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07.07.2005
Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft
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Surhrkamp Verlag - Juni 2002
Hrsg. von André Kieserling
362 S. - stw 407
ISBN: 3518291815
Preis: 12,00 € |
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Suhrkamp-Verlag
Günther Emlein, Mainz: Chiffren der Kontingenz
Posthum ist Luhmanns Religion der Gesellschaft erschienen. André
Kieserling hat Luhmanns Manuskript aus dem Jahr 1997 durch die dabei
liegenden handschriftlichen Notizen auf den neuesten Stand gebracht und
die Literaturangaben ebenso. Und doch: Das Werk liest sich nicht als
halbfertig. In ausführlichen Bögen schreitet Luhmann zentrale Begriffe
der Beschreibung der funktionalen Systeme der Gesellschaft ab und
wendet sie auf das Phänomen der Religion an. Dass Systemiker und
Systemtheoretiker Systeme sehen, ist einerseits selbstverständlich –
was sollten solche Beobachter auch sonst sehen. Aber es prickelt, wenn
man die Unterscheidung System/Umwelt, oder allgemeiner gesprochen: den
differenztheoretischen Ansatz auf Religion anwendet.
Denn mit Religion ist es nicht so einfach. Sie nimmt ja in Anspruch, es
mit einem „Jenseits“ zur Welt zu tun zu haben. Sie wird also nicht
einfach in irdische Beschreibungen eingepasst werden können. Schon
allein dies macht Religion andererseits interessant für Systemtheorie
wie vergleichbar die Kunst oder das Spiel, zwei andere Phänomene, die
sich nicht leicht fassen lassen. In gewisser Weise ist der
systemtheoretische Blick auf Religion ein Härtetest: Taugen auch hier
die von der Theorie bereit gehaltenen Instrumente?
Religion wird auf diese Weise allerdings dem Vergleich ausgesetzt.
Möglich ist dies, seit die europäische Gesellschaft sich umgestellt hat
von einer stratifikatorischen zu einer primär funktional
differenzierten Gesellschaft. Seither kann man Religion „von außen“
beobachten. Aber genau dies trägt zu den Bauchschmerzen bei, die
Religion mit dieser Gesellschaft hat und dann auch mit der
Systemtheorie: Sie kann von außen betrachtet werden, von einem
nichtreligiösen Standpunkt aus, sozusagen von einem asketischen. Wir
bekommen mit der Religion der Gesellschaft einen Blick von außen auf
Religion. Wie schwer der Religion diese ihre Position „polykontextural“
relativierende Entwicklung fällt, können wir den immer wieder
reklamierten Allmachtsansprüchen oder Alldefinitionsansprüchen von
religiösen Gruppen entnehmen. Mit Polykontexturalität (jenem von
Luhmann in die Systemtheorie eingeführten Begriff Gotthard Günthers)
kommt Kontingenz ins Spiel, welche vorher (manchmal nur mühsam und mit
Hilfe des Scheiterhaufens) verdeckt gehalten worden ist zugunsten eines
Macht implizierenden Abschlussgedankens darüber, wie die Welt „ist“.
Nun „ist“ sie nicht mehr, sondern sie sieht je nach Blickwinkel so oder
anders aus – und die „Welt selbst“ verschwindet dahinter. Dass die
„Welt selbst“ unsichtbar wird, ist andererseits selbst beunruhigend.
Der Gegenhalt aller beschränkten Beobachtung – das „Ganze“, das doch
die Welt zusammenhalten soll – verliert sich…
Das ist beunruhigend! Wenn wir nur Perspektiven, Sichtweisen haben: Was
ist dann mit der „Welt selbst“? Wenn diese Perspektiven nur aus
Unterscheidungen, als Gerinnseln des Mediums Sinn bestehen, was ist
dann der Sinn von Sinn? Und wer oder was garantiert uns diesen Sinn, wo
alles ins Rutschen zu kommen scheint?
Damit sind wir bei Religion. Luhmanns These ist, dass Religion sich
(und mit diesem Thema als Kernthema als einziges funktionales System)
genau dieser Frage widmet. Während andere Funktionssysteme das Thema
unweigerlich berühren, weil auch sie nicht um Kontingenz herumkommen,
sucht Religion sich nicht einfach damit abzufinden, sondern will
Lösungen anbieten.
Selbst verschuldet (das ist nicht böswillig gemeint): Religion sprach
immer von „etwas anderem“ und hat auf diese Weise Realität definiert
als diesseits der Grenze zu jenem anderen. Wenn Knochen nicht nur
Knochen sind, sondern „etwas anderes“ (zum Beispiel als Reliquien)
bedeuten, was macht einen dann so sicher, dass weitere Knochen nur
Knochen sind und nichts anderes als das? Kaum definiert, beginnt die
Grenze zu schillern. Denn wenn die Grenze nicht selbstredend ist,
sondern von jemandem gezogen, so könnte sie ja jemand anderes anders
ziehen. Damit läuft unweigerlich in jeder religiösen Unterscheidung
Kontingenz mit und diese Kontingenz unterläuft alle Gewissheit. In
einer stratifikatorischen Gesellschaft kann Religion das Monopol dieser
besonderen Form der Beobachtung als Beobachtung erster Ordnung
aufrechterhalten und dem Kontingenzproblem ausweichen, obwohl sie
selbst für die „Zweitsicht“ steht. In der funktional differenzierten
Gesellschaft, die nun Mehrfachsichten zu ihrem Strukturprinzip gemacht
hat, geht die Kontrolle nicht mehr. Es stehen mehrere Sichten
nebeneinander ohne Priorität. Alles kann beobachtet werden. Küngs
Weltethos und Habermas’ Plädoyer für universal gültige Normen der
Vernunft waren vielleicht die letzten Versuche (Der Moral „letztes
Gefecht“?), eine von allen geteilte oder zu teilende Klammer zu
schaffen; aber Alterität (Zweitsicht) hat sich gesellschaftsweit
etabliert als Polykontexturalität. Jetzt frisst die Evolution ihr
Kinder: Religion kommt am schwersten klar damit, denn sie selbst gerät
in die Diskussion, weil sie nicht mehr verhindern kann, dass sie
beobachtet wird.
