das denn nun wohl weiter geht, wie das wohl Sinn macht. Es ist dabei nicht so sehr die (vermutliche) Illusion eines anhaltenden Wissensgewinns, der mir das Buch so spannend machte, sondern die teilweise mitreißende Vorstellung, Zeuge zu sein, wie jemand vor Komplexität nicht kapituliert, sondern sich ihrer in Annäherungen vergewissert. Wie jemand sich durch einen Kosmos von Möglichkeiten und Querverbindungen hindurchfindet, immer wieder auch die Vorläufigkeit des Gedachten mit einbezieht: ein Vorbild für den konstruktiven Umgang mit Kontingenz. Das ausgebreitete Multiversum ist stupend, erträglich gemacht durch den Respekt, der sich einstellt angesichts der selbstbewussten Bescheidenheit, mit der Luhmann sich als einen Vorantastenden kenntlich macht, der sich der Vorläufigkeit seiner Schlussfolgerungen bewusst ist.

(veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von systhema)





Verlagsinfo:

"Mit seiner letzten Vorlesung an der Universität Bielefeld verfolgte Niklas Luhmann das Ziel, der modernen Gesellschaft eine Theorie zur Verfügung zu stellen, die ihr neue Spielräume und "Navigationsmöglichkeiten" eröffnet. Durch Rückblenden auf ältere Gesellschaften, ihre Strukturen und ihre Denkweise, arbeitet er heraus, worin sich die moderne Gesellschaft von allen bisherigen unterscheidet. Parallel dazu beschreibt  Luhmann  die heutige Gesellschaft mit Hilfe von Begriffen, die der Soziologie bis dahin eher fremd waren. Sie stammen vornehmlich aus der Systemtheorie, aber auch aus der Biologie, der Kybernetik oder der Kommunikations- und Informationstheorie.
 Luhmann richtet seine Theorie an konkreten empirischen Phänomenen aus - internationale Finanzmärkte, Politik, Sprache, moderne Kommunikationsmedien u.a. - und macht sie dadurch gut nachvollziehbar. Im Verlauf der Vorlesung gelingt es ihm, bestehende Erkenntnis- und Denkblockaden aufzulösen und den Blick auf den Charakter und die Form der gegenwärtigen Gesellschaft freizumachen."


Niklas Luhmann:

Niklas Luhmann (1927-1998) zählt zu den bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts und überraschte immer wieder auch durch Stellungnahmen zu zeittypischen Phänomenen. Von 1968 bis 1992 hatte er den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Bielefeld inne.


Inhaltsverzeichnis:

I. Die Gesellschaft als soziales System 11
II. Kommunikationsmedien 87
III. Evolution 181
IV. Differenzierung 235
V. Selbstbeschreibung 286


Vorwort von Dirk Baecker:

