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Klassiker zur Übersicht
Maturana, Humberto R.; Francisco J. Varela:
Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens
Maturana Baum der Erkenntnis Scherz-Verlag München 1987
Taschenbuchausgabe 1991 im Goldmann-Verlag

280 Seiten

ISBN: 3-442-11460-8

Preis: 8,00 €




Tom Levold, Köln:

Nachdem schon 1982 eine Sammlung mit den wichtigsten empirischen und erkenntnistheoretischen Aufsätzen von Maturana und Varela unter dem Titel "Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit" im Braunschweiger Verlag Vieweg erschienen war, die jedoch aufgrund der Hermetik ihres Sprachduktus und leider auch des enorm hohen Preises nur eine kleine Leserschaft gehabt haben dürfte, schlug hierzulande 1987 das Erscheinen ihres Buches "Der Baum der Erkenntnis" wie eine Bombe ein. Dieses großzügig aufgemachte Buch mit zahlreichen Grafiken, Glossar und Sachwortverzeichnis führte erstmals zusammenhängend in das Werk der Autoren ein, entstanden "aus einer Vortragsreihe, in der die Autoren in Santiago unter der Schirmherrschaft des Generalsekretariats der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ihre Auffassung zum gesamten Spektrum der von ihnen bislang untersuchten Fragestellungen vertraten. Dieses Spektrum geht von der Frage des Erkennens  aus und reicht von der grundsätzlichen biologischen Frage nach dem Leben und seinen Ursprüngen bis zur Alltagserfahrung, von der Zellbiologie über die Arbeitsweise des Nervensystems und der Sinne bis zu den sozialen Phänomenen und der Ethik. Kurzum, es deckt den gesamten Bereich des Lebendigen ab. Das Buch fasst die Ergebnisse der Arbeiten zusammen, die um 1960 nach der Rückkehr Maturanas aus Europa und Vereinigten Staaten nach Chile Gestalt anzunehmen begannen und in den siebziger Jahren gemeinsam mit seinem damaligen Schüler und späteren Kollegen Francisco Varela fortgeführt wurden" (aus dem Vorwort des Übersetzers Kurt Ludewig).
Baum der ErkenntnisDass das Buch, das 1984 nur im spanischen Original erschienen war, in Deutschland (und in dieser Form) erschienen ist, ist ganz wesentlich das Verdienst von
Kurt Ludewig, dem Mitbegründer und damaligen Vorsitzenden des Institutes für systemische Studien in Hamburg, der in den 80er Jahren wesentlich dazu beitrug, dass sich der Wandel von der Familientherapie zu einer konstruktivistisch begründeten systemischen Therapie in Deutschland vollzog. Er war schon früh mit Maturana bekannt geworden und besorgte die gewiss nicht einfache Übersetzung des Buches - eine besondere Leistung nicht nur in übersetzungstechnischer, sondern auch in "wissenschaftshistorischer" Hinsicht - wer außer Kurt Ludewig hätte dies allerdings (vor dem Hintergrund seiner kulturellen Doppelmitgliedschaft als Chilene und Deutscher) so souverän bewältigen können!  Denn jeder, der die Terminologie und die Sprachführung von Maturana kennt, kann die zwangsläufigen Schwierigkeiten, die mit jedweder Übersetzung verbunden sind, nur zu gut einschätzen. Ludewig schreibt in seinem Vorwort: "Wir standen vor den Schwierigkeiten, dass zum einen die spanische Sprache eine alte, im natürlichen Driften der Erzählungen entstandene 'narrative' Sprache ist, die vieles, unter anderem endlose Sätze erlaubt, die im Deutschen schwer verständlich wären; und dass zum anderen die Autoren einen Stil benutzen, der zwar zu ihren theoretischen Auffassungen passt, jedoch wiederholt den Beobachter erwähnt und leicht den Anschein überflüssiger Redundanz und akribischer Vollständigkeit erwecken kann. Wir haben uns daher entschlossen, nicht wörtlich zu übersetzen, viele der überlangen Sätze zu kürzen und einige "Chilenismen" wegzulassen. Dennoch haben wir uns im wesentlichen an Stil der Autoren gehalten, der zwar im Deutschen zuweilen etwas umständlich wirken mag, in der Hauptsache aber ihre Denkart widerspiegelt und helfen soll, den Anschein objektiver Wahrheitsbehauptung zu vermeiden" (ebenda).