Das Rad zurück zu drehen hilft nur fürs Erste. Wenden wir uns also
Luhmanns Thesen zu mit der Frage, ob soziologische Systemtheorie, auch
wenn (oder: gerade weil) sie von außen auf Religion blickt, über die
bisherige Diskussion hinaus führende Ideen bereithält.
Damit Religion sich erkennen kann, muss sie Kriterien haben, um sich
von anderem zu unterscheiden. Woran erkennt sie sich selbst? Woran
macht sie fest, dass das, was sie an sich selbst beobachtet, als
Religion gelten soll? Mit dieser zentralen Frage beginnt Luhmann seine
Auseinandersetzung mit dem Thema. Ich wittere Ironie: In einer
polykontexturalen Gesellschaft muss Religion seine Identität
definieren, wo dies in der stratifikatorischen Gesellschaft nicht nötig
war, weil es keine Alternative zur Religion gab. Wenn sie jetzt wissen
will, wer oder was sie ist, muss sie sich unterscheiden können. Die
Ironie: Identität geht nicht ohne Differenz. Die harmlose Frage bringt
Religion von Anfang an in Verlegenheit. Wenn Einheiten nur noch durch
Unterscheidungen (sensu Spencer-Brown) herzustellen sind, bricht die
Ontologie, auf der Religion vielfach beruht, unrettbar zusammen. Dieser
Umstand wird vielfach dann als Krise der Religion wahrgenommen. Ob ihr
das behagt oder nicht (meistens nicht), Religion sabotiert allein
dadurch, dass sie sich definieren muss, ihre traditionellen Grundlagen,
denn jede Definition (als „Ab-Grenzung“) könnte auch anders ausfallen;
damit kommt sie aus der Schlinge, in der sie steckt, schon gar nicht
mehr heraus. Ganz am Anfang – eigentlich bei den Präliminarien – zeigt
die systemtheoretische Analyse schon das erste Thema, das zu lösen ist,
wenn Religion sich in der gegenwärtigen Gesellschaft behaupten will.
Allgemeiner: Systemtheorie macht deutlich, vor welchen Problemen
Religion stehen könnte. Sie hat keine Lösungsvorschläge, das geht nur
das System Religion etwas an, aber sie weist auf Probleme hin, die,
wenn unbearbeitet, unerwünschte Auswirkungen hinterlassen. In dieser
Hinsicht war Luhmann ein bestechender Beobachter.
Was ist nun das Thema der Religion? Womit befasst sie sich? Luhmann
erscheint es sinnvoll, erst einmal sich umzusehen, welche
gesellschaftliche Fragen es gibt, zu denen Religion eine Antwort sucht.
Folgen wir einfach Luhmanns Gedankengang:
„Draw a distinction“, ruft George Spencer-Brown. Mit diesem Aufruf
lässt Spencer-Brown die Kaskaden von Unterscheidungen und Bezeichnungen
beginnen, die am Ende zu unserer sinnbezogenen Weltsicht führen. Aber
wer sagt diesen Anfang zu wem? Der Kalkül von Unterscheidung und
Bezeichnung beginnt also eigentlich mit dem zweiten Satz. Aus dem „Off“
ruft eine Stimme – aber wo ist dieses Off? Eine Unterscheidung teilt
die Welt nicht nur ein in „dies und nicht jenes“, sondern die
Unterscheidung selbst muss sich von etwas unterscheiden. Wovon
unterscheidet sie sich? Sie muss sich auf jeden Fall von der Welt
unterscheiden – in der Welt. Welt ist also einerseits nicht fassbar,
andererseits das Worin jeder Unterscheidung. Spencer-Brown spricht vom
unwritten cross, welches das Unterscheiden schlechthin rahmt. Wer oder
was aber ist die Welt auf der anderen Seite jeder Unterscheidung? Die
Logik von Kognition spielt also mit der Möglichkeit „jenseits der
Gesellschaft“ und der Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft. Es
geht um die Bedingung der Möglichkeit von Sinn. Zumindest in diesem
Sinne bildet Die Religion der Gesellschaft eine Art Rahmen zu Luhmanns
Hauptwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft.
Der „Blick dahinter“ kann natürlich nicht gelingen. Jede Kommunikation
erweitert Gesellschaft von innen, kann sich aber nicht nach draußen
bewegen. Insofern ist es nicht möglich, mit den Bordmitteln des
Unterscheidens und Bezeichnens außerhalb von – Unterscheidungen und
Bezeichnungen zu gelangen. Wir können nur mit Sinnmitteln über Sinn
sprechen. An Sinn gebunden gödelisiert dieses Denken sich selbst, kommt
nicht über sich selbst hinaus. Entweder ist Kommunikation und
Wahrnehmung grundlos oder es mag einen Grund geben, aber wir können ihn
nicht finden. So bleibt Sinn als filigrane Struktur selbsttragend und
schwebend – ohne Gegenhalt.
Keines der anderen Funktionssysteme beschäftigt sich dauerhaft mit
dieser Frage. Sie können ohne großen Verlust diese Fragen zur Kenntnis
nehmen und – umgehen. Diese Frage bleibt sozusagen übrig.
Religion widmet sich genau diesem übrig gebliebenen Thema: Religion
beobachtet die Unbeobachtbarkeit der Welt und des Beobachters (29).
