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Kurzvorstellung zur Übersicht
19.04.2006
Bruno Hildenbrand (Hrsg.): Erhalten und Verändern. Rosmarie Welter-Enderlins Beitrag zur Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung
Hildenbrand: Erhalten und Verändern Carl-Auer-Verlag Heidelberg 2006

168 Seiten, 13 Abb., Kartoniert

Preis 19.95 €/ sFr 35.00
ISBN 3-89670-510-5
Carl-Auer-Verlag Heidelberg


Eine Festschrift soll eine herausragende Persönlichkeit und ihre Beiträge für ein spezifisches Fach würdigen, dies ist ihr vorrangiger Zweck. Eine Rezension ist daher in solchen Fällen nicht recht am Platze. Sie kann ja nur die Würdigung entweder (gewissermaßen als ein weiterer Beitrag) nachvollziehen und verstärken oder durch eine Kritik der einzelnen Beiträge den Zweck der Festschrift aus den Augen verlieren und ihren Sinn entwerten. Beides ist aber nicht ohne weiteres mit der Funktion von Rezensionen zu vereinbaren. Dieses Dilemma wird natürlich nur verstärkt, wenn der "Rezensent" gleichzeitig Autor eines Beitrages der Festschrift ist.
Darum soll gleich an dieser Stelle auf das Vorhaben einer Rezension verzichtet werden. Und zwar, wie sich jeder denken kann, nicht um etwaige Kritik zurückzuhalten, sondern darum, auch an dieser Stelle die Würdigung von Rosmarie Welter-Enderlin und ihren Beiträgen für die Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung in den vergangenen drei Jahrzehnten ganz in den Vordergrund zu stellen. Anstelle einer Besprechung soll daher an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages das Vorwort des Herausgebers Bruno Hildenbrand veröffentlicht werden, der als Soziologe und Familienforscher seit langen Jahren eng mit Rosmarie Welter-Enderlin zusammenarbeitet und wie kein Zweiter berufen ist, ihre Ehrung in passende Worte zu setzen (T.L.):




Man kann Dinge vorn und hinten miteinander verbinden,
oder oben und unten, aber irgendwo, an irgendeiner Stelle,
sollte man jedes von ihnen ungebunden lassen, damit es,
wenn schon nicht sich von der Stelle bewegen, so doch
flattern kann; flattern, das ist schon fast alles, was jeder von uns will;
an Freiheit will.
Ernst Jandl


Bruno Hildenbrand:
Wurzeln und Flügel – eine Metapher in ihrem biografischen Kontext
 
