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02.09.2007
Jörg Hein, Karl-Otto Hentze (Hrsg.): Das Unbehagen in der (Psychotherapie-)Kultur. Sinnverstehende Traditionen - Grundlagen und Perspektiven
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Deutscher Psychologen Verlag, Bonn 2007
264 S., broschiert
Preis: 24,80 €
ISBN-10: 3931589811
ISBN-13: 978-3931589813 |
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Deutscher Psychologen Verlag
Tom Levold, Köln:
Am 17. und 18. März 2006 fand in der Andreas-Hermes-Akademie in Bonn ein Symposium mit dem Thema "Das Unbehagen in der (Psychotherapie-)Kultur. Sinnverstehende Traditionen - Grundlagen und Perspektiven" statt. Die Initiatoren Hans Bauer, Fritjof Gersch, Jörg Hein, Karl-Otto Hentze, Anni Michelmann und Manfred Thielen wollten als Vertreter führender Psychotherapieverbände mit dieser Veranstaltung auf die zunehmende Verengung des Denkens des gegenwärtigen Psychotherapie-Mainstreams reagieren, welche mit der Durchsetzung einer „evidenzbasierten Einheitspsychotherapie“ einher geht. Im Zentrum stand der Austausch zwischen verschiedenen „humanistischen, sinnverstehenden, ganzheitlichen“ Psychotherapierichtungen mit dem Ziel einer alternativen Positionsbestimmung. Das Tagungsthema gewann eine von den Veranstaltern während der Vorbereitung noch nicht absehbare Dringlichkeit auch dadurch, dass der Gemeinsame Bundesausschuss eine Neufassung der Psychotherapie-Richtlinien anstrebt, die vorsieht, Anerkennung und Zulassung von psychotherapeutischen Verfahren vor allem davon abhängig zu machen, dass Wirksamkeitsmessungen vorgenommen werden, die an ICD-10-Diagnosen ausgerichtet sind. Auf der Abschlussveranstaltung wurde eine entsprechende Resolution gegen eine solche Neufassung fast einstimmig als „Bonner Erklärung“ verabschiedet. Das breite Spektrum der vertretenden Ansätze und Verbände war beachtlich. Als Träger der Veranstaltung traten die Arbeitsgemeinschaft Psychotherapeutischer Fachverbände (AGPF), der Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (BVVP), der Berufsverband der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (bkj), der Deutsche Fachverband für Psychodrama (DFP), die Deutsche Gesellschaft für Körperpsychotherapie (DGK), die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse und Psychosomatik (DGPT), die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF), die Deutsche Gesellschaft für Tiefenpsychologie (DFT), der Deutsche Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG), die Deutsche Psychologische Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (DPGG), die Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG), die Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP) und der Verband Psychologischer Psychotherapeuten im BDP (VPP) auf. Der systemische Ansatz wurde u.a. von Jürgen Kriz, Günter Schiepek und Wilhelm Rotthaus vertreten, die Systemische Gesellschaft war als Verband aber bedauerlicherweise nicht beteiligt. Im Frühjahr 2007 ist nun unter der Herausgeberschaft von Jörg Hein und Karl-Otto Hentze der Tagungsband erschienen, der die Beiträge der Tagung enthält. Bei der Lektüre zeigt sich, dass es durchaus divergente Positionen sind, die nicht ohne Weiteres zusammenzubringen sind. Sie alle eint aber die Vorstellung, dass Psychotherapie ein sozialer – sinnbezogener und sinnproduzierender – Prozess ist und keine wie immer standardisierbare medizinanaloge Heilungsprozedur. Die Beiträge sind in fünf Abschnitte aufgeteilt: Im ersten Abschnitt steht alleine Jürgen Kriz‘ Eröffnungsvortrag über „Die Notwendigkeit der Sinn-Perspektive in Psychologie und Psychotherapie“, die Abteilungen 2 - 5 sind folgendermaßen übertitelt: „Zur epistemologischen Grundlegung psychotherapeutischer Forschungs- und Anwendungspraxis“, „Über menschliche und allzumenschliche Bedürfnisse und Entwicklungen als Probleme der Psychotherapie“, „Psychotherapie im Spannungsfeld von Wissenschafts- und Berufspolitik“ und „Zu Philosophie und (Forschungs-) Praxis der Psychotherapie: Narration, Imagination, Verstehen und Revolte“. Im Anhang findet sich die „Bonner Erklärung“, die mittlerweile von etwa 3.000 PsychotherapeutInnen unterschrieben worden ist. Um sich einen Überblick über die Hintergründe der Tagung und das inhaltliche Spektrum der Tagungsbeiträge zu verschaffen, sei die Lektüre des Vorwortes von Jörg Hein (s.u.) empfohlen.