„Wir vermuten in diesem Bereich der Unbeobachtbarkeit, in dem
Beobachten und Welt als Voraussetzung des Beobachtens nicht
unterschieden werden können (im unmarked state also), den Ausgangspunkt
der Probleme, die dann als Sinnformen der Religion behandelt und der
Evolution ausgesetzt werden.“ (31). Ihr Thema ist also Kontingenz, und
zwar Kontingenz selbst. Ihr Thema ist die Unsicherheit, die durch die
Bodenlosigkeit des Beobachtens und allen Sinns entsteht und in jeder
Beobachtung mitgeführt wird. Ob Religion diesen Sinn garantiert (Welt
als göttliche Schöpfung) oder in Paradoxien arretiert und mit dem Ziel
der Leere auflöst (Zen-Buddhismus), ist dann erst eine zweite Frage.
Das ist Aufgabe der jeweiligen religiösen Programme, die die
Fragestellung handhabbar machen.
Nun kann man Unbeobachtbares nicht beobachten. Möglich ist hingegen, im
Beobachtbaren die Differenz beobachtbar/unbeobachtbar beobachtbar zu
machen. Religion greift nicht in das Jenseits von Welt und Beobachtung,
sondern thematisiert im engeren Sinn – die Grenze und: sie thematisiert
sie von innen. Es geht um die Unterscheidung selbst (34). Alle
religiöse Semantik reflektiert also auf diese Grenze – mit den Mitteln
innerhalb der Grenze. Man sieht hier leicht Spencer-Browns Form des
re-entry durchleuchten. Religion gibt dieser Grenze Gestalt und
Symbolik. Diesseitige Bilder dienen dazu, die Grenze zum Jenseits
dieser Bilder zu reflektieren. Religion betrachtet die Dinge dieser
Welt – noch einmal anders.
Dies ist ein interessanter Ertrag. Von außen betrachtet zeigt Religion
sich als Grenzphänomen, und alle Semantik reflektiert auf diese Grenze
– und die Semantik ist nicht inhaltlich im Sinne einer Beobachtung
erster Ordnung ein für allemal festgelegt. Hier zeigt sich nun, dass
Innen- und Außenperspektive nicht einfach kompatibel sind, ebenso wenig
wie generell Beobachtung erster Ordnung und Beobachtung zweiter
Ordnung. Beobachtung erster Ordnung zeigt Inhalte und identifiziert auf
ontologisierende Weise Zeichen mit Bezeichnetem. Auf diese Weise wird
das „Jenseits“ der Gesellschaft und des Sinns (das „Woraus“ jeden
Sinns) zum Ding oder im geographischen Sinn zur Gegend und es wird mit
Göttern usw. bevölkert. Da es hierfür keinen überprüfbaren Gegenhalt
gibt, weil man „drüben“ nicht beobachten kann, ist an dieser Stelle an
kommunizierten Phantasien alles möglich. Hier kommt der
Bekenntnischarakter von Religion zum Zuge, denn man muss „glauben“, was
drüben ist. Aber die historische Analyse zeigt: Die jeweils
spezifischen Vorstellungen wandeln sich und vermählen sich mit
gesellschaftlichen Selbstverständnissen; sie sind also selbst
kontingent. Und doch chiffrieren sie das gemeinsame Thema: die
beunruhigende Erfahrung von Kontingenz. Chiffrieren: Luhmann verwendet
diese Bezeichnung, um den Status religiöser Vorstellungen gegenüber dem
Thema (einem Unterschied!) zu beschreiben. Chiffren weisen auf ihr
Thema hin und verdecken es zugleich (die Unterscheidung
beobachtbar-unbeobachtbar). Und das heißt: Sie sind selbst nicht das
Eigentliche.
Welchem Bekenntnis man anhängt, das ist Aufgabe und Freiheit des
Individuums. Religion wird somit abhängig von der Teilnahme des
Individuums und dessen Entscheidung. Seit funktionaler Differenzierung
ist es nicht mehr möglich, dem Individuum vorzuschreiben, was es zu
denken habe: Es kann die Teilnahme einfach aufgeben. Diese „neue
Beliebigkeit“ hat als Gegenreaktion zu lokalen Fundamentalismen
geführt, die die ontologisch „richtige“ Lesart des Jenseits für sich
beanspruchen.
Dennoch ist Religion keine Sache des Individuums. Die soziologische
Systemtheorie Bielefelder Provenienz fasst Religion als soziales
System, als Kommunikation. Das hat natürlich mit der kompromisslosen
Trennung von psychischen und sozialen Systemen zu tun und deren
unterschiedlichen Operationsweisen. Weil nun Religion kommuniziert
(jeder Gottesdienst zeigt dies), muss sie als Kommunikation gefasst
werden. Für Luhmann ist Religion also keine anthropologische
Vorgegebenheit, wie abendländische Religionen gerne annehmen;
individuelles religiöses Erleben mag es geben, aber es lässt sich in
allgemein verwendeten Zeichen wie Sprache nicht vermitteln. Der Autor
versperrt damit den Rückzugsweg der Religion ins Private, wo sie zu
spüren bekommen hat, dass ihr sozialer Einfluss Konkurrenzen ausgesetzt
ist. Zugleich wendet Luhmann sich gegen die Psychologisierung der
Religion, in die gerade die Seelsorgebewegung im christlichen Bereich
versucht hat sich zu retten, nachdem diese mit der Starre der
kirchlichen Dogmen nicht mehr arbeiten wollte (was nachvollziehbar
ist). Luhmann bietet der Religion eine Frage, die sie aus seiner Sicht
beantworten sollte: Was genau sind denn nun die Formen des Religiösen?
Er regt an, dass Religion ihre Semantik zwischen Psychologismus,
Soziologie und einem naiven Offenbarungspositivismus neu bestimmt.