Wurzeln und Flügel, Herkunft und Zukunft zusammen zu denken und als Leitfaden beraterischer und therapeutischer Arbeit zu nehmen ist das Markenzeichen von Rosmarie Welter-Enderlin. Sie hat daran unbeirrt festgehalten, als über eine lange Zeitspanne der Pionierzeit der systemischen Therapie der Blick zurück geradezu verpönt war. Die weithin vertretene Auffassung war damals: Die, die zurückblicken, sind die anderen, von denen man gerade im Begriff war, sich abzusetzen, namentlich von der Psychoanalyse. Mit dem Verweis auf die Frau Lot erfuhr diese Blickrichtung biblische Verdammnis. Jene, die abendländisch sozialisiert sind, wissen, wie es einer ergeht, die zurückblickt: Schlimmer kann es nicht kommen.
Wer zurückblickt, erzählt Geschichten. Dieses Geschichtenerzählen wurde, nachdem für längere Zeit das Arbeiten im Hier und Jetzt die Richtschnur abgab, allmählich zur neuen Orientierung in der Entwicklung der systemischen Beratung und Therapie. Allerdings wurde eine ganz neue Form des Erzählens propagiert, die mit Herkunft und Wurzeln wenig zu tun hat. Propagiert wurde ein Erzählen nach vorne, das sich nicht um das Vergangene kümmert, das Erzählen einer Zukunft ohne Vergangenheit, mündend in die Erfindung des eigenen, von sozialen Bindungen befreiten Ich im Zeitalter der »Postmoderne« (einer Epoche, die, nüchtern betrachtet, ihre Zukunft bereits schon wieder hinter sich hat).
Mit ihrer beharrlichen Orientierung an Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen, an Wurzeln und Flügeln eben, verweigert sich Rosmarie Welter-Enderlin sowohl der »Arbeiten-im-Hier-und-Jetzt«-Mode als auch der »Nur-die-Zukunft-gilt«-Mode gleichermaßen. Nicht, dass sie diese Entwicklungen nicht wahr- und ihnen das entnimmt, was für die Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung nützlich ist. Angeschlossen zu bleiben an die Entwicklung des Feldes ist ihr schon deshalb unverzichtbar, weil sie gestalten will – wer sich selber ins Abseits stellt, indem er oder sie sich Entwicklungen verweigert, hat nichts zu gestalten. Rosmarie Welter-Enderlin widersetzt sich lediglich einer Haltung, die Entwicklung der systemischen Therapie als eine Abfolge von Moden zu organisieren. Sie orientiert sich stattdessen an einem festen Bezugspunkt, und das ist eben die Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft.
Diese Orientierung eignet sich schon deshalb nicht als Mode, weil sie zu komplex ist. Moden sind auf einfache Botschaften angewiesen, die möglichst polarisieren. Dialektisch verknüpfte Konzepte, die dazu noch in einer Sprache vorgetragen werden, die direkt dem Alltäglichen entnommen ist, machen als Mode nichts her. Damit verstößt Rosmarie Welter-Enderlin gegen eine Grundregel der an Moden orientierten Therapieszene, die ungefähr lautet: Formuliere eine einfache, polarisierende Botschaft.
Es gibt aber noch eine zweite Regel. Sie hängt damit zusammen, dass die einfachen Botschaften so vorgetragen werden müssen, dass sie furchtbar komplex und damit gescheit und Furcht erregend zugleich klingen. Hierfür eignet sich die Formulierung von Geheimcodes. Einer dieser Geheimcodes lautet: »Unterschiede, die einen Unterschied machen.« Wer diese Codes beherrscht und an geeigneter Stelle zu verwenden weiß, macht Eindruck – nicht überall, aber doch nachhaltig. Auch gegen diese Regel verstößt Rosmarie Welter-Enderlin.
