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Stierlin, Helm
Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Eine Dynamik menschlicher Beziehungen
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Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1976
suhrkamp taschenbuch 313
160 S., Broschur
Preis: 7,00 €
ISBN-10: 3518368133
ISBN-13: 978-3518368138 |
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Suhrkamp Verlag
Tom Levold, Köln:
Auch wenn wir es hier ohne Zweifel schon aus ideengeschichtlichen Gründen mit einem Klassiker zu tun haben, lässt sich dieses Buch doch nicht ohne Weiteres als ein Klassiker der Familientherapie oder gar der Systemischen Therapie bezeichnen. Allerdings markiert es rückblickend betrachtet einen wichtigen Perspektivenwechsel: Psychotherapie wird hier in erster Linie als wechselseitiges Beziehungsgeschehen und nicht mehr als einseitige "Behandlung" gedacht. Dieser vor allem philosophisch und nicht medizinisch-psychologisch begründete Perspektivenwechsel des Autors hatte Folgen: das spätere Wirken Stierlins als Begründer des so genannten Heidelberger Modells der Familientherapie spielte eine außerordentlich bedeutsame Rolle für die Entwicklung des systemischen Feldes hierzulande. Die ist allerdings in diesem Buch noch längst nicht abzusehen. Es handelt sich um eine für die deutsche Ausgabe überarbeitete und gekürzte Version seines Buches "Conflict und Reconciliation: A Study in Human Relations and Schizophrenia" aus dem Jahre 1968 und erscheint im Suhrkamp-Verlag drei Jahre nach dem Beginn der Studentenrevolte. In diesen Jahren, so muss man sich in Erinnerung rufen, kommt die Lektüre von Karl Marx und Sigmund Freud als den Protagonisten der kollektiven und individuellen Emanzipation aus gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnissen zur höchsten Blüte. Die Freud'sche Triebtheorie wird politisch zum Hebel der Kritik an der sozialen Repression individueller Triebwünsche. Davon ist aber in diesem Buche nicht die Rede. Obwohl es für eine psychoanalytisch orientierte Öffentlichkeit geschrieben ist, setzt es doch, fast beiläufig und ohne jede Dramatisierung, völlig eigene Akzente. Nicht Emanzipation von der Gesellschaft ist das Thema, sondern Verbindung und Versöhnung. Auch wenn sich Stierlin intensiv mit der aktuellen gesellschaftlichen Situation (vor allem den USA) auseinandersetzt, ist er doch fern vom emanzipatorischen Wortgetöse hierzulande. Seine Kritik am Konsumismus, "chronischer zwischenmenschlicher Übermüdung" (S. 130) und "fragmentierender Unruhe der Gesellschaft" trägt eher konservative Züge – und gewinnt doch bei der heutigen Lektüre unerwartet frappierende Aktualität. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung lebt und arbeitet Helm Stierlin (seit 1956 mit einer kurzen Unterbrechung) in den USA, ist 45 Jahre alt und hat bereits zahlreiche psychoanalytische Arbeiten veröffentlicht, aus denen auch schon sein frühes Interesse für familiendynamische Fragestellungen ersichtlich ist. Entsprechend referiert er neben dem damals obligatorischen Freud und einigen anderen Klassikern der deutschsprachigen Psychoanalyse in erster Linie Texte von amerikanischen Kollegen, vor allem aus dem Umfeld von Lyman Wynne, mit dem Stierlin selbst intensiv zusammengearbeitet hat. Gregory Bateson wird zwar an einer Stelle zitiert, die Bedeutung des mit ihm verbundenen Paradigmenwechsel zur systemischen Epistemologie und Kommunikationstheorie innerhalb der Psychiatrie, immerhin schon 1951 publiziert (1), scheint aber von Stierlin erst später erkannt worden zu sein. Das familiendynamische Denken entfaltet sich hier noch in einer ungebrochen psychoanalytischen Diktion, obwohl bereits deutlich wird, dass sich das eigentliche Interesse des Autors zunehmend von deren konzeptionellem Unterbau entfernt und auf der Suche nach einem neuen Verständnis zwischenmenschlicher Prozesse ist - wenngleich seine späteren Konzepte von "Delegation", "bezogener Individuation" usw. noch längst nicht ausformuliert sind. Der deutsche Titel ist einem dem Buch als Motto vorangestellten Hegel-Zitat aus der "Phänomenologie des Geistes" entnommen. Und in der Tat bietet Hegel – neben Freud – den Bezugsrahmen, in dem Stierlin in diesem Band seine dialektische Konzeption menschlicher Beziehungen entwirft und