Am Ende bleibt noch die Systembildung anzusprechen. Luhmann beobachtet
Religion als System, nicht als Gegenstand, als Sinnsystem, nicht als
Abbild transzendentaler Realität. Damit sind operationale
Geschlossenheit und Autopoiesis impliziert. Was sich als Religion mit
ihren Mythen, Riten, heiligen Schriften und Theologien darstellt, ist
„Eigenwert“ (sensu Heinz von Foerster) von Kommunikation, stabile
semantische Netzwerke, die sich als Kommunikationen, als selbsttragende
Sinnbezüge ohne Realitätskontakt evolutionär bewährt haben. Darum auch
Brot und Wein und nicht Malzbier und Bananen (118). Luhmann zeichnet
nach, wie die Evolution von der einfachen Unterscheidung
vertraut-unvertraut bis zur Abschließung der Religion als funktionales
System einer funktional differenzierten Gesellschaft geführt hat. Was
natürlich für Systemtheoretiker eine Selbstverständlichkeit ist, mag
für religiöse Ohren anstößig sein, denn noch einmal mehr ist durch die
konstruktivistischen Grundlagen ein Weltbild angetastet.
Exkludiert ist dabei – der Mensch! Der Mensch kommt im System Religion
(aus systemtheoretischen Gründen, also aus Gründen der
Theoriekonsistenz) nicht vor. Diese leider oft „Antihumanismus“ (und
damit menschenfeindlich) genannte Position Luhmanns hat in der
Theologie großen Widerspruch hervorgerufen. Aber von der Kritik war es
nicht weit zu einer neuen, nun angeblich humanistischen Ontologie, mit
der man es besser weiß. Jedenfalls hätte die Theologie hier eine
Aufgabe.
Ein funktionales System der gegenwärtigen Gesellschaft muss einen Code
haben, eine Leitunterscheidung, mit der sie ihre Kommunikationen von
denen anderer Systeme unterscheidet. L Religion befasst sich, wie
gesagt, mit der Unterscheidung von beobachtbar und nicht beobachtbar (=
Diesseits und Jenseits). Da man auf Seiten des Unbeobachtbaren nicht
anschließen kann, schlägt Luhmann die Ersetzung der ursprünglichen
Unterscheidung durch eine andere vor: Transzendent-immanent. Jetzt kann
auf beiden Seiten angeschlossen werden, wie ja auch jeder religiöse
Text zeigt. Mit Ironie hält Luhmann fest, dass theologische Literatur
diese nicht auflösbare Frage, ob Transzendenz möglich ist – dem Leser
überlässt: Man muss schon glauben, um das Geschriebene zu verstehen
(320ff.). Das wird dann halt nur noch Parteigänger überzeugen.
Luhmann widmet ein eigenes Kapitel dem Thema Organisation. Er greift
etwas auf, was meines Wissens lange übersehen worden ist. Religiöse
Organisationen funktionieren nicht nach religiösen Kriterien, sondern
nach organisationalen; sie verwenden eine andere Leitunterscheidung für
ihre Operationen. Kommunikation in Form von Ja/Nein-Entscheidungen ist
nachvollziehbar etwas anderes als Kommunikation, dem die Unterscheidung
transzendent-immanent zu Grunde liegt. Beide Bereiche, der des
Religiösen und der des Organisationalen, haben eigene semantische
Verkettungen. Und es führt zu Problemen, wenn Elemente aus der einen
Verkettung durch Elemente der anderen konterkariert werden. So gehen
Organisationen unvermeidlich über Individuen hinweg, während Religion
das Individuum würdigt als einzigartig und von Gott geliebt. Luhmann
beschreibt diese Inkompatibilität und äußert Skepsis, ob beide Bereiche
jemals miteinander versöhnt werden können. Managementideen in den
Kirchen fördern nur die organisationale Seite und können sehr wohl
religiöse Identität antasten. Das wird in der säkularen wie in der
kirchlichen Organisationsberatung gerne übersehen.
Für soziologisch und systemtheoretisch Interessierte ist dieses Buch
eine Fundgrube. Wie ein roter Faden zieht sich die Fragestellung durch
das Buch, wie denn Religion, wo sich ihr Status in der Gesellschaft
mehr geändert hat als die jedes anderen funktionalen Systems, mit
diesen evolutionären Veränderungen leben kann. Mancher Satz liest sich
wie eine Aufforderung an die Theologie, der Reflexionsinstanz des
Systems Religion, mit der soziologischen Systemtheorie in einen Dialog
zu treten. Luhmann glaubt, dass beide Seiten durch einen Dialog
verletzbar werden, indem sie sich zur Disposition stellen, aber
voneinander viel haben könnten (356). Ein Leben lang hat Luhmann mit
Theologen diskutiert, religiöse Organisationen aber haben seine
Bereitschaft ins Leere laufen lassen.
Für die Religion stellen sich, wenn sie Luhmann liest, neue Fragen. Ihr
Thema, so zeigt der soziologische Vergleich mit anderen funktionalen
Systemen, ist das Hinnehmen und Bearbeiten von Kontingenz. Theologie
müsste anders aussehen, wenn sie auf Absolutheit bezüglich des Jenseits
verzichtet – aber sie könnte es auch. Ihr Umgang mit Kontingenz in
Ritualen, Symbolen und Texten könnte anders ausfallen – weniger
wissend, mehr suchend, alles am Ende offen lassend. In der Mystik hatte
sie vor langer Zeit eine interessante Schwester. Sie könnte Menschen
dabei unterstützen, mit Kontingenzen besser leben zu können – wenn
Überraschendes in unser Leben einbricht und Wissen und Können an eine
Grenze kommt. Sie könnte weniger eine Gegenwelt verobjektivierend
darstellen und dafür mehr mit Betroffenen und Irritierten in einen
begleitenden Dialog gehen. Von ewigen Wahrheiten zu reden war eine
Möglichkeit, der Irritation durch die Erfahrung von Kontingenz Herr zu
werden. Inzwischen ist diese Möglichkeit in die Jahre gekommen und
unglaubhaft geworden. Bei gleicher Frage ist Religion angesprochen,
andere Lösungen zu suchen, die mehr auf der Höhe der Zeit sind, also
funktionale Äquivalente; darauf weist Luhmann an vielen Stellen hin.