Moden entgeht sie durch überlegte und behutsame Orientierung an Traditionen, die sich bewährt haben. Die Verknüpfung von Wurzeln und Flügeln hat ihre Grundlage in einer solchen Tradition. Sie geht zurück auf Aristoteles und gründet damit in der Antike:
»Was hier als Lebensgeschichte im Blick ist, lässt sich nicht als ein Produkt aus Vorausgegangenem verstehen, sosehr seine Bedingungen auch dort zu suchen sind. Als ›Entelechie‹-Geschehen erschließt sich die Geschichtlichkeit einer Biographie vielmehr in erster Linie aus der Zukunft. Sie lässt sich zumindest nicht ohne eine angemessene Berücksichtigung derselben als einer eigenständigen Dimension erfassen. Somatische und psychosoziale Tatsachen werden erst durch die Art und Weise, wie wir sie uns ›zu Eigen‹ machen oder auch nicht, zu lebensgeschichtlichen Ereignissen, aus denen sich, wie aus Mosaiksteinen, eine Biografie zusammenfügt« (Blankenburg 1985, S. 71).
Mit der Wurzel-Flügel-Metapher greift Rosmarie Welter-Enderlin demnach Aristoteles’ Begriff der Entelechie auf und macht ihn für die Entwicklung einer Richtung von Beratung und Therapie fruchtbar, die einen Ausweg aus einer individualisierenden Betrachtung menschlicher Probleme sucht und die Sozialität des Menschen in den Mittelpunkt rückt, ohne ihn damit als Opfer sozialer Verhältnisse zu begreifen. »Entelechie« könnte auch in die Frage gekleidet werden: »Was macht der Mensch aus dem, was die Verhältnisse aus ihm gemacht haben?« Aristoteles selbst wollte mit diesem Begriff ausdrücken, dass in Organismen ein Prinzip der Gestaltung vorhanden ist. Im heute aktuellen Begriff der »Selbstorganisation« wird dieser Gedanke wieder aufgegriffen.
Es ist in der letzten Zeit, vor allem in der amerikanischen Literatur aus dem Feld der systemischen Therapie, üblich geworden, Aristoteles zu zitieren. Mein Verdacht ist, dass damit umfassende Gebildetheit vorgespiegelt werden soll, denn die entsprechenden Texte sind, was intellektuellen Tiefgang anbelangt, von den Aristoteles-Verweisen nur selten gedeckt. Rosmarie Welter-Enderlin ihrerseits zitiert nicht Aristoteles, das Vorspiegeln von Bildung hat sie nicht nötig. Wie aber schleicht sich dieser griechische Philosoph in ihr Denken? Meine Vermutung ist, dass er über Goethe dort hineingeraten ist. Bei Goethe kennt sich Rosmarie Welter-Enderlin sehr gut aus, und Goethe hat mit seinem Motto des »Stirb und werde!« reichlich bei Aristoteles geschöpft (1).
Was erfahren wir also über Rosmarie Welter-Enderlin als Beraterin und Therapeutin, als Gestalterin von Entwicklungen im Feld der systemischen Beratung und Therapie, wenn wir ihre Wurzel-Flügel-Metapher genauer unter die Lupe nehmen? Wir erfahren dreierlei: 1) Die Wahl einer durch inneren Widerspruch gekennzeichneten Metapher zeigt eine Bereitschaft zu widerständigem Denken (deren erwünschte Nebenwirkung darin besteht, für Moden nicht anfällig zu sein). 2) Die alltagsweltliche Begrifflichkeit dieser Metapher weist auf die Bereitschaft, den Anschluss an die alltäglichen Anforderungen beraterischer und therapeutischer Arbeit zu halten. 3) Dass die zentrale Metapher »Wurzeln und Flügel« ohne Verlust übersetzt werden kann in einen philosophischen Begriff der Antike, zeigt die Fundierung des Denkens von Rosmarie Welter-Enderlin in Denktraditionen, die alle Moden überlebt haben.