„Niklas Luhmann  gehörte zu jenen Autoren, die sich weder durch Bücher noch durch Vorträge beeindrucken ließen. Gleichgültig, ob er las oder zuhörte, er stellte sich, abgesehen davon, dass er gelungene Formulierungen zu schätzen wusste und auch gerne die eine oder andere von ihnen in seinem Zettelkasten festhielt, immer nur eine einzige Frage: Welches Problem wird hier wie gestellt und gelöst? Alle anderen Aspekte eines Textes oder eines Vortrags interessierten ihn nur unter den Gesichtspunkten der gelungenen Formulierung, der Fähigkeit, einen Gedanken nicht nur zu denken, sondern auch durchzuhalten, und der Frage, wie zeitraubend oder zeitersparend ein Autor sein Pensum bewältigt.
Ich erwähne diese Haltung von  Luhmann  hier nur deswegen, weil er sich dieselbe Haihing auch von den Lesern und Zuhörern seiner eigenen Texte und Vorträge wünschte. Er wollte daraufhin gelesen werden, welches Problem er stellt und mit welchen Mitteln er dieses Problem löst. Dabei kam es ihm darauf an, mit jeder dieser Problemstellungen nicht nur ein Problem zu lösen, sondern auch das Denken davon zu entlasten, über unklare, weil unzureichend gestellte Probleme nachzudenken. Wenn man ihm zuhörte, sollte man daher nicht nur darauf achten, was er sagte, sondern auch darauf, was nicht mehr gesagt zu werden brauchte, wenn man seinem Gedanken folgte.  Luhmann  ging davon aus, dass man nur kommuniziert, wenn man sich nicht auskennt. Seine Kommunikation in seinem kaum noch zu überschauenden Gesamtwerk wie auch in seinen Vorträgen und Vorlesungen sollte dazu beitragen, sich auszukennen und sich damit viel Kommunikation zu ersparen. Das lief interessanterweise nie auf ein Plädoyer für die Ersetzung der Kommunikation durch das Schweigen hinaus, sondern verfolgte vielmehr die Absicht, Zeit zu gewinnen, um über anderes, mit dem man sich noch nicht auskennt, kommunizieren zu können.
Zwei Zugänge sind daher zu der hier vorgelegten letzten Vorlesung Luhmanns, die er im Wintersemester 1992/1993 an der Universität Bielefeld vor einem Publikum von vielleicht 150 Studenten gehalten hat, besonders zu empfehlen. Der eine Zugang fragt danach, welche Problemstellung  Luhmann  verfolgt und wie er mit ihr umgeht. Und der andere Zugang fragt danach, worüber  Luhmann  wohl kommunizieren würde, wenn die Fragen, die er in dieser Vorlesung behandelt, mehr oder minder geklärt sind.
Luhmanns Problemstellung wird von ihm deutlich genug genannt. Es geht ihm in dieser Vorlesung um die Einführung in eine Gesellschaftstheorie, der es gelingt, die bisherigen Erkenntnisblockaden, die jeder Einsicht in die Typik und Form der Gesellschaft im Wege stehen, zu überwinden. Wie also, so fragt er, kann man die Annahmen hinter sich lassen, dass die Gesellschaft aus Menschen besteht und dass sie im Wesentlichen Regional- und nicht Weltgesellschaft ist? Und wie kommt man darüber hinaus, innerhalb der Gesellschaft Subjekte und Objekte einander gegenüberzustellen, Erstere überlastend und Letztere auf Abstand haltend? Die um die Begriffe System, Sinn, Kommunikation, Form und Medium kreisende Theorie Luhmanns will daran gemessen werden, ob es ihr gelingt, auf diese Fragen mögliche Antworten zu entwickeln.  Luhmann  selbst ist überaus skeptisch, ob ihm das gelungen ist. Er wusste, dass die Massenmedien allemal schneller und eindrucksvoller kommunizieren können, wenn es um die Orientierung in der Gesellschaft geht. Und er wusste, dass die hochgradige Beweglichkeit und Änderungsbereitschaft, mit der er an seine eigene Theorie heranging, sie nicht gerade für Zwecke einer schulischen und universitären Lehre auszeichnete. In dieser Hinsicht nahm er die Konkurrenz mit den Massenmedien auf: Zwar wechselte er selten seine Meinung, aber das Auswechseln der Gesichtspunkte bereitete ihm keine Schwierigkeiten.
Worüber hätte  Luhmann  nachgedacht, geschrieben und gesprochen, wenn die Fragen der Gesellschaftstheorie geklärt wären? Womit hätte man nach seinem großen abschließenden Buch über Die Gesellschaft der Gesellschaft (Suhrkamp 1997) rechnen dürfen, wenn er nicht viel zu früh gestorben wäre? Auch darüber gibt seine letzte Vorlesung Aufschluss. Am meisten beschäftigten ihn die beiden Fragen der Individualisierung und Temporalisierung. Unter diesen beiden Fragestellungen war die von ihm bewunderte Ordnung und Semantik Alteuropas, ihre Ontologie und ihre Teleologie, ihr auf natürliche Ruhepunkte abstellendes Seinsverständnis, wie er es in der zwölften Vorlesung noch einmal beschreibt, zusammengebrochen. Man hatte die Menschen als Individuen entdeckt, die sind, was sie sind, unabhängig von Herkunft, Geburt und Stand, und die denken und fühlen, sehen und schmecken, ohne dass ihnen die Gesellschaft mit Blick auf welche Vernunft und welchen Geschmack auch immer Vorgaben machen könnte, die nicht sofort wieder individuell, das heißt unkontrollierbar auf dem Prüfstand stehen. Und man hatte, ein bis heute ungeklärter Unfall der gesellschaftlichen Entwicklung, die alte Unterscheidung von Zeit (tempus) und Ewigkeit (aeternitas), die Flüchtigkeit und Konstanz auseinander zu halten erlaubte, durch die neue Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ersetzt, die die Gegenwart nur noch als Punkt der riskanten Auseinandersetzung mit einer unbekannten Zukunft zu begreifen erlaubt. Seither haben wir es mit einer Moderne zu tun, die die Individuen mit sich alleine lässt, während sie nur noch daraus Ordnung gewinnt, dass niemand weiß, wie es um die Zukunft bestellt ist.
Luhmanns Theorieverständnis lief darauf hinaus, für die Situation dieser Moderne Navigationsmöglichkeiten bereitzustellen. An dieser Vorlesung kann man darüber hinaus studieren, welchen Rückhalt an konkreten empirischen Fragestellungen er immer zu suchen verstand, um seiner Theorie ein hinreichendes Maß an Plausibilität zu geben. Wenn man  Luhmann  fragte, an welcher Regel er sein eigenes Leben orientierte, berief er sich auf seine Mutter, die ihm empfohlen hatte, das, was er tat, gut zu machen. Wir würden ihm einen Gefallen tun, wenn wir diese Vorlesung unter dem Gesichtspunkt prüfen würden, ob sie ihr Problem gut gestellt und gut gelöst hat.
Wie schon bei der Transkription der vorletzten Vorlesung Luhmanns, Einführung in die Systemtheorie aus dem Wintersemester 1991/1992 (1. Aufl. 2002), habe ich mich auch im vorliegenden Fall bemüht, die mündliche Diktion der Vorlesung in der schriftlichen Fassung beizubehalten. Auch hier gilt wieder, dass der Text sicherlich nicht Luhmanns Ansprüchen an eine Textfassung seiner Überlegungen genügt, jedoch umso eher geeignet ist, in seine Überlegungen einzuführen. Die zuweilen fast unfertig wirkenden Formulierungen zeigen umso eindrucksvoller, welche Fragen er sich in welcher Form stellte, während die fertigen Texte nur selten darum herumkommen, dieselben Fragen in der Form möglicher Antworten zu präsentieren.
Alle Fußnoten und einige wenige Erläuterungen in Klammern im Text stammen vom Herausgeber, weswegen ich darauf verzichtet habe, dies jeweils im Einzelnen zu kennzeichnen. Ich habe auch darauf verzichtet, jeweils anzugeben, welche Sachverhalte wo im schriftlichen Werk von  Luhmann ausführlicher behandelt werden als hier in der Vorlesung. Generell empfiehlt es sich, mithilfe des Registers in Die Gesellschaft der Gesellschaft das nachzuschlagen, woran ein besonderes Interesse besteht. Meine Redaktion der Transkription orientiert sich eher an dem Versuch, aus der Untugend der unfertigen mündlichen Formulierungen die Tugend der Offenlegung möglicher Entscheidungen zu gewinnen, so oder anders über einen Sachverhalt nachzudenken".



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