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Neuvorstellung zur Übersicht
14.05.2005
Konrad P. Grossmann: Der Fluss des Erzählens
Grossmann Erzählen Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg

173 Seiten, Kt, 2. Aufl. 2003

€ 17.50 / sFr 31.00
ISBN 3-89670-139-8
Carl-Auer-Verlag





Andrea Brandl-Nebehay, Wien:

Die titelgebende Flussmetapher durchströmt als Wegbegleiter dieses Buch, das von der Beschaffenheit von Geschichten handelt, von Erzählungen des Glücks und Unglücks, des (Über)Lebens und Liebens. Konrad Grossmann bietet sich als behutsamer Fährmann an, mit dem man den narrativen Strom entlangfahren kann. Konzentriert wandert er mit uns von Quellen bis zu Mündungen, öffnet uns mit seiner poetischen Sprache den Blick für den Reichtum der Flusslandschaft und gibt uns Landkarten zur kartographische Orientierung mit, damit wir nicht im "Meer der Geschichten" untergehen.
Grossmann denkt also über Therapie in der Metapher des Geschichtenerzählens nach: "Therapie verwirklicht sich im Einführen bislang ausgelassener Erzählungen" (S.16). Sein Buch verwirklicht sich im Einführen einer sehr eigenständigen Darstellung von Theoriebezug und Praxis narrativer Therapie. Es geht um Sprache, um Probleme-in-Sprache; die Sprache des Buches besticht durch oft überraschenden Wechsel von poetisch-sinnlichen Formulierungen und fachlich-wissenschaftlich getöntem Sprachgebrauch, sie streut Geschichten und Zitate großer Erzähler (Camus, Dostojewskij, Irving, Rushdie) ein und geht mit Verweisen auf Fachliteratur eher sparsam um. Ausschnitte aus Therapietranskripten zeigen anschauliche Blitzlichter therapeutischer Möglichkeiten ("Wie gelingt es dir, dich schlecht zu konzentrieren?").
Speziellen (Sprach)genuß verspricht auch das Vorwort von Arnold Retzer, u.a. mit seiner Neubewertung von Psychotherapie als "Sprechstunde":  "Wir erzählen gegen den von uns empfundenen Fehler oder Mangel der Welt. Erzählend fällt uns ein, was uns fehlt“ (S.13).
Mit dem Aufbau des Buches mußte ich mich erst vertraut machen, da mir Begriffe wie Matrix, Innen- und Außenseite im Zusammenhang mit Erzählungen bislang wenig geläufig waren. Vergeblich sucht man den vielleicht erwarteten Überblick über narrative Ströme, die in Australien/Neuseeland, Texas, Norwegen und anderswo fliessen; Grossmann erzählt seine eigene Geschichte des Erzählens.
In einem ausführlichen einleitenden Kapitel beschäftigt sich der Autor zunächst mit der schwierigen Liaison zwischen Sprache und Wirklichkeit, Sprache und Erfahrung, Sprache und Problemerleben. Für den therapeutischen Bereich schlägt er vor, von Problemen-in-Sprache und deren Transformation durch alternative Geschichten zu sprechen, die ihrerseits neue Sprachspiele und neue Wirklichkeiten schaffen.
Der Abschnitt "Innenseite des Erzählens" trifft Unterscheidungen auf  verschiedenen Ebenen (Inhalt, Zeit, Raum, Bewegung, Kontextualisierung und Perspektive), auf denen Geschichten angesiedelt sind. Erzählungen von Klienten sind inhaltlich eher problem- oder lösungsorientiert, spielen zeitlich in der Vergangenheit oder aber in Gegenwart/Zukunft, werden räumlich eher im Inneren des Erzählers lokalisiert oder external konnotiert usw. Jedes Erzählen ist zugleich Auschluss all der anderen Möglichkeiten des Erzählens. Therapeutische Interventionen können - wenn sie auf diese Unterscheidungen fokussieren - hilfreiche Brücken zur bisher ausgelassenen Seite der Erzählung schlagen.
Im Kapitel über die Erzählmatrix finde ich weitere Unterscheidungsmöglichkeiten, die mein Zuhören und Fragen neu beleben: Begriffe wie "offene versus geschlossene Selbst-Erzählungen", Achtsamkeit auf die Gerichtetheit von Narrativen (Geschichten der Progression, der Stabilität oder der Degression?); Fragen danach, in welcher Umwelt eine bestimmte "Matrix", also Spielregeln des Erzählens, gelernt wurde. Unter der Überschrift "öffnendes Erzählen" und "öffnende Metaphern" finden sich schöne Beispiele einer behutsamen Dekonstruktion bisheriger Sprachspiele und dominanter Geschichten. "Die Dekonstruktion einer dominanten Erzählung ist ein Prozeß der Erweiterung; die bestehende Erzählung wird nicht aufgehoben, sondern vielmehr um Noch-nicht-Erzähltes ergänzt" (S. 78).