Verlagsinformation:
Das Motiv des Symposiums „Das Unbehagen in der (Psychotherapie-) Kultur“, das am 17./18. März 2006 in Bonn stattfand, war einfach wie nachdrücklich: es ging um die Überwindung der psychotherapeutischen Schulen und gegen die politischen und wissenschaftlichen Trends einer mehr und mehr empiristischen Psychotherapie. Doch dann geriet das Symposium mitten ins Zentrum psychotherapie-politischer Turbulenzen. Zeitgleich war der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (G-BA) mit der Neukonzipierung der Psychotherapierichtlinien befasst, in der es um nicht weniger ging, als den Verfahrensbegriff der Psychotherapie zugunsten von „Methoden und Techniken“ aufzulösen. Zudem sollte die Anerkennung dieser selektiven Methoden und Techniken an die Wirksamkeit bei häufig vorkommenden psychischen Störungen gekoppelt werden. Hier sahen sich die Teilnehmer des Symposiums in ihrer psychodynamischen, humanistischen oder systemischen Tradition aufgerufen ein Zeichen zu setzen. Sie setzten die „Bonner Erklärung“ auf, die sich gegen das Vorhaben des G-BA wendet. In den darauf folgenden Wochen unterzeichneten mehr als 3.000 Psychotherapeuten diese Erklärung – etwa 10% der gesamten Psychotherapeutenschaft! Darin wenden sich die Unterzeichner im Kern „gegen die Zergliederung von Psychotherapieverfahren in Verfahren, Methoden und Techniken und gegen die ausschließende, diagnosebezogene Zuordnung von Psychotherapieverfahren“. Der vorliegende Tagungsband ist somit das Kompendium einer Psychotherapiekultur – gegen jenes Effizienzdenken in der Psychotherapie, das fern ganzheitlicher Zusammenhänge agiert. Die vielgestaltigen Referatsthemen bündeln sich in einem der Grundthemen von Psychotherapie: systemische Perspektive versus mechanistisches Naturverständnis. Es geht u.a. um jene Aspekte, die aktuell das Selbstverständnis von Psychotherapie ausmachen und zukünftig zur Integration der Therapieverfahren beitragen können:
- Selbstorganisation und die Theorie komplexer Systeme
- soziale Konstruktion
- gesellschaftliche Denkformen
- Verhältnis von Wissenschaft und Profession
- Psychotherapie im Diskurs der Macht
Schließlich enthält der Tagungsband den vollständigen Wortlaut der Originalfassung der „Bonner Erklärung“. Dieser engagierte Sammelband ist damit nicht nur ein einzigartiges Zeitdokument. Es stellt zugleich eine Ideenquelle für die tagtägliche Praxis dar – ganz gleich welchem Therapieverfahren Sie in Ihrer psychotherapeutischen Tätigkeit verpflichtet sind.