In welchem biografischen Kontext findet eine solche fachliche Grundhaltung einen fruchtbaren Boden? Rosmarie Welter-Enderlin wurde 1935 als ältestes Kind in eine selbstständige Gärtnerfamilie in Uster im Kanton Zürich, etwa 20 km südöstlich der Kantonshauptstadt gelegen, geboren. Ihren Vater beschreibt sie als einen Mann, der sich immer wieder vom Alltagsbetrieb des Geschäfts zurückzog, um sich in einem stillen Winkel der großen Literatur vornehmlich der Aufklärung zu widmen. Ihre Mutter wiederum schildert Rosmarie Welter-Enderlin als eine Frau, die die Familie und ihren Betrieb tatkräftig und mit menschlicher Wärme zusammenhielt. Diese Familie war eine Geschäftsfamilie im Stil des alteuropäischen Ganzen Hauses, sichtbar am gemeinsamen Mittagstisch, an dem sich nicht nur die Familienmitglieder, sondern auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versammelten. Auch Patientinnen und Patienten einer nahe gelegenen psychiatrischen Klinik haben immer wieder, so wird berichtet, dazugehört.
Als Idylle beschreibt Rosmarie Welter-Enderlin diese Familienkonstellation nicht. Von einer Idylle des Ganzen Hauses sprechen ohnehin nur jene, die den alteuropäischen Familienbetrieb im Stil der Hausväterliteratur und der ihr eigenen »Butzenscheibenromantik« (Ingeborg Weber-Kellermann) mit der so genannten Großfamilie verwechseln, die es nachweislich in Europa westlich einer Linie zwischen Triest und St. Petersburg nie gegeben hat. Auch im Ganzen Haus ist die aus zwei Generationen bestehende Kernfamilie gegen die ältere Generation, gegen die Seitenverwandten und gegen die der Familie nicht angehörenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern strukturell (d. h. nicht notwendig auch emotional) abgegrenzt. Dass man gleichwohl gemeinsam die Mahlzeiten einnimmt und, wenn es sich nicht anders einrichten lässt, unter einem Dach lebt, ist Folge der Alltagspragmatik eines solchen Betriebs.
Weil Menschen unterschiedlicher Stellung gegenüber der Familie im Familienbetrieb in dieser Form gleichermaßen zusammensind, ist die Trennung zwischen Ökonomie und Privatleben nicht hilfreich. An ihre Stelle tritt die von den Ökonomen so genannte Moralökonomie. Faktisch heißt das, dass berufliche Leistung nicht das alleinige Kriterium der Zugehörigkeit ist. Verwandte gehören dazu, weil sie eben Verwandte sind. Lehrlinge, oft im jugendlichen Ablösealter von der Familie getrennt, finden, wenn sie Glück haben, mütterlichen Zuspruch von der Lehrherrin und väterliche Unterstützung vom Lehrherrn (wir sprechen hier von den 30er-, 40er- und 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts).
Wer in einem solchen familienbetrieblichen Zusammenhang aufwächst, kann mit der einfachen Gegenüberstellung von Familie als einem »haven in a heartless world« (Christopher Lasch) und einer Berufswelt, die irgendwo da draußen ist und von der man als Kind nur weiß, dass von dort das Geld herkommt, das der Vater (mitunter auch die Mutter) dort irgendwie verdient, wenig anfangen. Die Welt mit ihren Konflikten, Widersprüchen, Möglichkeiten und Grenzen sitzt für alle, auch für die Kinder, erfahrbar mit am Familientisch. Wenn es gut geht, erleben die Kinder ihre Eltern nicht im klassischen Muster des offenen Patriarchats und des geheimen Matriarchats, sondern sie erleben die Eltern als Partner, die gemeinsam die Verantwortung für das Geschäft und für die Familie tragen. Und vor allem die Älteste – um wieder auf die Familie Enderlin zurückzukommen – in der Geschwisterreihe ist dann auch die, die früher, als das in der städtischen Kleinfamilie der Fall ist, in Verantwortung hineinwächst. Vergegenwärtigt man sich die Lebensverläufe der Kinder aus dieser Gärtnerfamilie und sieht man sie alle einmal beisammen bei einem Fest (oder einzeln bei den Jahresversammlungen des Vereins, der das Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung  in Meilen am Ostufer des Zürichsees trägt), dann wird rasch deutlich, dass sie von dem, was ihnen ihre Eltern an Rahmen für ihre individuelle Entwicklung geboten haben, reichlich profitiert und die damit gebotenen Möglichkeiten genutzt haben.
Der berufliche Werdegang von Rosmarie Welter-Enderlin ist ein Exempel einer Antwort auf die Frage, was der Mensch aus dem macht, was die Verhältnisse aus ihm gemacht haben. Den vorgegebenen Rahmen, der im vorigen Abschnitt skizziert wurde, eignet sich Rosmarie Welter-Enderlin an und transformiert ihn in ein Aufgegebenes, das in Individuierung resultiert – wir sehen hier die bekannte Wurzel-Flügel-Dialektik am Wirken. Im Klartext heißt das, dass Rosmarie Welter-Enderlin erst einmal die Matur ablegt. In den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts, als Mädchen zumal, gehört sie damit zu einer deutlichen Minderheit. Es ist notabene eine Wirtschaftsmatur, ein Kompromiss zwischen den Realien und der Welt der Wissenschaften. Das Akademische muss noch eine Weile warten. Danach lockt zunächst das Hotelfach, und Rosmarie Welter-Enderlin berichtet auch von einer Zeit, in der sie als Familienhelferin auf einem Bauernhof in einem abgelegenen Engadiner Tal gearbeitet hat. Dann macht sie in Zürich eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin (das Studium der Sozialarbeit wurde in der Schweiz erst vor wenigen Jahren akademisch), und in den 60er-Jahren werden neue, größere Segel gesetzt: Zusammen mit ihrem Mann Rudolf Welter macht sie sich auf nach Ann Arbor, Michigan. Sie studiert an der dortigen, weit über die Landesgrenzen hinaus bekannten Universität und erwirbt den Master of Social Science and Social Work. Sie erfährt eine solide Ausbildung in verschiedenen Therapieformen, ihr Herz hängt aber an der allmählich systemisch sich ausbildenden Familientherapie, die sie sich bei den international berühmten Meisterinnen und Meistern des Faches aneignet. Rudolf Welter, ursprünglich Dachdecker, dann Architekt, ergänzt dort seine akademische Bildung um das Fach Umweltpsychologie – es wird sein weiteres Berufsleben bestimmen.
Nach zehn Jahren USA-Aufenthalt kehren Rosmarie Welter-Enderlin und Rudolf Welter – inzwischen wurden zwei Kinder, Barbara und Stefan, geboren – zurück in die Schweiz. Rosmarie Welter-Enderlin wird nun zur Pionierin der systemischen Beratung und Therapie in diesem Land und darüber hinaus.