Und wenn Religion sich auf der Grenze und nicht im Jenseits aufhält, so
besteht die Möglichkeit, die irdischen Bilder und hierarchischen
Vorstellungen, die aus dem Diesseits in die Transzendenz befördert
worden sind, zurück zu nehmen und den Platz vielleicht – leer zu
lassen. In den Zehn Geboten steht: „Du sollst dir kein Bildnis machen…“
Manchmal kann es zur Aufgabe werden, das Zuviel an Festlegungen zu
sichten, damit Wahlmöglichkeiten entstehen.
Im Bereich von Psychotherapie und Beratung wurde lange Jahre religiöse
Sprache ignoriert bzw. des Sprechzimmers verwiesen. Beratende fühlten
sich inkompetent, oder ihre eigenen Erfahrungen luden sie nicht zu
einer ressourcenorientierten Sicht ein. Luhmanns Ideenwelt legt es
nahe, solche Metaphorik als Versuch zu sehen, Kontingenz zur Sprache zu
bringen. Was wäre denn, wenn man künftig solche Semantik auf die
Irritationen durch Kontingenz hin abprüft und Kommunikation durch
entsprechende Beiträge einer Beobachtung zweiter Ordnung weiterführt?
Seelsorge, die individuelle Begleitung von Menschen durch die Religion,
wird durch den religiösen Kontext zu einer Tätigkeit, die sich von
allen anderen psychosozialen Kontakten unterscheidet (diesen Hinweis
verdanke ich vielen Gesprächen mit Prof. Dr. Ludwig Reiter). Seelsorge
hantiert immer mit der Unterscheidung transzendent-immanent, nicht nur
gelegentlich. Welche Möglichkeiten für Lösungen darin liegen, sich
Kontingenz zunutze zu machen, ist noch gar nicht ausgelotet. Hier hat
sich Seelsorge „unter Wert“ verkauft oder sich verschämt in einen
Psychologismus gerettet. Luhmanns Gedankengänge regen hier neue
Überlegungen an.
Eine weitere Rezension von Uwe Kühneweg für philosophia-online finden Sie hier.
Eine Zusammenfassung von Tageszeitungsrezensionen ist hier im Perlentaucher zu lesen.
Eine Rezension von Peter Fuchs in der TAZ vom 1.8.2000.
Lutz Hagestedt in der "Welt" vom 10.10.2001.
Nils Werber mit einer Sammelrezension
in der Frankfurter Rundschau von 2000 (gemeinsam mit den Titeln "Die
Politik der Gesellschaft" und "Organisation und Entscheidung") unter
dem Titel "Die Pflege der Unterschiede Nur Familienähnlichkeiten
zwischen päpstlichen und parteipolitischen Inszenierungen: Die
Autonomie von Politik und Religion in neuen Veröffentlichungen aus
Niklas Luhmanns Nachlass".
Rudolf Helmstetters Rezension für IASL (Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur)
Ein Artikel im doc.-Format zum Download von Günther Emlein zum Thema "Systemische Theorie und Praxis in Seelsorge und Beratung"
Inhalt:
1. Die Sinnform Religion
2. Codierung
3. Die Funktion der Religion
4. Kontingenzformel Gott
5. Die Ausdifferenzierung religiöser Kommunikation
6. Religiöse Organisationen
7. Evolution der Religion
8. Säkularisierung
9. Selbstbeschreibung
Leseprobe des Verlages:
Die Sinnform Religion
I.
Woran erkennen wir, diese Frage muß zuerst gestellt und beantwortet
werden, daß es sich bei bestimmten sozialen Erscheinungen um
Religion handelt?
Für einen Glaubenden mag diese Frage ohne Bedeutung sein. Er kann das
bezeichnen, was er glaubt, und sich daran halten. Er mag bestreiten,
daß die Bezeichnung als Religion ihm etwas Zusätzliches bringt.
Er mag sie sogar ablehnen, weil er darin eine
Phänomenklassifizierung sieht, die ihn in eine Kategorie mit
anderen Sachverhalten bringt, deren Glaubenswürdigkeit er
ablehnen würde. Der Begriff der Religion scheint dann ein
Kulturbegriff zu sein, ein Begriff, der Toleranz impliziert.
Für andere, die nicht glauben oder nicht alles glauben, was sie mit dem
Begriff der Religion bezeichnen möchten, oder schließlich für alle,
die über Religion kommunizieren möchten, ohne sich im gleichen
Kontext auf ihren eigenen Glauben festlegen zu müssen, stellt
sich dagegen das Problem des Begriffs, des Begriffsumfangs, der
begrifflichen Abgrenzung. Hierbei hilft heute weder die
»ontologische« noch die »analytische« Lösung. In der
ontologischen Tradition hätte man das Problem gar nicht gehabt,
da sich für sie das, was Religion ist, aus dem Wesen der Religion
ergibt, und man dann allenfalls noch Irrtümer zu erkennen und zu
bereinigen hätte — wie man sieht: eine glaubensnah formulierte
Erkenntniseinstellung. Der Analytiker beansprucht dagegen die
Freiheit, die Reichweite seiner Begriffe selbst zu bestimmen, da
für ihn nicht Begriffe, sondern nur Sätze wahrheitsfähig sind. Er
stößt jedoch auf das Problem der Einschränkung seiner (ihm
methodologisch konzedierten) Willkür, und dieses Problem hat sich
nicht (und am allerwenigsten durch »Empirie«) lösen lassen. Wenn
der Ontologe zu religionsnah operiert, so der Analytiker zu
religionsfern. Das Verkehrteste wäre es nun, nach einer
brauchbaren Lösung irgendwo in der »Mitte« zu suchen. Zwei (für
uns) unbrauchbare Lösungen geben nicht den geringsten Anhaltspunkt
für eine Vermittlung.
