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06.02.2005
Tom Levold über Michael B. Buchholz: Psycho-News. Briefe zur empirischen Verteidigung der Psychoanalyse
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Psychosozial-Verlag 2004
451 S.
ISBN: 3898063712
Preis: 29,90 € |
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Psychosozial-Verlag
Tom Levold: Mein Lieblingbuch 2004:
Das vorliegende Buch ist insofern ein eher ungewöhnliches Buch, als es
sich weder um eine Monografie noch um einen themenbezogenen Sammelband
handelt. Es ist eher ein “Meta-Buch”, ein Buch, welches den Inhalt von
Zeitschriften-Artikeln und anderen Büchern zum primären Gegenstand hat,
im Sinne einer weit gefächerten Rundschau - ohne
Vollständigkeitsanspruch, aber jeweils auf das in den aktuellen
Diskursen gerade Vorfindliche einerseits und das immer wieder variierte
und reformulierte Anliegen des Autors andererseits bezogen: nämlich
deutlich zu machen, dass es ausreichende, empirisch abgesicherte Gründe
dafür gibt, Psychotherapie als eigenständige Profession zu betrachten,
die sich nicht den Geltungsansprüchen eines
“Wissenschaftsimperialismus” zu unterwerfen braucht, welcher z.B. in
der berufspolitischen Debatte der letzten Jahre in Deutschland auch
durch die Politik des “Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie”
immer mächtiger geworden ist und im Erfolgsfalle die weitgehende
Blockade einer eigenständigen professionellen Weiterentwicklung des
psychotherapeutischen Feldes bewirken kann.
Systemisch orientierte KollegInnen könnten nun, wenn ihnen Michael B.
Buchholz kein Begriff sein sollte, angesichts des Untertitels zunächst
zurückschrecken: Die “Verteidigung der Psychoanalyse” scheint auf den
ersten Blick kein Unterfangen zu sein, für das man sich als
“SystemikerIn” interessieren müsste, zumal die unmittelbaren Adressaten
der Psycho-News vor allem in der psychoanalytischen Gemeinde zu finden
sind. Allerdings finde ich den Titel etwas unglücklich gewählt. Er
könnte meiner Meinung nach mit gleichem Recht auch lauten: “Briefe zur
konzeptuellen Öffnung der Psychoanalyse” oder “Einladungen zum Blick
über den Zaun”, denn schon beim ersten Blick in den Band wird deutlich,
welch gewaltiger Horizont an Themen, theoretischen Hintergründen,
Einfällen und Verweisen hier aufgespannt wird - alles andere also als
eine Einengung auf die Bestandssicherung eines althergebrachten
psychotherapeutischen Verfahrens.
Der Band enthält u.a. drei im “Anhang” befindliche Aufsätze über
Diagnostik, Depression und “Compliance” - jeweils unter dem
Gesichtspunkt des Paradigmenwechsels von einer Einpersonen- hin zu
einer Interaktionsperspektive - sowie eine kritische Auseinandersetzung
mit einem Gutachten zur “wissenschaftlichen Anerkennung” der
Verhaltenstherapie.
Der Hauptteil des Buches jedoch versammelt auf fast 340 Seiten 19 Texte
des Autors, die von November 2002 bis April 2004 im monatlichen Abstand
(zwei im Januar 2003) im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für
Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie
(DGPT) verfasst und als durchnummerierte Psycho-News-Letter per
E-Mail-Rundbrief an eine ausgewählte Leserschaft verschickt worden
waren. Diese Beiträge sind auch als einzelne PDF-Dateien auf der
DGPT-Website zu finden, die Reihe wird gegenwärtig fortgeschrieben.
