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02.04.2005
Heiko Kleve über Thomas Pfeffer
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Thomas Pfeffer:
Das „zirkuläre Fragen“ als Forschungsmethode zur
Luhmannschen Systemtheorie.
Carl-Auer-Systeme, Heidelberg 2004
(2. Auflage), 140 Seiten
ISBN 3-89670-308-0
€ 16,00 |
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Carl-Auer-Verlag

Heiko Kleve:
Die soziologische Systemtheorie der
Bielefelder Schule gilt vielerorts als empiriefeindlich. Das hat
sicherlich etwas zu tun mit Niklas Luhmanns Abstinenz gegenüber
empirischer Sozialforschung und mit seiner Position, dass die
Soziologie zunächst eine brauchbare Gesellschaftstheorie benötige, vor
deren Hintergrund erst die Vielzahl der gesammelten empirischen Daten
plausibel interpretiert werden könne. Wer die soziologische
Systemtheorie ernst nimmt, kann darüber hinaus nicht mehr daran
glauben, dass empirische Forschung Daten erheben kann, die unabhängig
von denen sind, die die Erhebung durchführen; vielmehr macht die
Theorie selbstreferentieller Systeme sichtbar, dass Forscher
genaugenommen selbst versteckte Ostereier finden, dass sie das
mitproduzieren, was sie erforschen, und zwar aus zweierlei gründen:
Erstens beeinflussen sie die Gegenstände ihrer Forschung durch den
Vollzug des Forschungsprozesses (dies könnte man mit Werner Heisenberg
„Unschärferelation“ nennen), und zweitens bestimmen ihre Beobachtungen
(und nicht die Daten selbst, die es ohnehin nicht losgelöst von
Beobachtern gibt), was innerhalb des Forschungsprozesses und während
dessen Auswertung wie unterschieden und bezeichnet, genauer:
beschrieben, erklärt und bewertet, kurz: interpretiert wird. Forschung
ist demnach ein selbstreferentieller Akt.
Wer nun allerdings behauptet, dass die soziologische Systemtheorie
empirische Forschung ablehnt, der irrt. Freilich ist die Systemtheorie
selbst eine empiriegesättigte Theorie, lassen sich ihre Theoreme durch
Erfahrungen bestätigen. Nur dadurch ist es zu erklären, dass in vielen
Praxen und Professionen das beobachtet werden kann, was Dirk Baecker
formuliert, dass nämlich „gerade die hochgetriebenen Abstraktionen“ der
Systemtheorie und verwandter Ansätze (z.B. Kybernetik zweiter Ordnung,
Konstruktivismus, Differenztheorie) „als erstaunlich praxisnah
erscheinen“. Dennoch gibt es noch nicht viele Arbeiten, die sich mit
der Frage beschäftigen, welche Forschungsmethoden aus der Systemtheorie
ableitbar sind bzw. welche sie präferiert und vorschlägt. Mit dem Buch
von Thomas Pfeffer liegt eine solche Arbeit jetzt bereits in der 2.
Auflage vor.
Pfeffer geht von der Beobachtung aus, dass die soziologische
Systemtheorie in soziologischen Methodenbüchern nur selten vorkommt,
dass in solchen Publikationen nicht häufig auf die Theorie
selbstreferentieller Systeme verwiesen wird, und er fragt sich, ob es
überhaupt spezifische Forschungsmethoden gibt, die der soziologischen
Systemtheorie entsprechen. Pfeffers These, die er in seinem Buch
belegt, ist, dass die aus der systemischen Familientherapie kommende
Interview- und Interventionstechnik des Zirkulären Fragens eine solche
Forschungsmethode darstellen könnte.
Nachdem Pfeffer die beschriebene Problemstellung, also das „Defizit an
systemischen Forschungsmethoden in der Soziologie“ (S. 13) entfaltet,
widmet er sich ausführlich dem Zirkulären Fragen. Er rekonstruiert mit
Bezügen zur Systemtheorie und systemischen Familientherapie jenes
Systemmodell, welches den Hintergrund bildet für das Zirkuläre Fragen,
das im Ansatz der Mailänder Schule der systemischen Familientherapie
entwickelt wurde. Dabei konstatiert Pfeffer erstaunliche Parallelen
hinsichtlich der Konzipierung sozialer Systeme in der Luhmannschen
Systemtheorie und der systemischen Familientherapie. Obwohl die
Familientherapie nicht mit der theoretischen Radikalität vorgeht und
den Menschen zur Umwelt von sozialen Kommunikationssystemen erklärt wie
Luhmann, laufen ihre empirischen Beschreibungen aber auf
praxisrelevante Konsequenzen hinaus, die der Luhmannschen Systemtheorie
entsprechen: dass soziale Systeme durch kommunikative Ereignisse, durch
Verhaltensweisen und Handlungen gebildet werden, die Strukturen,
Prozesse und Muster von gegenseitigen, zirkulären Erwartungen
voraussetzen und erzeugen. Gerade solche Erwartungsstrukturen,
-prozesse und -muster expliziert das Zirkuläre Fragen.