Sieht man sich auf einer etwas konkreteren Ebene nach Antworten um, so
lassen sich eine soziologische (Emile Durkheim) und eine
phänomenologische (Rudolf Otto) unterscheiden. Im Moment
interessiert uns aber nicht, was sie sagen, sondern wie sie
gearbeitet sind.
Durkheim bezeichnet Religion als moralische (und damit soziale)
Tatsache. Über Moral und Religion schafft die Gesellschaft sich selbst
als diejenige Transzendenz, die der in seiner Faktizität umstrittene
Gott nicht mehr bieten kann.
Als moralische Tatsache ist die Religion doppelt bestimmt: durch ein
Moment des Begehrens (désir), also der Wertschätzung, und durch eine
das Erlaubte einschränkende Sanktion (sacré). Man sieht, daß Moral, und
mit ihr Religion, durch einen Doppelprozeß der Ausdehnung und
Inhibierung entsteht. Zugrundeliegt eine Art Selbstentgrenzung, die
zugleich an Formen gebunden wird, die als Einheit, als tension
stabilisée, operationsfähig werden. Sie gebieten dann Beachtung vor dem
Hintergrund der unerträglichen Möglichkeit, daß ihre Einheit sich
in Differenz wiederauflösen könnte. Die Formenspezifik der
Religion entsteht auf dieser Grundlage durch die weitere
Unterscheidung sakral/profan. Während also Moral durch eine
Unterscheidung bestimmt ist, bei der beide Seiten sich
wechselseitig fordern, ist Religion durch ein
Ausschließungsverhältnis charakterisiert. In beiden Fällen zielt
der Begriff auf die Gesellschaft als umfassendes System. Das gilt
auch für Religion, wenn man nicht nur auf das Sakrale als
solches, sondern auf den Ort der Unterscheidung sakral/profan
abstellt. Das heißt: die Gesellschaft unterscheidet Religion,
indem sie deren Bereich als sacrum abgrenzt gegen alles, was
nicht so bezeichnet werden kann. Aber Durkheim sieht nicht in der
Unterscheidung selbst die Form der Religion, sondern fragt den
Bereich des Sakralen nach spezifisch religiösen Formen ab. (Wir
halten dies fest, weil dies der Punkt ist, an dem wir uns von
Durkheim trennen werden.)
Ähnliches gilt für die Religionssoziologie Max Webers. Weber vermeidet
eine begriffliche Festlegung des Wesens der Religion und begnügt
sich, als Ausgangspunkt, mit dem Interesse an »Bedingungen und
Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln« (was natürlich
nur sagt, daß man sich in dieser Frage nicht festlegen kann, sondern
beobachten muß, was die Leute für Religion halten). Das Problem lag für
Max Weber in der Frage, wie menschliches Handeln mit kulturellem Sinn
ausgestattet und auf diese Weise verstanden werden könne. Davon
abgeleitet stellt sich ihm die Frage, wie es möglich war, daß
auch andere Lebensordnungen, etwa Wirtschaft oder Erotik, diese
Funktion für je ihren Bereich übernehmen. Die Religion selbst
geht von der Unterscheidung alltäglicher und außeralltäglicher
Zuständlichkeiten aus und findet im Außeralltäglichen einen
Formenbedarf diagnostiziert, der die Welt mit religiösen
Zusatzbedeutungen überzieht und innerhalb dieser Wucherungen dann
einen eigenen Rationalisierungsbedarf erzeugt. Auch Georg Simmel
stellt auf eine Ausgangsdifferenz — hier von religioid und
Religion — ab, die auf der Seite der Religion die Möglichkeit
bietet, Formen der Steigerung durch Abgrenzung herauszuarbeiten. Die
Religionstheorie von René Girard folgt ebenfalls einer
Doppelstruktur der Ausweitung und Einschränkung. Sie geht davon
aus, daß Begehren sich selbst in einen Imitationskonflikt verwickelt
und deshalb das Eingreifen religiöser »interdits« provoziert,
die, weil einschränkend, als Religion erscheinen. Der
Imitationskonflikt selbst, das gefährliche Paradox, daß man
streitet, weil man dasselbe Begehren hat, muß symbolisiert
werden, und das geschieht in der Form eines Opfers, das erlösend
wirkt.
Es kommt uns bei dieser Aufzählung nicht auf eine Diskussion bekannter
religionssoziologischer Konzepte an, geschweige denn auf
Vollständigkeit. Es geht im Augenblick nur um Beispiele für
Bewegungsmöglichkeiten in der Frage, woran man Religion erkennen
kann; und offenbar geht es in den genannten Fällen um eine
spezifische Dynamik — um Steigerungsmöglichkeiten, die
Einschränkungen erfordern, oder um Einschränkungen, die Steigerungen
ermöglichen. Es wäre daher nicht ganz abwegig, bei Religion immer
auch an Geld zu denken: eine geheimnisvolle symbolische Identität
in einer Zeit, der es darum ging, Kultur gegenüber dem
grassierenden »Materialismus« wieder zur Geltung zu bringen. Und
diese Identität — das wäre dann: die Gesellschaft.