In Zürich wird das Institut für Ehe und Familie ihre Wirkungsstätte, dessen Co-Leitung sie alsbald übernimmt. Als dort Mitte der 80er-Jahre ein Leiterwechsel ansteht, beschließt sie, sich sowohl in eigener Beratungs- und Therapiepraxis als auch als Ausbildnerin in diesem Fach selbstständig zu machen und ein eigenes Institut an ihrem neuen Heimatort, Meilen am Ostufer des Zürichsees, zu gründen und zu leiten. Als Unterstützer dieses Plans kann sie auf Psychologenseite Robert Wäschle, ärztlicherseits Reinhard Waeber gewinnen. Ein Jahr später erweitert sie dieses Trio um den Verfasser, einen Soziologen mit praktischer Psychiatrieerfahrung (als Mitarbeiter), so wird es ein Quartett.
Der ihr zugewachsenen Rolle als Pionierin der systemischen Therapie und Beratung im deutschsprachigen Raum widmet sich Rosmarie Welter-Enderlin mit großem Ernst und Engagement. Schon bald organisiert sie federführend große internationale Tagungen in Zürich, zu denen jeweils die anerkannten Autoritäten weithin beachtete Beiträge leisten. Die umfangreiche internationale Vernetzung des Meilener Instituts nimmt hier ihren Anfang, ihre Grundlegung erfolgte aber bereits während des Aufenthalts von Rosmarie Welter-Enderlin an der Universität in Ann Arbor. Das Ausbildungsinstitut findet mit dem »Meilener Konzept systemischer Therapie und Beratung«, das die Meilener Gruppe mit Rosmarie Welter-Enderlin als Spiritus Rector zwischen 1988 und 1996 ausarbeitet und im Verlag Klett-Cotta publiziert (eine vierte, überarbeitete und erweiterte Auflage erschien 2004), eine eigenständige fachliche Grundlage. Dieses Konzept hat dem Meilener Institut eine Stellung von Rang in der deutschsprachigen Landschaft der systemischen Therapie und Beratung gesichert. Dazu trug auch die Funktion der Schriftleiterin der Zeitschrift System Familie, die Rosmarie Welter-Enderlin in den 1990er-Jahren innehatte, in erheblichem Umfang bei.
Was die Forschung anbelangt, so engagiert sich Rosmarie Welter-Enderlin zunächst in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe zur Untersuchung des Krankheitsverständnisses und der Alltagsbewältigung von Familien mit chronischer Polyarthritis. Die Publikation der Forschungsergebnisse verantwortet sie eigenständig. Des Weiteren untersucht sie Verläufe von Paartherapien, die damit verbundene Langzeitperspektive ist selten in der Forschungslandschaft, die von kurzatmiger Verwertung gekennzeichnet ist. In einem laufenden Projekt über junge Paare in der Deutschschweiz, in Südwestdeutschland und in Vorarlberg, das aus Überschüssen des Meilener Instituts finanziert wird, widmet sich Rosmarie Welter-Enderlin schwerpunktmäßig jenem Projektteil, der der Weiterentwicklung der Paarberatung und Paartherapie gilt.
Trotz dieser umfangreichen und kontinuierlichen Forschungstätigkeiten hat Rosmarie Welter-Enderlin über den Master of Social Science and Social Work hinaus keine weiteren akademischen Würden angestrebt, obwohl es ihr ein Leichtes gewesen wäre, diese zu erlangen, und obwohl sie auch in der universitären Lehre (am Institut für Psychologie der Universität Zürich) über Jahre hinweg tätig war. Eine bereits begonnene Dissertation stellte sie damals zugunsten der akademischen Laufbahn ihres Mannes zurück, so erfahren wir von Rudolf Welter.
Zur Rolle der Pionierin zählt auch, dass Rosmarie Welter-Enderlin sich nicht scheut, einer nichtfachlichen Öffentlichkeit ihre Kenntnisse über zwischenmenschliche Probleme und ihre Lösungsmöglichkeiten nahe zu bringen. Dazu gehören regelmäßige Beiträge für Funk, Fernsehen und die Printmedien. Der nahe liegenden Gefahr, den Alltag zu psychologisieren, ist sie dabei nie erlegen. Die Grenze zwischen Alltag und Therapie ist ihr zu wichtig, und ihr Respekt vor der Autonomie der Lebenspraxis ist zu groß, als dass sie in diese Falle laufen würde.
Diese unablässigen Pionierleistungen wurden im Jahr 2003 angemessen honoriert. Rosmarie Welter-Enderlin erhielt von der American Family Therapy Academy, einem USA-weiten Zusammenschluss der bedeutendsten Familientherapeutinnen und Familientherapeuten, den »Award für ihren herausragenden Beitrag zur Theorie und Praxis der Familientherapie«. In ihrer Laudatio formulierte Evan Imber-Black unter anderem:
»Rosmarie Welter-Enderlin hat ein komplexes, kontextreiches Werk geschaffen, das die innere Welt der Kognition und des Affekts umschließt; das die Beziehungswelt der Klienten durch und durch respektiert und seine Aufmerksamkeit sowohl auf Sinngebung als auch auf Handlung richtet; das der geschichtlichen Einbettung der einzelnen Klienten gerecht wird und besonders die vielen Weisen berücksichtigt, in denen die europäische Geschichte und vor allem der Zweite Weltkrieg in den Interaktionen unserer Tage immer noch nachhallt; und nicht zuletzt hinterfragt dieses Werk die politische und soziale Welt der Klienten, wie sie sich beispielsweise an der geschlechtsbezogenen Ungleichheit in der Familie und am Arbeitsplatz darstellt.«