Inhaltsverzeichnis:
Hein, Jörg: Vorwort. S. 7-12
Begrüßungsansprachen und Grußworte von Jörg Hein, Karl-Otto Hentze, Rainer Richter und Ferdinand von Boxberg, S. 13-24
Kriz, Jürgen: Die Notwendigkeit der Sinn-Perspektive in Psychologie und Psychotherapie. S. 26-41
Laucken, Uwe: Varianten der Vergegenständlichung des Menschen: Klare Unterscheidungen für kläre Entscheidungen. S. 43-64
Kriz, Jürgen: Genese und Bedeutung von (Welt- und) Menschenbildern in der Psychotherapie oder: Leitideen und Leidideen gegenwärtiger Psychotherapie und Psychotherapieforschung. S. 65-73
Markard, Morus: Macht Erfahrung klug? Psychologische (Praxis-)Forschung als Verbindung von individueller Erfahrung und wissenschaftlicher Verallgemeinerung. Oder: Methodisches zum Verhältnis von Vogelgrippe und Therapie. S. 74-82
Bruder, Klaus-Jürgen: Psychotherapie im Diskurs der Macht. S. 84-96
Rotthaus, Wilhelm: Der Paradigmenwechsel von der Objektstellung zur Subjektstellung des Kindes als Beispiel für einen nicht mehr zu ignorierenden Wandel des Menschenbildes in unserer Kultur. S. 97-102
Walter, Hans-Jürgen P.: Psychotherapie als Manifestation eines (Autoritäts-)Problems, als dessen Überwindung sie erst Sinn macht (frei nach Karl Kraus)? S. 103-110
Schmidt-Lellek, Christoph J.: Psychotherapeutischer Kitsch als Ausdruck eines verkürzten Menschenbildes. S. 111-122
Buer, Ferdinand: Der andere Mensch als Objekt und Subjekt. Warum Psychotherapeuten gerade heute darauf bestehen müssen, dass in einer therapeutischen Beziehung der Patient nicht nur als Objekt, sondern auch als Subjekt gesehen werden muss, wenn sie gelingen soll. S. 124-133
Schiepek, Günter: Jenseits des Unbehagens. S. 134-139
Buchholz, Michael B.: Profession und empirische Forschung - Souveränität und Integration. S. 140-156
Frohburg, Inge: "Auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse …"? Zur störungsbezogenen Indikation von Psychotherapieverfahren, die unter Berufung auf die Wissenschaft vertreten wird, in der Wissenschaft selbst aber keine Grundlage findet. S. 157-164
Bowe, Norbert: Psychotherapeutische Praxis, Grundlagen des Fachs und (versorgungs-)politische Folgerungen. S. 165-175
Legewie, Heiner: Erzählen als Zugang zu existenziellen Erfahrungen. S. 177-187
Hardt, Jürgen: Alltagsverstehen und die Kunst des Verstehens. S. 188-195
Schwinger, Thomas: Erzählung und Inszenierung. S. 196-207
Steiner, Beate: Die Bedeutung von Imaginationen für den psychotherapeutischen Prozess. S. 208-218
Fröhlich-Gildhoff, Klaus: Wirkfaktoren in der Kinder- und Jugendpsychotherapie - Methodik und Ergebnisse eines Praxisforschungsprojektes. S. 219-230
Speierer, Gert-W.: Dialog und Fragen zum Verstehen des bedrohten Selbst und seiner salutogenen Ressourcen in der (personzentrierten) Psychotherapie. S. 231-243
Grätzel, Stephan: Narrative Identität als philosophisches Konzept. S. 244-251
Voßkühler, Friedrich: Subjekt, Ereignis und Revolte. Subjektivation als Widerstandspotenzial gegen das neoliberale Globalisierungsphantasma. S. 252-259
Vorwort von Jörg Hein:
Das Symposium, dessen Beiträge hier nahezu vollständig versammelt sind, hat eine etwas ungewöhnliche Entstehungsgeschichte, und es hat mit seiner „Bonner Erklärung“ auch eine ungewöhnliche Resonanz ausgelöst. Motiv war, dem Bestreben entgegenzutreten, die psychotherapeutischen „Schulen“ - wie die verschiedenen Traditionslinien in der Psychotherapie abwertend gerne genannt werden - (das Wort transportiert die landläufige Geringschätzung der Institution Schule gleich mit) - zu „überwinden“. „Überwinden“ bezeichnet hier aber nicht einen Vorgang des Ersetzens eines Zustandes durch einen besseren, höherwertigen, sondern ist die euphemistische Umdeutung der