dem er in der einen und anderen Weise bis heute die Treue hält. Das Buch beginnt mit einer Distanzierung von der historischen Barriere, die von vielen Psychiatern (genannt wird z.B. Stierlins Lehrer Karl Jaspers) gegenüber ihren Patienten mit der Begründung aufgebaut wurde, dass es einen "Riss in der Verstehbarkeit" zwischen Schizophrenen einerseits und "Normalen und Neurotikern" gäbe (S. 12), und dem Plädoyer, die Arzt-Patient-Beziehung als Beziehung in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken: "Eine Beziehungsstörung lässt sich nur in einer Beziehung erkennen" (14). Auch wenn Stierlin mit einem Hinweis auf Freuds Freund Josef Breuer und seiner unheilvollen Beziehung zu Anna O. vor den Gefahren einer persönlichen Verstrickung der Therapeuten in die Beziehung zu den Patienten warnt, wird hier gleichsam das Leitmotiv des Werkes zum Klingen gebracht. Wie bereits angedeutet, ist Stierlins Blick auf Beziehung vor allem der eines Philosophen und nicht der eines Diagnostikers und Behandlers. Seine auf Hegels Dialektik der Herr-Knecht-Beziehung gestützte "Phänomenologie der Gegenseitigkeit" erhebt den Anspruch einer "umfassenden Beziehungslehre", die "gesetzmäßige Aspekte jeder Beziehung" zu formulieren imstande sei (66). Im Zentrum dieser Beziehungslehre steht die Dialektik von Subjekt und Objekt und ihre wechselseitige Anerkennung in einer dialogischen, reziproken Beziehung. Diese alleine ermöglicht jeweils Subjekt und Objekt, eine autonome "Person im eigenen Recht" (72) zu sein. Gelingt diese Anerkennung, die für Stierlin auch im Wesentlichen eine Versöhnungsleistung ist, kann eine "positive Gegenseitigkeit" gelingen. Deren Erfolg ist aber auf die "Bewegung der Beziehung" angewiesen, die "notwendigerweise immer weitere und tiefere Persönlichkeitsbereiche der Partner erfassen" muss (67). Diese Bewegung vollzieht sich Stierlin zufolge in einem Spannungsfeld von fünf Polaritäten: Augenblick-Dauer, Verschiedenheit-Gleichheit, Befriedigung-Versagung, Stimulierung-Stabilisierung sowie Nähe-Distanz. Eine "negative Gegenseitigkeit" ist erstens zu konstatieren, wenn es "Störungen der dialogischen Bewegung" (74) gibt, etwa Stillstand, "manisch angestachelte Betriebshaftigkeit" (75) oder eine falsche Richtung in der Bewegung (Rückzug, Flucht nach vorn). Zweitens ergibt sich negative Gegenseitigkeit aus einer Störung in der "Dialektik von Subjekt und Objekt", die sich in erster Linie als ungleiches Machtverhältnis manifestiert - hier scheint übrigens in Andeutungen schon das spätere Konzept der härteren und weicheren Realitäten auf (79ff.). Und schließlich wird Wynnes Konzept der "Pseudogegenseitigkeit" als dritte Variante eingeführt, ein "Aushandeln der beidseitigen Dissoziationen", in dem sich die "Partner als Projektionsgegenstand erhalten" bleiben, ohne dass es zu einer Aussöhnung kommen kann. Soweit der konzeptuelle Unterbau, der die Komplexität des Gegenstandes ganz in Polaritäten und deren dialektische Verhältnisse ausdifferenzieren will. Die zentrale Theoriefigur ist hier die Dyade - und folgerichtig schließt nun ein Kapitel über die "Mutter-Kind-Beziehung" an, das noch sehr stark an eine längst nicht mehr haltbare, triebtheoretisch fundierte, psychoanalytische Entwicklungspsychologie des Kleinkind-Alters anknüpft. So wird in der negativen Gegenseitigkeit der frühen Mutter-Kind-Beziehung eine bedeutsame "Voraussetzung für spätere schizophrene Störungen" gesehen (99), eine dyadische Verengung, die in ihrer radikalen Variante nicht zu Unrecht in den 80er Jahren als "Mother-Blaming" in Verruf gekommen ist. Zwar taucht im folgenden Kapitel über die Familie zum ersten Mal der Begriff des Systems auf, allerdings eher beiläufig und ohne theoretische Konsequenzen: "Wir müssen … die Familie als ein Feld oder System verstehen, in welchem Zweierbeziehungen – wie etwa die Beziehung zwischen Mutter und Kind – Untersysteme darstellen. Auch für dieses übergeordnete System gilt, dass sich in ihm bestimmte Beziehungsgleichgewichte stets neu konstellieren müssen. In komplexer und interdependenter Weise müssen dadurch die Positionen und Bedürfnisse der einzelnen Familienangehörigen definiert und miteinander versöhnt werden" (109). Einige familiendynamische Konzepte der Gründerzeit (von Murray Bowen und Lyman Wynne) werden – eher am Rande – erwähnt, ansonsten weist wenig darauf hin, dass Stierlin bereits 10 Jahre später zu einem Leitstern der Familientherapie in Deutschland werden würde. Auch die geschilderte Entwicklungsdynamik in der Familie bleibt in der psychoanalytischen Theorie der psychosexuellen Entwicklung gefangen, die anhand der bereits genannten fünf Polaritäten durchdekliniert wird. Betont wird dabei, dass die Versöhnungs- und Abgrenzungsarbeit nicht nur in der Familie zu leisten ist, sondern auch zwischen dem privaten Bereich der Familie und der Öffentlichkeit – als Voraussetzung dafür, dass sich die Kinder im Laufe ihrer Entwicklung aus der Familie heraus bewegen und ihren eigenen Platz in der Gesellschaft einnehmen können. Der Systembegriff wird – wie gesagt – nicht weiter verfolgt und wirkt daher nur wie ein kleiner Schweif am Theorie-Himmel, auch spielen die tatsächliche Kommunikation und Interaktion in Familienbeziehungen in der Darstellung keine wirkliche Rolle. Das Schlusskapitel widmet sich der "Selbstbehauptung in der sich wandelnden Gesellschaft" (121 ff.), und hier setzt Stierlin die Beziehungsdialektik der positiven Gegenseitigkeit ins Verhältnis zur gesamtgesellschaftlichen Dynamik: "Die notwendige Überprüfung unseres Beziehungsklimas und die damit verbundene Abgrenzungs- und Versöhnungsarbeit bilden einen Teil dessen, was Popper den 'Strain of Civilization', unsere Belastung durch die Zivilisation genannt hat. Leisten wir diese Abgrenzungs- und Versöhnungsarbeit nicht, dann laufen wir Gefahr, dass sich die offene Gesellschaft in die abstrakte, depersonalisierte Gesellschaft verwandelt, und wir darin verloren gehen. Nehmen wir diese Arbeit dagegen auf uns, dann eröffnet sich die Möglichkeit, dass wir uns in der offenen, sich wandelnden Gesellschaft reicher entfalten, als dies in einer geschlossenen, wandellosen Gesellschaft möglich wäre" (141). Dieser Schluss-Satz des Buches könnte auch in einem der aktuellen Texte von Stierlin einen Platz finden und sorgt auf gewisse Weise da für gedankliche Kontinuität, wo semantisch nur noch wenig Anschlussfähigkeit besteht. Resümierend lässt sich dieser Band viel weniger als "kanonischer" Text der Familientherapie-Geschichte bezeichnen als andere Bücher des Autors. Das erwähnte – und hierzulande sträflich unterrezipierte – Buch von Bateson und Rüsch bietet weit mehr an Anschlussmöglichkeiten für den heutigen systemischen Diskurs. Der Reiz bei der erneuten Lektüre liegt meiner Meinung nach eher in der Rekonstruktion der enormen – und heute vielleicht nicht ohne weiteres nachzuvollziehenden – Anstrengung, in einem relativ geschlossenen und dogmatischen Theoriegebäude (nämlich der Psychoanalyse der Endsechziger-Jahre) neuen, beziehungsorientierten Ideen Platz zu verschaffen, ohne das sicherheitsspendende Gebäude gleich zu verlassen. Diesen radikalen Schritt hat erst die Mailänder Gruppe um die Psychoanalytikerin Mara Selvini-Palazzoli unternommen – dafür sofort die Unterstützung von Helm Stierlin und der Heidelberger Gruppe erhalten. Bedeutsam erscheint mir noch zu erwähnen, dass bei der Entwicklung des Konzeptes der Abgrenzungs- und Versöhnungsarbeit in diesem Buch die Betonung auf dem Aspekt der "Arbeit" liegt – und zwar in Differenz zu den Begriffen der Befriedigung und des Genusses: "In dieser Arbeit spielt dann die Versagung eine zentrale Rolle. Soll die Begierde daran verhindert werden, am Genuss zu verschmachten, muss Versagung erlebt und ver-arbeitet werden" (56f.). Schon im zweiten Kapitel geht Stierlin so ausführlich auf Sigmund Freuds Arbeit über die Moses-Statue von Michelangelo ein, dass man versucht ist, im Freud-Zitat einen Rückbezug auf den Autor selbst zu lesen: "Er gedachte seiner Mission und verzichtete für sie auf die Befriedigung des Affektes" (23). Und Stierlin fügt hinzu: "Die Zähmung der eigenen Affekte nach einem intensiven Versöhnungskampf: das ist der Schlüssel zum Verständnis der gebändigten Bewegung des Moses" – und wir können uns Helm Stierlin selbst dabei ganz gut vorstellen. Nach mittlerweile 35 Jahren Spaßgesellschaft könnte aber auch diese Idee noch einmal zu denken geben.
(1) Bateson, Gregory und Jürgen Ruesch (1995/1951): Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag
(Erstveröffentlichung in Kontext 1/2006)
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