In ihrer Dankesrede betonte Rosmarie Welter-Enderlin die nachhaltige Bedeutung ihrer fachlichen Wurzeln, die gleichermaßen in (alt)europäischen Denktraditionen wie auch in der Tradition der in den USA entwickelten bedeutenden Strömungen der Familientherapie zu finden seien.
Im Jahr nach der Preisverleihung wurde Rosmarie Welter-Enderlin in die Redaktion des Family Process, einer der international führenden familientherapeutischen Zeitschriften mit Sitz in den USA, berufen.
Schon bald nach der Gründung des Meilener Instituts erweiterte Rosmarie Welter-Enderlin ihren Wirkungskreis auf Bereiche jenseits des Therapeutischen. Zunächst wandte sie sich verstärkt dem Coaching, also der Beratung von Menschen in beruflichen Zusammenhängen jenseits der Therapie, zu, insbesondere in großen Organisationen aus dem Profit- wie auch Non-Profit-Bereich sowie in der öffentlichen Verwaltung. Die nach wie vor drängende Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf kristallisierte sich in diesem Zusammenhang als ein bedeutendes, nicht aber als einziges Thema heraus. Zunehmend wurde Rosmarie Welter-Enderlin zu einer gefragten Fachfrau in dieser Thematik, vor allem dann, wenn es darum ging, obere Führungsebenen für entsprechende Lösungswege zu sensibilisieren.
Ein besonderes Anliegen ist Rosmarie Welter-Enderlin seit einigen Jahren die Beratung von Familienbetrieben v. a. bei anstehenden Übergaben eines Betriebs an die jüngere Generation. Damit sieht es zunächst danach aus, als sollte sich mit diesem Interessenschwerpunkt jenseits der Therapie ein Kreis schließen. Wer aber Rosmarie Welter-Enderlin kennt, weiß, dass es bei ihr ein Zurück zu den Wurzeln nur dann geben kann, wenn sie gleichzeitig die Flügel ausbreitet. Dies ist bekanntlich nicht altersgebunden. Von einem Zurück zu den Wurzeln kann auch deshalb nicht gesprochen werden, weil Rosmarie Welter-Enderlin diese Wurzeln nie aufgegeben hat. Dafür spricht u. a., dass das Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung zwar kein Familienbetrieb ist, aber doch einige seiner Elemente aufgenommen hat. Barbara Welter hat dafür den passenden Ausdruck gefunden, wenn sie von den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft als Rosmaries »Gspänli« spricht, womit im Schweizerdeutsch der Freundeskreis gemeint ist (2).
Die in diesem Band versammelten Beiträge stammen von Kolleginnen und Kollegen, mit denen Rosmarie Welter-Enderlin seit vielen Jahren engen Kontakt pflegt. Die Auswahl diese Beiträge wird vom Herausgeber alleine verantwortet und ist daher von seiner persönlichen Perspektive geprägt. Sie ist getragen von der Hoffnung, damit ein umfassendes, wenn sicher auch nicht erschöpfendes Bild von der Breite und von der Dichte des Netzwerkes zu geben, das sich Rosmarie Welter-Enderlin in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut hat und das sie nach wie vor pflegt.
Dieser Band wird eröffnet mit einem Artikel von Tom Levold, der neben seiner beraterischen, therapeutischen und Autorentätigkeit an prominenter Stelle gestaltend auf die Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung einwirkt – als treibende Kraft in der Systemischen Gesellschaft, als Mitorganisator des hinsichtlich der Teilnehmerzahl alle Erwartungen übersteigenden V. Congress of the EFTA European Family Therapy Association 2004  in Berlin und als Gründer und (alleiniger) Redakteur der Internet-Zeitschrift Systemagazin. Tom Levold gehört zu den ersten Adressen, wenn es die Geschichte, den aktuellen Stand und mögliche Zukünfte der systemischen Beratung und Therapie aus erster Hand zu berichten und einzuschätzen gilt, und seine langjährige freundschaftliche Arbeitsbeziehung zu Rosmarie Welter-Enderlin macht ihn zu einem hervorragenden Zeugen deren Wirkens.