Im Flussabschnitt über die "Außenseite des Erzählens" geht es um die Diskursfähigkeit  unserer Geschichten. Eine Erzählung sollte sozial passend sein - sonst ist sie schwer verstehbar; kongruent sein - sonst gibt es Brüche zwischen Erzählung und Erzählweise; kohärent und authentisch sein - sonst fällt die mangelnde Stimmigkeit und Enstsprechung zum Erleben des Erzählers auf. In jeder dieser Ebenen kann die eine wie die andere Seite der Dichotomie therapeutisch genutzt werden, zur sanften Aussaat von Zweifel, zur Anregung von Neugier auf Widersprüche, zum Ansägen bisheriger Gewissheiten. "Der Kreislauf von Bestätigung und Infragestellung, das Pendeln zwischen Glauben und Zweifel ist die Grundmelodie des therapeutischen Dialogs" (S. 90).
Die einzeltherapeutischen Qualitäten von Dostojewskijs Mönch Sosima aus den Brüdern Karamasow kommen in seinem Dialog mit einer über den Tod ihres Sohnes trauernden Mutter auf den Prüfstand. Eine liebevolle Analyse dieses Textes führt in  die relationalen und inhaltlichen Aufgaben des narrativen Therapeuten ein und bestimmt das weitere Thema: die Einführung ("Aussäen"), Passung ("Balancierung") und Sicherung ("Verankerung") von in der Therapie konstruierten Unterschieden. Zuschreibung oder Infragestellung der Kongruenz, Authentizität, Kohärenz und sozialen Passung von Erzählungen ist über eine Vielfalt von Interventionstechniken möglich: Aufgaben der Selbstbeobachtung, historisierende, futurisierende und vernetzende Fragen, Externalisierung des Problems ("Seit wann hat der Streit Oberhand über Sie beide gewonnen?"), die jeweils an Hand von Therapieexzerpten illustriert werden. 
Im Kapitel "Therapie und Schreiben" tun sich neue Ufer alternativen Geschichtenerzählens für KlientIn und TherapeutIn auf. Unter Nutzung der Langsamkeit und Nachhaltigkeit des Mediums Schreiben können Briefe im therapeutischen Kontext intentionale, positionale (beziehungssichernde) und performative (schreiben als problemauflösendes Handeln) Funktionen erfüllen. Vor diesem theoretischen Hintergrund findet sich eine Fülle von Ideen, wie (schreibfreudige) KlientInnen zum Verfassen von Texten angeregt werden können:  Leser- und Ratgeberbriefe an sich selbst, Briefe aus der Zukunft, an Probleme adressierte Kündigungsschreiben bzw. an Ressourcen gerichtete Anstellungsverträge, Unabhängigkeits- und Solidaritätserklärungen, Liebes- und Versöhnungsbriefe (an sich selbst und/oder Partner), Herstellungsanleitungen für Probleme, Abschiedsbriefe (z.B. an Drogen, Medikamente), wohlwollende Buchbesprechungen zu den eigenen Tagebüchern, Anklage-, Gutachter- und Verteidigungsschriften  usw.
Die Seelenverwandschaft zwischen Therapie und Literatur wird unter der Überschrift "Das Nutzbarmachen des Fiktiven" nochmals beleuchtet. Literatur wie Therapie kreisen um Geschichten der Unterdrückung, der Kränkung, des Scheiterns, um Erzählen von Schuld und Verlust, aber auch von Gelingen und Überleben. Am Beispiel der Maulwurfmann-Geschichte aus John Irvings Witwe für ein Jahr  wird die postmoderne Erzählmatrix mit ihrer verschwimmenden Grenzziehung zwischen Realität und Fiktion, zwischen Konkretem und Bildhaftem verdeutlicht und in die Nähe eines postmodern-narrativen Therapieverständnisses gerückt. "Dies impliziert den Abschied von all jenen Erzählungen, denen Psychotherapie ihren zugleich besonderen wie fragwürdigen Ruf  verdankt - von Erzählungen der Selbstverwirklichung, der Vervollkommnung, des Wachstums...Wenn wir jenseits der pragmatischen Auflösbarkeit konkreter Lebensprobleme von einer grundlegenden Unheilbarkeit menschlichen Lebens und menschlicher Not ausgehen, bleibt ein kleiner und doch bedeutsamer Unterschied: dass sich jenseits von Unheilbarkeit dennoch leben und lieben läßt" (S. 162).
"An der Mündung" seines Buches stellt Grossmann sich und uns Fragen, die ich hier sehr entschieden beantworten möchte: ja, das Buch erzählt "einfach und verzweigt, schmal und breit, rasch und langsam", ich ergänze: distanziert und persönlich, anspruchsvoll und bescheiden, bestätigend und verstörend genug, sodass das Erzählte einen nachvollziebaren Pfad therapeutischer Erkenntnis und therapeutischen Handelns zur Verfügung stellt.
(mit freundlicher Genehmigung aus systeme)