Sowohl Durkheim als auch Simmel benutzen einen engeren Begriff von
Religion, der nicht alles Sakrale oder alle »religioiden«
Bindungen des sozialen Lebens schon als Religion im eigentlichen
Sinne gelten läßt. Für Durkheim entsteht Religion erst durch
Systematisierungen des Glaubens, für Simmel erst durch ein
deutliches, objektiviertes und damit auch mögliche Zweifel
weckendes, kritikfähiges Formenbewußtsein. Diese Unterscheidung hat
und behält ihren guten Sinn, vor allem für evolutionstheoretische
Forschungen, die dem Auftreten anspruchsvollerer, zunächst
unwahrscheinlicher Formen nachgehen. Sie ist jedoch in der
späteren religionssoziologischen Forschung, was den
Religionsbegriff betrifft, aufgegeben worden bzw. in
Vergessenheit geraten. Denn die religiösen Neuentwicklungen
dieses Jahrhunderts lassen sich dieser Unterscheidung nicht
eindeutig zuordnen; sie sind weder in jenem Sinne Religionen,
noch lassen sie sich als eine quasi religionsfreie Etablierung
neuer Sakralformen begreifen.
Während die soziologischen Ansätze sich von religiösen Glaubensinhalten
nach Möglichkeit unabhängig zu halten versuchen (und Durkheim
verdeutlicht dieses methodische Ziel durch Rückgang auf primitive
Religionen ohne Gottesbegriff und ohne Mysterien), geht die
phänomenologische Begriffssuche genau umgekehrt vor: sie sucht
Religion dadurch zu bestimmen, daß sie beschreibt, wie
Sinngehalte als Religion, und das heißt dann: als »heilig«
erscheinen. Die phänomenologischen Analysen gehen von der
Möglichkeit eines direkten Zugriffs auf »die Sache selbst« aus,
wählen also eine Zugriffsweise, die sich nicht durch
gesellschaftliche Bedingungen relativieren läßt. Die
Schwierigkeit ist: von da aus zu einer Berücksichtigung der
Zeitlichkeit und der Geschichtlichkeit von Religion zu kommen.
(Husserls auf das Bewußtsein bezogenen Zeitanalysen reichen dafür
nicht aus.)
Die Bestimmung des Heiligen als des Numinosen läuft, wenn als Direktive
für einen Beobachter verstanden, auf eine Paradoxie hinaus: das Heilige
zieht an und läßt erstarren. Es übt eine grausige Faszination aus.
Dabei sind jedoch subtile Unterscheidungen zu beachten: Auch wenn
man von einer an Gott orientierten Religion ausgeht, ist es nicht
die Absicht Gottes, Furcht und Schrecken zu bereiten, sondern
sein »heiliges« Wesen. Und außerdem ist Gott nicht das Schrecken
erregende Ereignis selbst, er ist nur in ihm. In jedem Falle muß
eine (wie immer paradoxe) Einheit angenommen werden. Die Rettung
liegt in der Gefahr, die Erlösung in der Sünde. Seit dem 18.
Jahrhundert hat man dafür auch die Bezeichnung »sublime« oder
»erhaben« gewählt, um Konflikte mit der durch Theologen und ihren
guten Gott domestizierten Religion zu vermeiden. Wie immer: das
Heilige ist die Erscheinungsform eines Paradoxes.
Es fällt auf, daß der transzendentaltheoretische Hintergrund, der die
Phänomenologie bei Husserl begründet hatte, in der Sozialphänomenologie
à la Schütz schlicht weggelassen wird, ohne daß die Risiken und Kosten
eines solchen Theorieverzichts kontrolliert worden wären. Man
verzichtet, anders gesagt, auf die Superunterscheidung
empirisch/transzendental. Man verzichtet damit auch auf die als
transzendental deklarierten Bewußtseinsanalysen, mit denen
Husserl die Einheit von Selbstreferenz (Noesis) und Fremdreferenz
(Noema) im intentionalen Prozessieren des Bewußtseins aufgewiesen
hatte. Man hört auch die Warnungen Heideggers vor einem simplen
Rückfall in anthropologische oder psychologische oder gar
biologische Analysen nicht. Statt dessen fordert man vom Leser
schlicht: Eingestimmtsein. Damit fehlt dann aber die in der
Transzendentalität des Bewußtseins liegende Begründung für
Allgemeinheit, das heißt dafür, daß Aussagen möglich sind, die für
jedes empirische Bewußtsein gelten. Dieser Verzicht mag — auch und
gerade aus der Sicht des Soziologen, aber auch aus der Sicht eines an
Sprache orientierten Philosophen wie Jürgen Habermas — gute
Gründe haben; aber er darf natürlich nicht dazu führen, daß man
das Theorieproblem durch Phänomenbeschau verdrängt. Die Paradoxie
des Heiligen ist Ende und Anfang der Analyse in einem. Denn wir
haben jetzt immer noch das Problem: wie unterscheidet ein
Beobachter Religion in einer Weise, die auch für andere
Beobachter gelten kann und sich von einfachen
Glaubenseinstellungen (um die es geht!) unterscheiden ließe?
Durchweg hält der Religionsbegriff der Tradition, dem auch die
Soziologie folgt, an einem Bezug auf das personale Sein des Menschen
fest. Damit bindet sie sich aber, will sie nicht Verständlichkeit und
Plausibilität verlieren, an das, was sonst und anderswo noch über den
Menschen gesagt wird; oder sie muß damit zumindest Kontakt halten.
Diese »humanistische« Tradition gefährdet sich jedoch selbst durch
Variation dessen, was sie als »Mensch« verstanden wissen will,
und ferner dadurch, daß sie mit einer Vielzahl sehr verschiedener
Exemplare der Gattung Mensch rechnen muß, und es schwer fällt, jedem
einzelnen Menschen mit einer Begriffsbildung gerecht zu werden.