Es folgen zwei Kapitel, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Therapeutinnen und Therapeuten zu Wort kommen, deren Namen mit Epochen in der fachlichen Entwicklung von Rosmarie Welter-Enderlin verbunden sind. Evan Imber-Black  und Lascelles Black aus New York vertreten einen Habitus therapeutischen Handelns, welcher die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens hervorhebt und daher dem Erzählen von Geschichten (nach rückwärts und nach vorwärts) einen hohen Stellenwert beimisst. Pauline Boss aus Les Paul/Minnesota steht für die Zeit, in welcher Stress und Coping ein vorrangiges Thema in der Arbeit von Rosmarie Welter-Enderlin war, und mit ihrem Beitrag zur Resilienz schreibt sie die Entwicklung der Stress-Coping-Forschung nicht nur fort, sondern schließt auch an einen aktuellen Schwerpunkt der Arbeit von Rosmarie Welter-Enderlin an. Marianne Krüll aus Bonn findet hier ihren Platz als Wissenschaftlerin, die mit Rosmarie Welter-Enderlin das Interesse an Geschlechterbeziehungen teilt.
In der Entwicklung des Meilener Konzepts systemischer Therapie und Beratung, deren erste Phase mit der Veröffentlichung des zugehörigen Buches abgeschlossen war, spielt das Thema der affektlogischen Rahmung eine zentrale Rolle; es beherrscht die zweite Phase dieser Entwicklung. Hatten wir uns zunächst den philosophischen Konnotationen des Begriffs »Begegnung« zugewandt, so war es Rosmarie Welter-Enderlin, die uns darauf aufmerksam machte, dass auch die empirischen Wissenschaften einiges dazu zu bieten hätten. Als Glücksfall erwies sich in der Folge die Kooperation mit der Lausanner Gruppe um Elisabeth Fivaz. Dieser Gruppe gelang es in hervorragender Weise, die Bedeutung von affektiven Beziehungen in der menschlichen Entwicklung sowohl in entwicklungspsychologischer als auch in therapeutischer Sicht empirisch herauszuarbeiten und beide Perspektiven zu verbinden. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Datengenerierung mittels eines komplexen Designs der Videoaufzeichnung. Dessen Vorteil ist zugleich sein Nachteil: Aus Anonymisierungsgründen können die Daten der Öffentlichkeit nicht so präsentiert werden, dass die Schlussfolgerungen unmittelbar nachvollzogen werden können. Roland Fivaz hat nun einen überzeugenden Weg gefunden, diese Klippe zu meistern; von ihm stammen die Illustrationen zum Beitrag von Elisabeth Fivaz.
Luc Ciompi, ebenfalls aus Lausanne, ist nicht nur ein Pionier der Sozialpsychiatrie mit einem Hang zu unkonventionellen Verfahren in der Entwicklung der psychiatrischen Akutversorgung (bis zu seiner Emeritierung als ärztlicher Direktor der sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern und darüber hinaus), deren innovativer Charakter nach wie vor die sozialpsychiatrische Diskussion bewegt und voranbringt. Er hat sich auch grundlagentheoretisch mit dem Zusammenhang von Affekt und Logik auseinander gesetzt, und das seit den frühen 1980er-Jahren. Zu diesem Band trägt er bei, indem er die sozialpsychiatrische Perspektive zum Ausgangspunkt nimmt, um zu jenem Thema zu gelangen, das, wie bereits erwähnt, derzeit Rosmarie Welter-Enderlins Interesse einnimmt: die Resilienz.
Monika Stocker, Vorsteherin des Sozialamts der Stadt Zürich und Mandatsträgerin der Grünen Partei, und Moritz Leuenberger, Bundesrat in Bern, Bundespräsident und Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, vertreten auf je eigene Weise jenes Feld, das Rosmarie Welter-Enderlin ebenso ein Anliegen ist wie die Therapie: das politische Gemeinwesen. Durch eine Parteibrille nimmt Rosmarie Welter-Enderlin diese Öffentlichkeit nicht wahr; den in der Schweiz zunehmend erstarkenden rechtspopulistischen Strang ausgenommen, stellt sie jenen ihr Fachwissen zur Verfügung, die ihr Bild vom Menschen teilen: die Bezogenheit (Wurzeln) und Zukunftsorientierung (Flügel) gleichermaßen im Auge haben und damit den Bürger als Citoyen im Sinne der Aufklärung begreifen.
Mit dem letzten Kapitel kehren wir zurück zum biografischen Ausgang von Rosmarie Welter-Enderlin, der geprägt ist von der Spezifik des Familienbetriebs. Rosmarie Welter-Enderlin hat immer wieder Projektthemen gemeinsam mit ihrem Mann Rudolf Welter bearbeitet, sie stehen in ständigem Fachgespräch miteinander, bei dem der Küchentisch einen wichtigen Schauplatz bildet, und sie unterhalten seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eine Bürogemeinschaft. In den gelebten Alltag dieser Kooperation gewährt Rudolf Welter einen Einblick.
Abschließend sei dem Herausgeber dieser Festschrift ein Wort in eigener Sache erlaubt. Es war Rosmarie Welter-Enderlin, die seinen familiensoziologischen, sozialisationstheoretischen und professionalisierungstheoretischen Arbeiten den Weg in die Welt der systemischen Therapie gebahnt hat und immer noch bahnt. Nicht nur ihm, sondern auch der Weiterentwicklung der Klinischen Soziologie in ihrem Bemühen, soziologisches Wissen der gesellschaftlichen Praxis zugänglich zu machen, erweist sie damit einen unschätzbaren Dienst. Dafür sei Rosmarie Welter-Enderlin – auch mit dieser Festschrift – bedankt.