Verdrängung, des Beiseiteschiebens mit politischen, ökonomischen und - wissenschaftlichen - Mitteln. So fatal dieser Sachverhalt rur sich genommen schon ist, wäre er doch nur für die psychotherapeutische Fachwelt von Interesse - wenn sich im psychotherapeutischen Denken und Handeln nicht schon immer ein spezifisches kulturelles, gesellschaftliches Moment Ausdruck verschafft hätte. Psychotherapie ist nicht nur eine (von mehreren) Ausdrucksweisen der kulturellen Verfasstheit einer Gesellschaft, ihr Diskurs ist selber Bestandteil und Forum kultureller Entwicklung. Damit ist Psychotherapie weitaus mehr als ein Beitrag von Spezialisten zur Gesundheitsversorgung und Störungsbeseitigung. Vielmehr gehen von den Traditionen der Psychotherapie seit jeher kritische Fragen und Impulse an ein technizistisch verkürztes Medizinsystem aus. Es war eine kleine Gruppe von überwiegend seit Jahren fachpolitisch engagierten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die sich vorgenommen hatten, gegen den politischen und wissenschaftlichen Trend in unserem Fach mit einem überschaubar angelegten Symposium ein Zeichen zu setzen. Nicht die üblichen gegensätzlichen Positionen sollten zu Wort kommen, vielmehr sollte ein Schritt zur Selbstverständigung unter Vertretern der psychodynamischen, humanistischen, systemischen und körperpsychotherapeutischen Traditionen ermöglicht werden. Sozialwissenschaftliche und philosophische Bezüge der Psychotherapie sollten über die Fachgrenzen hinaus in der Diskussion Platz finden. Zahlreiche profilierte Referentinnen und Referenten waren bereit, sich das Anliegen der Tagung zu eigen zu machen und bei eher vagen thematischen Vorgaben ihre persönliche Perspektive zur Diskussion zu stellen. Dankenswerterweise hat eine erhebliche Zahl namhafter psychotherapeutischer Fachgesellschaften das Vorhaben unter Verzicht auf inhaltliche Einflussnahme finanziell und z.T. organisatorisch unterstützt. Ohne diese Hilfe wäre das Symposium nicht möglich gewesen. Zeitgleich ergab sich eine Art historischer Verdichtung: Der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (G-BA) - mit der Frage der sozialrechtlichen Anerkennung der personzentrierten Psychotherapie nach Rogers konfrontiert - entschloss sich zu einer grundlegenden Neukonzipierung der Psychotherapierichtlinien. Der Vorschlag wurde nicht im Detail bekannt gegeben, die Frist zur Stellungnahme für die Bundespsychotherapeutenkammer als der Repräsentanz der Berufsgruppe war mit vier Wochen vorschriftswidrig kurz bemessen. Der G-BA hatte es mit seinem Vorstoß so eilig, dass er dabei das gesetzliche Stellungnahmerecht der Bundespsychotherapeutenkammer verletzte. Inhaltlich zielte die Initiative des G-BA darauf, den Verfahrensbegriff in der Psychotherapie tendenziell aufzulösen zugunsten von „Methoden und Techniken“ und die Anerkennung solcher Methoden und Techniken an den Nachweis ihrer „Versorgungsrelevanz“, d.h. an die Wirksamkeit bei häufig vorkommenden Störungen, zu binden. Ein Schelm, wer dabei die Absicht vermutet, der sich seit Jahren hinziehenden, längst zur Groteske geratenen sozialrechtlichen Anerkennung der Personzentrierten Psychotherapie weitere Hindernisse in den Weg zu legen. Mit der Aktion des G-BA erfuhr die lange zuvor entstandene Befürchtung der Initiatoren der Tagung eine unerwartete aktuelle und langfristig äußerst folgenreiche politisch-institutionelle Konkretion. Unter Zeitdruck und bei zwangsläufigem Fehlen der Detailkenntnis entstand die „Bonner Erklärung“, die sich entschieden gegen das Vorhaben des Gemeinsamen Bundesausschusses richtet und damit im Einklang mit der von dem Bundesparlament der Psychotherapeuten am 23.4.2005 auf dem 5. Deutschen Psychotherapeutentag