Wenn schon diese humanistische Definition des Religionsbegriffs
fragwürdig ist, dann erst recht die Reduktion der Religion auf
ein Phänomen des Bewußtseins. Bewußtsein dient der
Externalisierung (deshalb Phänomen!) von Resultaten
neurobiologischer Operationen und damit der Einführung der Differenz
von Fremdreferenz und Selbstreferenz in die Steuerung
menschlichen Erlebens und Handelns. Religion muß aber auch diese
Differenz noch auf ihren Sinn hin befragen bzw. die Einheit
dieser Differenz als Quellpunkt ihrer eigenen Sinngebung
auffassen können. Sie ist keine bloße Reflexionsleistung des
Bewußtseins; denn das würde heißen: das »Selbst« des Bewußtseins
wiederum zum »Gegenstand« zu machen und es unter Begriffen wie
Seele, Geist, Person dinganalog zu behandeln. Mit dem Schema des
Bewußtseins (Subjekt/Objekt, Beobachter/Gegenstand) läßt sich Religion
nicht zureichend begreifen, weil sie auf beiden Seiten dieser
Differenz angesiedelt ist.
In dieser Zentrierung auf den Menschen liegt wohl der Grund dafür,
daß die klassische Religionssoziologie nicht (oder allenfalls in
einem ganz äußerlichen Sinne) von Kommunikation handelt. Dieses Defizit
(wenn es denn eines ist) nehmen wir als Ausgangspunkt für eine
Neubeschreibung der Aufgabe einer soziologischen Religionstheorie. Wir
wollen, anders gesagt, den Begriff Mensch durch den Begriff
Kommunikation und damit die anthropologische Religionstheorie der
Tradition durch eine Gesellschaftstheorie ersetzen. Die Frage,
welchen Ertrag das bringt, wird uns in den folgenden Kapiteln
ausführlich beschäftigen. Im Augenblick kommt es nur darauf an,
auf die Radikalität dieses Wechsels der Metaphorik, dieser
Neubeschreibung hinzuweisen.
In den bisher vorgeführten Versuchen, auf die Frage nach dem Wesen der
Religion eine Antwort zu finden, zeigen sich Tendenzen, ihren eigenen
Rahmen zu sprengen. Sie erweisen sich, wie man mit Jacques Derrida oder
mit Paul de Man sagen könnte, als »dekonstruierbar«. Es sind Texte,
die ihr deklariertes Ziel untergraben. Das gilt vor allem im
Hinblick auf die klassischen Mittel der Logik und der
Erkenntnistheorie. Die Religionssoziologie behandelt Religionen
als soziale Tatsachen oder soziale Formen mit dem Anspruch, eine
nicht religiös gebundene Beschreibung liefern zu können. Aber:
was ist der Standort und die Wahrheit dieser Beschreibung in
einer Gesellschaft, die die Religion von Bindungen an Logik und
Erkenntnistheorie freistellt, um ihr einen Blick auf das
Generieren von Formen schlechthin zu ermöglichen? Die
Religionsphänomenologie muß eine transzendentaltheoretische
Prämisse annehmen, wenn sie nicht schlicht »Phänomene« mit »Tatsachen«
verwechseln und das Paradox der »Inter«subjektivität als
Interobjektivität mißverstehen will. Aber zugleich gibt es ja in
derselben Gesellschaft Religionen, die ihrerseits über das »Subjekt«
sprechen, dessen transzendentale Selbstgewißheit in Frage stellen
und auf Selbstungewißheit mit Sinnangeboten zu reagieren
versuchen.
Wenn Religion ihrerseits Formen durch Einschränken und Ausschließen
konstituiert: ist dann nicht jede Erklärung von Religion
religiös, da sie doch ebenfalls auf eine Methode des
Einschränkens und Ausschließens zurückgreifen muß? Oder anders
gefragt: kann es eine wissenschaftliche Beschreibung von Religion
geben, wenn die Religion ihrerseits den Anspruch erhebt, die
Ausschließungskraft von Formen (als »dies und nicht das«)
begründen zu können? Kann man hier noch kausalwissenschaftlich
vorgehen, oder muß man auf kybernetische Theorien zurückgreifen,
die zirkuläre, auf der operativen Selbsteinschränkung des Zirkels
beruhende Erklärungen bevorzugen? Und wenn Religion eine paradoxe
Beobachtungsweise ist: wie erklärt man dann das Generieren von Formen
(= Unterscheidungen), an die sich weitere Beobachtungen anschließen
lassen? Und: handelt es sich nicht bei beiden Fragen um dieselbe
Frage: um den Umgang mit zirkulären, selbstreferentiellen
Verhältnissen?
Sobald jemand meint, sagen zu können, was Religion ist und wie man
Religiöses von Nichtreligiösem unterscheiden kann, kann im
nächsten Augenblick jemand kommen und dieses Kriterium (etwa den
Bezug auf den existierenden Gott) negieren und genau dafür
religiöse Qualität in Anspruch nehmen. Denn was sonst soll es
sein wenn nicht Religion, wenn jemand das negiert, was jemand für
Religion hält? Das Problem liegt nicht, wie Wittgensteinianer
meinen könnten, in einem allmählichen Ausweiten von
»Familienähnlichkeiten« und auch nicht (das war Wittgensteins
Ausgangspunkt) in der Unmöglichkeit einer treffenden Definition.
Vielmehr scheint, aber das soll hier zunächst nur als eine
Vermutung vorgetragen werden, Religion zu jenen Sachverhalten zu
gehören, die sich selbst bezeichnen, sich selbst eine Form geben
können. Aber das heißt dann auch, daß die Religion sich selber
definiert und alles, was damit inkompatibel ist, ausschließt.
Aber wie das, wenn es zum Beispiel um andere Religionen, um
Heiden, um die civitas terrena, um das Böse geht?
Selbstthematisierung ist nur mit Einschließen des Ausschließens, nur
mit Hilfe eines negativen Korrelats möglich. Das System ist
autonom nur, wenn es mitkontrolliert, was es nicht ist.
Angesichts eines solchen Sachverhalts kann Religion extern nur im
Modus der Beobachtung zweiter Ordnung, nur als Beobachtung ihrer
Selbstbeobachtung definiert werden — und nicht durch ein Wesensdiktat
von außen.
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