Trotz dieser gemeinsamen Konzeption sozialer Systeme, lassen sich
Unterschiede zwischen der Systemtheorie und der Familientherapie
konstatieren, die vor allem in den Erkenntnis- und
Wirksamkeitsinteressen liegen. Während Luhmann insbesondere
„Großsysteme“ beschrieben hat, so interessiert sich die systemische
Therapie für die Beschreibung von „Kleinsystemen“, etwa von Familien.
Gerade in diesem Kontext von stark personennahen Systemen ist das
Zirkuläre Fragen nicht nur eine Interventionsmethode, sondern auch
geeignet, um Interviews im Rahmen von empirischen Forschungsprojekten
zu führen.
Nachdem diese These plausibel geworden ist, diskutiert Pfeffer die
unterschiedlichen Möglichkeiten des Zirkulären Fragens und die mit
dieser Methode einher gehenden Haltungsmerkmale, die verbindlich sind
sowohl für Therapeuten als auch für Forscher.
Das Buch bietet eine sehr gute Einführung in die Methode des Zirkulären
Fragens vor dem praktischen Hintergrund der systemischen
Familientherapie und auf der Grundlage der abstrakten Systemtheorie.
Überdies wird sichtbar, welche Erkenntnisgewinne Zirkuläre Fragen
generieren können. Zirkuläre Fragen erlauben es, die verstrickten und
nur selten offenen Strukturen, Muster und Prozesse des gegenseitigen
Erwartens zu erheben, die soziale Systeme in ihrer Dynamik oder Statik
prägen. Mit dem Zirkulären Fragen ist es möglich zu erklären, wie sich
spezifische soziale Systeme (vor allem personennahe „Kleinsysteme“)
strukturieren, wie sie immer wieder das werden, was sie aus der
Beschreibungsposition ihrer jeweiligen Mitglieder jeweils sind.
Pfeffers Buch ist für alle interessant und hilfreich, die insbesondere
das systemtheoretische Kommunikationsmodell verstehen wollen und sich
fragen, wie dies mit Empirie aufgefüllt werden kann. Die Empirie des
Luhmannschen Kommunikationsbegriffs kann deutlich werden durch das aus
der systemischen Familientherapie kommende Zirkuläre Fragen. Trotz der
Plausibilität der Darstellungen Pfeffers und der Stringenz seiner
Argumentation, dass das Zirkuläre Fragen als Forschungsmethode der
Systemtheorie bewertet werden kann, weist das Buch eine Lücke auf: Es
fehlt die Darstellung von konkreten beispielhaften Forschungsthemen,
die mithilfe systemtheoretischen Forschens bearbeitet werden könnten.
Wo bestehen die Defizite klassischer – sowohl quantitativer als auch
qualitativer – Forschungsansätze, die durch eine systemtheoretische
Forschung kompensiert werden könnten? Diese Frage wird nicht
beantwortet. Der Leser kann hier nur Vermutungen anstellen und sich
eingeladen fühlen, auf der Basis von Pfeffers These und Darstellung
selbst an diesem Problem weiter zu denken. Dafür jedenfalls ist dieses
Buch eine wertvolle und beachtenswerte Grundlage.
Anmerkungen:
Vgl. Armin Nassehi (1998): Gesellschaftstheorie und empirische
Forschung. Über die „methodologischen Vorbemerkungen“ in Luhmanns
Gesellschaftstheorie, in: Soziale Systeme, 1/1998, S. 199-206.
Dirk Baecker (1994): Postheroisches Management. Ein Vademecum. Berlin: Merve, S. 13.