verabschiedeten Resolution steht. Bei einer Gegenstimme wurde die „Bonner Erklärung“ am Ende der Tagung von den Teilnehmern verabschiedet. In den folgenden gut zwei Wochen schlossen sich mehr als 3000 Kolleginnen und Kollegen - das entspricht etwa 10% der Psychotherapeutenschaft - der Erklärung durch ihre Zeichnung an. Mit der Übergabe von Resolution und Namensliste der Zeichnenden an den Präsidenten der Bundespsychotherapeutenkammer war die öffentliche Diskussion gegen den Willen des GBA angestoßen. Wie sehr ein Nerv getroffen war, zeigte sich in einer äußerst giftigen Stellungnahme aus dem Vorstand eines führenden Psychotherapieverbandes, in der den Autoren u. a. Ignoranz gegenüber der Wissenschaft und Verhaftetheit in reinen Glaubenssystemen vorgeworfen wurde. Wenige Wochen nach dem „Unbehagen“-Symposium, am 3. April fand ein Symposium der Bundespsychotherapeutenkammer zur Neufassung der Psychotherapierichtlinien mit einer großen Anzahl wissenschaftlicher Experten statt. Die Kritik an dem Vorstoß des G-BA ging dort allerdings kaum von den Experten aus, sie blieb überwiegend den Zuhörern und Teilnehmern überlassen. In der Folgezeit legte die Bundespsychotherapeutenkammer eine umfangreiche Stellungnahme vor. Inzwischen, im August 2006, war es nicht eine psychotherapeutische Instanz, die die Initiative des G-BA gestoppt hat, sondern eine politische: Das Bundesministerium für Gesundheit hat den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Änderung der Psychotherapierichtlinien beanstandet. Das BMG wendet sich gegen die Umdefinition von "Verfahren" in "Methoden", und es weist die Forderung zurück, dass ein Verfahren, um anerkannt werden zu können, ein Indikationsspektrum – ausschließlich durch Effektivitätsstudien zu einzelnen Diagnosen – abdecken können müsse, das den Großteil der Prävalenz psychischer Störungen umfasse (Versorgungsrelevanz ). Dem BMG blieb es vorbehalten, darauf hinzuweisen, dass Psychotherapie mehr und anderes ist als die von mancher Seite zum Fetisch erhobene quantitative Ausmessung von Effekten an Störungen, die den Patienten artifiziell in voneinander isolierte Teile zerlegen. Die an erster Stelle geforderte Profession steht beschämt beiseite. Sie muss sich fragen und fragen lassen: Hat sie keine Seele, hat sie kein Verständnis für ihren kulturellen Auftrag, oder hat sie keine Kraft, sich gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenzustellen, die seelische Bedürfnisse ungenügend berücksichtigen oder gar verkennen. Unsere Veranstaltung war mitten in psychotherapiepolitische Turbulenzen geraten. Dabei war die Intention des Symposiums eigentlich mehr aufs Grundsätzliche denn auf Tagespolitik ausgerichtet gewesen. Die Themenvorgaben für die Referenten waren bewusst weit gefasst worden, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre persönliche Perspektive zur Rahmenthematik einzubringen. Auf diese Weise entstand - vordergründig - ein bunter Strauß unterschiedlicher Referate und Vorträge, der erst kurz vor der Tagung in die endgültigen thematischen Blöcke - die Themen der Arbeitsgruppen - gegliedert wurde. Trotz dieser vordergründigen Vielgestalt wird der aufmerksamen Leserin, dem aufmerksamen Leser nicht entgehen, dass sich an vielen Stellen gemeinsame Grundlinien finden und ebenso Unterschiede, wenn nicht Gegensätze, die vielleicht schon künftige Kontroversen ahnen lassen. Auf einige sei hingewiesen. Jürgen Kriz wirft in seinem Eröffnungsvortrag „Die Notwendigkeit einer Sinn-Perspektive in Psychologie und Psychotherapie“ der hegemonialen Psychotherapieforschung vor, nicht dass sie sich an naturwissenschaftlichen Denkweisen orientiere, sondern dass sie sich auf ein Bild von