Anliegen des DGPT-Vorstandes war es damals, “angesichts der zunehmenden
Verflechtung von berufs- und wissenschaftspolitischen Kontroversen um
die Psychoanalyse und die aus ihr abgeleiteten Therapieverfahren einen
Überblick über die aktuelle Diskussion zu diesen Themen in
wissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zu
erhalten”. Michael Buchholz damit zu beauftragen lag nahe, da er - wie
nur wenige sonst - über die dafür notwendige inhaltliche Reichweite und
die entsprechende “Verknüpfungskompetenz” verfügt, zumal er auch schon
früher immer wieder mit Sachkunde und großem Engagement deutlich
gemacht hat, auf welch schwachen Füßen die Wissenschaftskonzeption des
“Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie” steht und welche
verheerenden Folgen es für die Zukunft der psychotherapeutischen Praxis
(gleich welcher Provenienz) und Weiterentwicklung haben wird, wenn sich
dieses Wissenschaftsverständnis durchsetzt. Vor diesem Hintergrund
bezieht sich die “empirische Verteidigung der Psychoanalyse” zunächst
einmal auf den Angriff eines den Naturwissenschaften entlehnten und im
unangebrachten Analogieschluss auf die Humanwissenschaften übertragenen
Wissenschaftsverständnisses einerseits, auf die problematische
Konzeption der psychotherapeutischen Praxis als “Anwendung von
Wissenschaft” (im Gegensatz zu einem Verständnis von Psychotherapie als
Profession) andererseits. Ein Anliegen, dem sich auch die meisten
Vertreter der Systemischen Therapie verbunden fühlen dürften.
Michael Buchholz ist nicht nur Psychoanalytiker, sondern auch ein
Familientherapeut der ersten Stunde und ein hervorragender Kenner der
systemischen Literatur. Seine besondere Stärke liegt ohne Zweifel
darin, die jeweiligen Ansätze auch gegen ihren Strich bürsten,
Mainstream-Floskeln entlarven und intellektuelle Potentiale
herauszuarbeiten zu können, die sich gerade aus der Überschreitung von
Schulengrenzen ergeben. Insofern lässt sich der Band auch als eine
“Verteidigung der Psychoanalyse” (nämlich als lebendiges und offenes
soziales System) gegen ihre bornierten und ideologisch eingemauerten
Spielarten lesen.
Die einzelnen Beiträge kreisen jeweils um unterschiedliche
Schwerpunktthemen wie Psychotherapieforschung, Neurowissenschaften,
Affektive Kommunikation, Epidemiologie, Bindungsforschung,
Gruppentherapie, Vertrauen, Professionalisierung, Krankheitstheorien,
Sprache und Sprechen, Geschichte der Psychoanalyse, Gewalt, Religion,
Persönlichkeit und vieles mehr, decken also ein äußerst breites
Spektrum von Perspektiven ab: Eine argumentative Engführung ist nicht
beabsichtigt. Zunächst werden unterschiedliche Befunde der
Psychotherapieforschung zugänglich gemacht, welche Psychotherapie als
interaktive Veranstaltung in den Blick nehmen (bei der Therapeuten und
Patienten gemeinsam Teil des sozialen Systems Psychotherapie sind) und
nicht - wie gerade in der Therapieforschung so beliebt - als
“Medikament”, das ist einer bestimmten Dosis mit einer standardisierten
Vorgehensweise von einem Experten verabreicht wird. Im weiteren Verlauf
erhalten die Newsletter zunehmende Komplexität und Eigengestalt, aber
durchaus unter Wahrung des ursprünglichen Auftrages. Es wird nicht nur
berichtet und referiert, die horizontalen und vertikalen Verknüpfungen
nehmen zu, zahlreiche Verweise auf philosophische Konzepte,
kulturwissenschaftliche Studien (z.B. zur Musikanthropologie oder zum
Körperpiercing) und auch literarische Texte sind zu finden, in Exkursen
werden theoretische Modelle und Begriffe erklärt und mit aktuellen
Diskursen verbunden, wobei immer wieder überraschende Zusammenhänge
auftauchen, denen nachzuspüren äußerst reizvoll ist.
Buchholz navigiert souverän durch die Materialfülle. Sein Anliegen ist
nicht, dem Leser die eigene Orientierung im “Blätterwald” zu ersparen,
sondern deutlich zu zeigen, was alles zu finden ist, wenn man sich auf
die Suche macht und bereit ist, auch ungewöhnlichen Assoziationen zu
folgen. Manche Bücher (z.B. Edelman und Tonioni: “Wie aus Materie
Bewusstsein entsteht”) werden sehr ausführlich referiert, andere nur
kurz erwähnt. Dementsprechend sind viele Hinweise abseits der Hauptargumentationslinien nicht ausgearbeitet,
sondern nur angedeutet - immer aber auf eine Weise, die de Neugier
weckt, wie sich überhaupt Michael Buchholz’ Begeisterung für das Lesen
(als “Homme de libres” gewissermaßen) an jeder Stelle dem Leser
mitteilt. Dass dabei psychoanalytische Zeitschriften bei der
Literaturrecherche im Vordergrund stehen, ergibt sich aus den bereits
genannten Gründen. Aber gerade hier wird dem Leser deutlich, dass eine
(zunehmend) interaktionsorientierte zeitgemäße Psychoanalyse sich nicht
nur systemisch-konstruktivistischen Grundsätzen immer weiter annähert
(Mehrpersonenperspektive, Kontextbezug, subjektabhängige Konstruktion
von Wirklichkeiten, Ressourcenorientierung usw.), sondern auch
Fragestellungen und Forschungsprogramme anzubieten hat, mit denen sich
auch SystemikerInnen beschäftigen sollten. Buchholz postuliert hier als
Bezugsrahmen für empirische Forschung insbesondere eine Triade aus
“Interaktion, (das Erleben organisierender) Kognition und (das eigene
Denken bedenkender) Mentalisierung” (S. 11), ein Zusammenhang weit ab
von jeder Einpersonen-Psychologie, der sich ohne weiteres auch mit
systemischen Konzeptionen in Verbindung bringen lässt.