Verlagsinfo:

"Die Narrative Therapie versteht den Dialog zwischen Therapeut und Klient als einen gemeinsamen Erzählvorgang, der relevante Unterschiede im Leben des Klienten hilfreich verdeutlicht und zu einer wirksamen Problemlösung führt. "Erzählen" bezieht sich dabei zum einen auf den Gegenstand der Therapie  auf das Erzählen des Klienten über seine Probleme. Zugleich läßt sich aber der therapeutische Prozess selbst als ein "Erzählen", als dialogisches Geschehen zwischen Therapeut und Klient verstehen. Beide entwickeln und schaffen gemeinsam in diesem Dialog neue, alternative Erzählungen, die den Handlungsspielraum des Klienten erweitern und ihm somit helfen können, seine Probleme zu lösen.
Dieses Buch gibt dem Therapeuten einen fundierten Überblick über die faszinierende Landschaft der Narrativen Therapie und hilft ihm gleichzeitig, sich über die therapeutischen Möglichkeiten dieser Methode zu orientieren.

Zitate aus Rezensionen zu diesem Buch:

"Die Perspektive auf die Innen- und Außenseite des Erzählens halte ich für eine Meisterleistung zur Erfassung des Flusses therapeutischer Prozesse".
Feedback. Zeitschrift des ÖAGG (Österreichischer Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik)

"Das Buch erzählt distanziert und persönlich, anspruchsvoll und bescheiden, bestätigend und verstörend, sodass das Erzählte einen nachvollziehbaren Pfad therapeutischer Erkenntnis und therapeutischen Handelns zur Verfügung stellt".
Familiendynamik

"Eindeutig horizonterweiternd"
Echt - Das Magazin Ihrer Evangelischen Kirche

"Dem Autor gelingt es, die vielen therapeutischen Möglichkeiten narrativer Therapie an Beispielen aus der Praxis zu verdeutlichen. Empfehlenswert für alle, die sich einen Einblick in die narrative Therapie verschaffen wollen und die sich auf eine wissenschaftlich theoretische Darstellung einlassen können"
Systhema


Zum Autor:

Konrad Peter Grossmann, Dr. phil., Psychologe und Psychotherapeut am Institut für Familienberatung/Linz, Lehrtherapeut und Lehrbeauftragter für systemische Familientherapie in Linz und Wien. Veröffentlichungen u. a. zu den Themenbereichen Paartherapie, Interventionstheorie, Ethik und narrative Therapie.



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