Naturwissenschaft aus dem 19. Jahrhundert beziehe, das diese selbst inzwischen weit hinter sich gelassen habe. Die Theorie komplexer Systeme, in den Naturwissenschaften inzwischen landläufig, liege viel näher an den nichtlinearen Abläufen, die für psychotherapeutische Prozesse charakteristisch seien, als die mechanistischen Prämissen aus dem vorletzten Jahrhundert. Damit entstehe kein Widerspruch zum notwendigerweise sinnverstehenden Vorgehen in der Psychotherapie. Im Gegenteil benötige eine aufgeklärte Psychotherapie beide Perspektiven. Pointiert findet sich diese Position auch bei Günther Schiepek, der von der Synergetik sogar als einem „unifying paradigm“ der Psychotherapie spricht und gleich die Brücke zur Neurophysiologie und Neurobiologie schlägt. Also Anschlussfähigkeit von naturwissenschaftlichen und psychotherapeutischen Paradigmen aneinander. Dieser Position steht auch Hans-Jürgen P. Walter nahe, der seine streitbare Kommentierung der Auseinandersetzung um den Status der „Schulen“ in der Psychotherapie mit dem Modell von Max Pagès zur Entwicklung von Polarisierungen in Gruppen unterfüttert. Einen besonderen Akzent setzt der Psychodramatiker Ferdinand Buer, der unter Bezugnahme auf die wissenschaftssoziologischen Arbeiten von Karin Knorr Cetina die Unterscheidung von Natur- und Sozialwissenschaften überhaupt in Frage stellt, seien sie doch beide soziale Konstruktionen, eingebunden in gesellschaftlich-historische Kontexte. Man meint, aus den Beiträgen der Referenten, die der systemischen Tradition nahestehen, den Aufschwung, den ihr Ansatz in den letzten Jahren erlebt hat, in Gestalt eines Optimismus herauszuhören, der - wenn er überhaupt ein Unbehagen registriert - dieses möglichst schnell überwinden will. Zu ihnen gehört auch Wilhelm Rotthaus, der in einem ganz anderen Bereich, nämlich in der Veränderung der Stellung des Kindes in der Gesellschaft, eine Bestätigung und ein weites Wirkungsfeld für systemisches Denken erkennt, namentlich das Konzept der Selbstorganisation ins Zentrum gerückt sieht. Deutlich anders fällt dagegen der Zungenschlag in den Beiträgen der Psychoanalytiker Klaus Jürgen Bruder und Jürgen Hardt aus. Bruder besteht nicht nur darauf, dass Sprachspiele einander nicht über- oder untergeordnet werden können (z. B. neurowissenschaftliches und psychotherapeutisch-hermeneutisches Sprachspiel), sondern dass hinter der Hegemonie des naturwissenschaftlich orientierten Diskurses mächtige gesellschaftliche Kräfte stehen, die an der Verdrängung der Frage nach dem Sinn – auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene – interessiert sind. Es geht ihm um mehr als um ein unaufgeklärtes Verständnis von Wissenschaft. In anderer Weise thematisiert Hardt unter Rekurs auf Freud das psychoanalytische Thema des Aufdeckens und Rekonstruierens dessen, was hinter dem „Alltagsverstehen“ liegt, um dieses erst transparent zu machen. Beide Referenten transzendieren damit den Bereich der Faktizität und szientifischer Logik. Das legt es nahe, den Beitrag von Morus Markard danebenzuhalten, der daran erinnert, dass alle Erfahrung auf der (theoretischen) Deutung, auf „Bedeutungen“ „im Medium gesellschaftlicher Denkformen“ beruht, ohne die wir uns empirische Sachverhalte und Handlungen nicht aneignen können. Damit ist aber auch gleich das Spannungsverhältnis von anschaulichen und nicht anschaulichen Aspekten von Erfahrbarem gegeben, die Unterscheidung von Sozialität und Gesellschaftlichkeit. Welche Dimensionen des Unanschaulichen, des Verdrängten, Ausgeblendeten muss eine Analyse umfassen, um ihrem Gegenstand gerecht zu werden? Hilfreich kann hier der von großer Stringenz getragene Entwurf von Uwe Laucken sein, der die „Varianten