Literatur

Blankenburg, W. (1985): »Geschichtlichkeit« als Perspektive von Lebensgeschichte und Krankengeschichte. In: K.-E. Bühler u. H. Weiß (Hrsg.): Kommunikation und Perspektivität – Beiträge zur Anthropologie aus Medizin und Geisteswissenschaften. Würzburg (Königshausen & Neumann), S. 67–73.
Hilgers, K. (2002): Entelechie, Monade und Metamorphose. Formen der Vervollkommnung im Werk Goethes. München (Wilhelm Fink).

Fußnoten:
(1) Es wäre reizvoll, dieser Spur anhand von Wilhelm Meisters Wanderjahren nachzugehen. Als Spurenleserin bietet sich Klaudia Hilgers (2002) an.
(2) Das Wörterbuch Schweizerdeutsch – Deutsch gibt als Übersetzung für Gspänli  »Spielkamerad« an. Dieser Begriff wird aber auch für freundschaftliche Beziehungen im Erwachsenenalter verwendet (um die Breite der Verwendung dieses Begriffs kennen zu lernen, wird empfohlen, Gspänli in einer der üblichen Suchmaschinen einzugeben).





Verlagsinfo:

"Rosmarie Welter-Enderlin ist eine der Pionierinnen der systemischen Beratung und Therapie in Europa. 2005 wurde sie 70 Jahre alt. Die Beiträge in diesem Buch, die von Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern aus der Schweiz, Deutschland und aus den USA zum Anlass dieser Festschrift verfasst wurden, reflektieren die Geschichte der systemischen Therapie, geben einen Überblick über deren aktuellen Stand sowohl im Bereich der Grundlagen wie auch der Techniken. Sie zeigen die Breite der Themen und der gesellschaftlichen Bereiche, in denen die systemische Perspektive inzwischen Bedeutung erlangt hat: Paar- und Familienberatung bzw. -therapie, Gesundheit und Krankheit, interpersonale Kommunikation, affektlogische Rahmung, Verantwortung im Regierungshandeln auf kommunaler wie auf nationaler Ebene."


Inhaltsverzeichnis:

Hildenbrand, Bruno: Einleitung. S. 7-18

Levold, Tom: Systemische Entwicklungen. Ein Ausblick in die Zukunft. S. 20-32

Imber-Black, Evan: Ein Raum, in dem die Offenheit wohnt: eine von Liebe und Verlust geprägte Paartherapie. S. 34-48

Black, Lascelles W.: Vom Einfachen zum Komplexen: Vier Fragen an Individuen, Paare und Familien mit mehrfachen Problemen. S. 49-58

Boss, Pauline: Resilienz und Gesundheit. S. 59-102

Krüll, Marianne: Die Mutter in mir. S. 103-110

Fivaz, Elisabeth &
Roland Fivaz: Implizite Kommunikation und experimentelle Intervention im Rahmen einer systemischen Beratung. S. 112-123

Ciompi, Luc: Geschichten zur Resilienz aus der therapeutischen Wohngemeinschaft "Soteria Bern". S. 124-137

Stocker, Monika: Tun, was zu tun ist – billiger ist Verantwortung nicht zu haben. S. 140-157

Leuenberger, Moritz: Was sagen Sie diesem Arbeitslosen hier? S. 158-162

Welter, Rudolf: Einblicke eines Nahestehenden in Rosmaries Praxis. S. 164-167



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