Eine weitere Besprechung von Wolfgang Loth (mit freundlicher Genehmigung aus systema Heft 2, 2002)

Jenö Bango, Andras Karacsony (Hrsg.):
Luhmanns Funktionssysteme in der Diskussion
150 Seiten - Carl-Auer-Systeme Verlag
Erscheinungsdatum: Oktober 2001
ISBN: 3896703048
Preis: 16,00 €
Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:
Luhmann zieht Kreise. Die beiden hier vorgestellten Bücher
dokumentieren dies auf zweifache Weise: Pfeffers Untersuchung zum
„zirkulären Fragen“ als Ausdruck wechselseitiger Befruchtung von
soziologischen Theorien und systemisch-therapeutischer Praxis, sowie
der Kongressband von Bango und Karácsony als ein Ausdruck
grenzüberschreitender Rezeption. Dabei macht Dirk Baecker in seinem
Vorwort zum zweitgenannten Reader sofort darauf aufmerksam, dass es
einen kontextfreien „Luhmann“ gar nicht gibt. Er skizziert
unterschiedliche Schwerpunkte der Luhmann-Rezeption in
unterschiedlichen Ländern, wie auch in unterschiedlichen Professionen
innerhalb gleicher Sprachräume. Interessant (allerdings eher für
Fortgeschrittene) ist daher die in diesem Band versammelte
Multiperspektivität (ungarische und deutsche Wissenschaftler;
Soziologie, Philosophie, Sozialarbeit). Die hier versammelten Beiträge
diskutieren Einflüsse Luhmannscher Arbeiten auf
gesamtgesellschaftliche, wirtschaftliche und juristische
Fragestellungen, sowie auf Theorie und Praxis der Sozialarbeit. Bei
aller Theorielastigkeit blitzt dennoch gelegentlich auf, was Luhmann
für die Praxis bedeuten kann. Wer hätte etwa erwartet, dass Luhmann,
dem der ahumane Touch anhaftet, wie dem Teufel die Furcht vor dem
Weihwasser, auf eine Frage nach den praktischen Konsequenzen für die
soziale Arbeit antwortete „In der Sozialarbeit muss man sich um ein
weniger technisches, dafür um ein mehr menschliches Verständnis
bemühen“ (zitiert von Bango, S.47).
Im Unterschied zum Kongressreader konzentriert sich die Arbeit von
Pfeffer auf ein Thema und entwickelt dabei einen durchgängig höheren
Praxisbezug. Der Autor geht von der Unterscheidung aus, dass
systemisch-familientherapeutische Praxis im Unterschied zur Soziologie
„mit dem ‚zirkulären Fragen‘ über eine empirische Forschungsmethode
verfügt, die sich (...) explizit auf systemtheoretische Konzepte
beruft“ (S.66). Luhmanns Anweisung „Beobachte den Beobachter“ kann –
auf den Punkt gebracht – als Bindeglied zwischen seinen
theoriebegrifflichen Arbeiten und der Praxis des zirkulären Fragens
verstanden werden. Pfeffer demonstriert dies in vielfältiger Weise,
skizziert (auch für Einsteiger verständlich) die zentralen Elemente
Luhmannscher Überlegungen zu sozialen Systemen, diskutiert (auch für
Kenner nicht zu knapp) Prämissen und Vorgehen des zirkulären Fragens,
arbeitet Querverbindungen heraus ohne Unterschiede zu verkleistern.
Bedeutsame Unterschiede sieht Pfeffer insbesondere im angestrebten
Abstraktionsgrad (Luhmann), bzw. in der angestrebten
Adressatengenauigkeit (systemische Praxis). Er fasst allerdings seinen
Eindruck so zusammen, die erkennbaren Unterschiede stünden „nicht in
Widerspruch zu einander oder zu den gemeinsam verwendeten,
systemtheoretischen Konzepten. Sie setzen an unterschiedlichen
Abstraktionsniveaus an und demonstrieren damit die Spannweite der
Beobachtungsmöglichkeiten, die durch diese Konzepte eröffnet wird“
(S.91). Von besonderer Bedeutung erscheint mir die übereinstimmende
Konsequenz für das Bewerten professioneller sozialer Hilfen.
„Fremdbeobachtung“ ist aus der Sicht Luhmannscher Theorienbildung
„immer Beobachtung der eigenen Kommunikation mit dem anderen“ (S.132).
Fragen der Selbstverantwortung und des Respekts ergeben sich daher wie
von selbst. Eine übersichtliche Tabelle fasst systemische Haltungen,
korrespondierende Selbstaufträge von InterviewerInnen, sowie
entsprechend förderliche, bzw. vermeidende Fragen zusammen. Fazit:
Nicht nur für Luhmannfreaks interessant, sondern auch für alle, die
ihre Praxisüberlegungen mit Hilfe von Aussenperspektiven vertiefen
möchten.

Weitere Rezension zum Buch von Pfeffer:
Hauke Wandhoff in "IASLonline": "Zirkuläres Fragen" als Methode für eine empiriefreie Theorie?
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