Aufgrund der Fülle des präsentierten, gewissermaßen in verschiedenste
Richtungen mäandrierenden Materials ist eine inhaltliche
Zusammenfassung an dieser Stelle weder zu leisten noch sinnvoll. Dem
Autor selbst schwebt vor, “dass geneigte Leser sich abends ein
Briefchen reinziehen, darüber schlafen, am nächsten Tag ab und zu daran
denken und am nächsten Tag oder in der nächsten Woche - je nach
Leselust und -laune - mit dem nächsten Briefchen fortfahren”, um sich
dann “in reichen Blätterwäldern auf Spurensuche zu begeben” (S. 13).
Dies scheint mir eine vernünftige Gebrauchsanleitung zu sein, denn - um
in der implizit benutzten Drogenmetapher zu bleiben - es gibt so viele
“Kicks” bei der Lektüre, dass sich u.u. auch schnell das Gefühl einer
Überdosis einstellen kann.
Wer die einzelnen News-Letter schon aus dem Internet kennt, ist schon
überrascht, welch stattlicher Band daraus geworden ist, und das
Leseerlebnis ist allemal ein anderes, wenn man das Buch in der Hand
hält - und nicht nur einen Ausdruck einer Textdatei. Das einzige Manko
besteht in den Fehlen eines Personenregisters, welches das Navigieren
(und Wiederfinden) im Buch erheblich erleichtert hätte.
Website der DGPT
Verlagsinfo:
"Psychoanalyse kann empirisch verteidigt werden! Sie ist weit mehr
als Seelenbehandlung. Der Autor gibt in Briefessays einen Überblick
über die empirische Lage zur Forschung in der Psychotherapie. Darüber
hinaus vermittelt er einen Einblick in die aktuelle
Zeitschriftendiskussion zu Themen wie Religion und Gewalt,
Neurowissenschaften und Säuglingsforschung, Gruppentherapie oder auch
die Bedeutung der Musik und der Evolutionstheorie für die Psychoanalyse.
Inhalt:
Der aktuellen Forderung nach empirischer Bestätigung schien die
Psychoanalyse zeitweillig nicht entsprechen zu können.Tatsächlich sieht
die Lage jedoch vollständig anders aus. Monatlich schrieb der Autor
Zusammenfassungen aus aktuellen wissenschaftlichen Zeitschriften und
zeigte, wie viel empirische Unterstützung international für
psychoanalytische Thesen, Motive und Behandlungseffektivität wirklich
da ist. Diese als Briefe verschickten Zusammenfassungen lesen sich wie
themenzentrierte Essays; sie besprechen nicht nur empirische Forschung
zur psychoanalytischen Effektivität im Vergleich mit anderen
Therapieformen. Michael Buchholz widmet sich sowohl grundsätzlichen
wissenschaftlichen Fragestellungen zur Evolutionstheorie oder zum
Zusammenhang von Gewalt und Religion als auch praktischen Fragen zur
Bedeutung der Therapeutenpersönlichkeit, der professionellen Haltung,
der Gruppentherapie, der Musik und der modernen Medien. Die
Untersuchungen der baby-watcher kommen ebenso zur Sprache wie die der
Neurowissenschaftler. Ein Befund ist: Man braucht empirische Forschung
nicht gegen die Psychoanalyse stellen; die Forschungslage ist insgesamt
psychoanalyse-freundlicher, als weithin angenommen. Ein anderer Befund
ist: Psychoanalyse umfasst weit mehr als die quasi-medizinische
Behandlung kranker Seelen."
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