der Vergegenständlichung des Menschen“, die verschiedenen „Sprachspiele“, näherhin definiert und ihre wechselseitige Unableitbarkeit und Nicht-Reduzierbarkeit verdeutlicht: Physische, semantische und phänomenale Denkform sind strikt auseinanderzuhalten. Lauckens Beitrag geht u. a. der Frage nach, wie „transversale“ Beziehungen zwischen den Denkformen (Sprachspielen) gedacht werden können. Wie sieht ihr Wechselverhältnis aus, das kein kausales sein kann? Und wie weit reichen die Strukturanalogien zwischen diesen Denkformen? - Themen, die (u. a.) seit Gregory Bateson die systemische Tradition begleiten. Die in der „phänomenalen Denkform“ zu thematisierende phänomenale Welt ist „der Kosmos, in dem der Mensch erlebend-lebt“ (U. Laucken), und dieser ist narrativ strukturiert. Damit ist eine weitere Ebene angesprochen, die sich der funktionalistischen Subsumtion verweigert. Der Philosoph Stephan Grätzel kommt in einem tiefschürfenden Beitrag mit Kierkegaard, Paul Ricoeur und Hannah Arendt zu dem Ergebnis, dass das Selbst immer ein narratives ist und nicht identitär bestimmt werden kann. Die Frage nach dem „Wer“ ist zuletzt immer die Frage nach einer Geschichte, einer Handlung und einem Autor. Gleichsam als Illustration dazu lässt sich der Beitrag von Heiner Legewie lesen. Sein Beitrag veranschaulicht ebenso wie der von Thomas Schwinger die Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit, die dramatisch-szenenhafte Organisation menschlichen Lebens und Erlebens, aber eben auch dessen existenzielle Dimension. Das führt unvermeidlich zu der Frage, wie sich diese Ebene in der psychotherapeutischen Praxis mit ihren institutionellen Regulativen wieder findet. Darauf gibt Norbert Bowe in ganz anderem, nämlich berufspolitischem Kontext eine kritische Antwort. An einem „einfachen“ Fallbeispiel macht er klar, wie unangemessen eine eindimensionale symptombezogene Diagnostik und ihr Referenzsystem, die ICD 10, in nahezu jedem Einzelfall ist. Jede psychische Störung hat „systemische Zusammenhänge“, m. a. W. eine persönliche Geschichte, die - soweit sie sich überhaupt systematisieren lässt - vieldimensional ausfällt. Dass dem so ist, musste sich auch in der - großenteils in anderer Absicht bemühten - Forschung niederschlagen. Konsequenterweise kommt Inge Frohburg in ihrem Beitrag zu dem Ergebnis, dass die Idee der störungsbezogenen Indikation von Therapieverfahren in der Wissenschaft keine Grundlage findet. Der Beitrag ist inzwischen im „Psychotherapeutenjournal“ erschienen (2/2006, S. 130-139). Zum Verhältnis und zur Differenz von Wissenschaft und Profession äußern sich der Psychoanalytiker Michael Buchholz und der psychodramatisch orientierte Supervisor Ferdinand Buer - weithin übereinstimmend. Dieses Verhältnis kann nur ein sich wechselseitig informierendes sein (und das ist auch in hohem Maße wünschenswert), aber keines von Dominanz und Unterordnung. Beide Bereiche folgen ihren eigenen Logiken und ihren eigenen Interessen. Eine ganze Reihe der anderen Beiträge teilen diese Sicht, teils explizit, teils implizit. Keiner widerspricht ihr ausdrücklich. - Ein sehr anderes Bild als es die psychotherapiepolitische Landschaft in der Republik derzeit abgibt. Beispiele wissenschaftlicher Information für die Profession liefern die Beiträge von Klaus Fröhlich-Gildhoff und Gert-W. Speierer, beide der personenzentrierten Tradition verpflichtet. Beiden geht es um die Analyse von Therapieprozessen, bei Fröhlich-Gildhoff und Mitarbeitern bei Kindern und Jugendlichen, bei Speierer um ein Instrumentarium zur Prozessanalyse bei Erwachsenen. Beider Ergebnisse sind aufschlussreich und plausibel, laden aber auch zur Diskussion darüber ein, wieweit Forschung dem „Alltagsverstehen“ (Hardt) verhaftet bleibt oder ob sie dieses überschreiten kann. Insofern die Beiträge von Fröhlich-Gildhoff und Speierer einen Einblick in die Denkweise personenzentrierter Psychotherapeuten liefern, gehört das Referat von Beate Steiner, eine Darstellung der Vorgehens- und Wirkweise der Katathym-Imaginativen Psychotherapie (KIP) an ihre Seite. Das auf Hanscarl Leuner zurückgehende Verfahren („Katathymes Bilderleben“) hat sich mit der Therapie über das imaginierte Bild und die imaginierte Szene einen besonderen Zugang und inzwischen auch ein breites Anwendungsspektrum gesichert. Christoph Schmidt-Lellek hat mit seinen aus der Ästhetik in den Bereich der Psychotherapie transponierten Kriterien zum psychotherapeutischen Kitsch u. a. einen Maßstab zur Bewertung von Heilsversprechungen in unserem Feld geliefert. Dem müssen sich alle stellen. Nicht nur fragwürdige Angebote aus dem Grenzbereich von Psychotherapie wären hier kritisch zu durchmustern, die meisten Hegemonieansprüche - woher sie auch kommen mögen - dürften sich an diesen Kriterien brechen. Nicht als thematische Klammer, aber als bewusst registrierte Unterströmung war die gesellschaftlich-politische Lage, in die Psychotherapie eingebunden ist, weithin ein Bezugspunkt des Symposiums. Fünf Wochen nach dem Symposium, am 20. April 2006, wurde im „Deutschen Ärzteblatt“ über die Cosgrove-Studie berichtet. Danach waren über die Hälfte der Autoren des „Diagnostic Statistical Manual“ (DSM IV) in Interessenkonflikte mit der Pharmaindustrie verwickelt. Es besteht der Verdacht, dass zumindest einige Autoren Diagnosen so definiert haben, dass sie genau zu den Indikationen bestimmter Psychopharmaka passen. Diese Meldung ging auch durch die überregionale Presse. Die wenige Jahre ältere in Deutschland verwendete „International Classification of Diseases“ (ICD 10) der WHO ist in weiten Bereichen mit dem DSM IV strukturanalog und annähernd deckungsgleich. Der Skandal um das DSM IV wirft auch einen Schatten auf die ICD 10 als weithin akzeptiertes Referenzsystem („Bibel“) der Psychotherapieforschung und -praxis. Kritische Nachfragen nach der Genese der ICD 10, möglichem Bezug zu Pharmainteressen und/oder einer möglicherweise problematischen Orientierung an pharmakologischen Indikationen sind aus der deutschen Psychotherapeutenschaft bisher nicht bekannt geworden. Nahezu hellsichtig nimmt sich da Klaus Jürgen Bruders „Psychotherapie im Diskurs der Macht“ aus, der der Destruktivität einer gesellschaftlichen Entwicklung nachgeht, die die kritische Frage nach ihrer Rationalität und ihrem Sinn weitgehend zu unterbinden weiß. Gleichsam als Aufmunterung und Appell zum Widerstand lässt sich die Argumentation des Philosophen Friedrich Voßkühler lesen. Über eine ähnlich kritische Sicht auf die Gesellschaft, die u. a. durch den Verlust des „vollen Sprechens“ (Lacan) gekennzeichnet ist, kommt er über die Aktualisierung des Hegel'schen Verhältnisses von „Herr und Knecht“ zur Forderung nach und Aufforderung zur „Subjektwerdung“, zur ethischen „Souveränität“ (Badiou), die ohne wirklichen „Bruch in der Ordnung“ nicht zu haben ist. Neben vielem anderen bleibt die Anregung, die Fragen nach der Rolle des „Kontrafaktischen“, des „Transzendierens des Alltagsverstehens“, des „Unanschaulichen in der Erfahrung“ und deren Beziehung zur bereits im Gange befindlichen Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Basisparadigmen (Synergetik vs. mechanistisches Naturverständnis) als Grundthemen der Psychotherapie in den Blick zu nehmen. Wer die kulturellen Auswirkungen der ökonomischen Krise nicht „verdrängen“ will, wird sich dem kaum entziehen können.
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