Aus dem Vorwort der Autoren:


"Das Buch, das der Leser jetzt in Händen hält, ist nicht nur eine weitere unter vielen Einführungen in die Biologie der Erkenntnis. Es ist ein vollständiger Entwurf für einen alternativen Ansatz zum Verständnis der biologischen Wurzeln des Verstehens. Wir wollen den Leser gleich zu Beginn warnen: Die Vorstellungen, die ihm hier präsentiert werden, stimmen wahrscheinlich nicht mit denen überein, an die er gewöhnt ist. Wir werden nämlich eine Sicht vortragen, die das Erkennen nicht als eine Repräsentation der 'Welt da draußen' versteht, sondern als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozess des Lebens selbst.
Um dieses Ziel zu erreichen, werden wir einer an streng logischem Vorgehen orientierten Route der Entwicklung von Konzepten und Ideen folgen, auf der jedes Konzept auf vorangegangenen Konzepten aufbaut, bis das Gante zu einem unzerteilbaren Netzwerk geworden ist. Es ist deshalb nicht empfehlenswert, dieses Buch flüchtig und 'diagonal' zu lesen. Als Ausgleich für die vom Leser erwartete Anstrengung haben wir das Buch durch zahlreiche Illustrationen aufgelockert - auch, weil wir immer wieder die alte Erfahrung bestätigt gefunden haben, dass ein Bild oft mehr sagt als tausend Worte. Außerdem haben wir die zentralen Begriffe in ein 'vernetztes' Diagramm eingeschrieben, das die Route unserer Entdeckungsreise darstellt. Dieses Diagramm und die außerhalb des laufenden Textes gestellten Zusammenfassungen der wichtigsten Gedanken und Konzepte werden es dem Leser erleichtern, sich vor Augen zu führen, bei welcher Station unserer Reise er gerade angelangt ist.…
Ein Wort über die Geschichte der Ideen, die hier präsentiert werden, ist ebenfalls am Platz: Sie lassen sich bis auf das Jahr 1960 zurückführen, als Humberto Maturana begann, von der gewohnten biologischen Tradition abzuweichen. Er versuchte nämlich, lebende Systeme als den Prozess zu verstehen, der diese verwirklicht, und sie nicht durch die Beziehung zu ihrer Umwelt zu erklären. Dieser Ansatz beschäftigte ihn während des folgenden Jahrzehnts und fand 1969 seinen ersten klaren Ausdruck in dem Artikel 'The neurophysiology of cognition', in dem einige seiner zentralen Vorstellungen über die zirkuläre Organisation lebender Systeme und das nicht-repräsentationale Funktionieren des Nervensystems dargelegt wurden. Mitte der sechziger Jahre studierte Francisco Varela bei Humberto Maturana, und seit den siebziger Jahren arbeiten wir beide als Kollegen an der Universität von Chile zusammen. Wir arbeiteten weiter an einer Neuformulierung der biologischen Phänomenologie, was in einem 1973 veröffentlichtem Buch über 'Autopoiesis und die Organisation des Lebendigen' (Santiago 1973) seinen Niederschlag fand.…
Die politischen Ereignisse in Chile 1973 veranlassten uns beide dazu, unsere Forschungsarbeit an weit entfernten Orten und jeder auf seine Weise fortzusetzen, wobei neue theoretische und experimentelle Gebiete erschlossen wurden. Erst 1980, als die Umstände es wieder möglich machten, nahmen wir unsere Zusammenarbeit in Santiago de Chile wieder auf. Das vorliegende Buch vereint die Ideen, die wir beide einzeln oder zusammen während all dieser Jahre entwickelt haben. Es ist in unseren Augen eine neue, nachvollziehbare Synthese von Anschauungen über das Leben und das Bewusstsein, die wir teilen und die von ersten Intuitionen Humberto Maturanas vor gut 25 Jahren ihren Ausgang nahmen.
In erster Linie ist dieses Buch jedoch eine Einladung an den Leser/die Leserin, seine/ihre gewohnten Gewissheiten loszulassen und so zu einer anderen Sichtweise dessen zu gelangen, was das Menschliche ausmacht."

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort der Autoren
Vorwort des Übersetzers
1. Das Erkennen erkennen
2. Die Organisation des Lebendigen
3. Geschichte: Fortpflanzung und Vererbung
4. Das Leben der „Metazeller“
5. Das natürliche Driften der Lebewesen
6. Verhaltensbereiche
7. Nervensystem und Erkenntnis
8. Die sozialen Phänomene
9. Sprachliche Bereiche und menschliches Bewusstsein
10. Der Baum der Erkenntnis

Glossar, Abbildungsverzeichnis, Sachregister


Autoren:

Humberto Maturana wurde 1928 in Santiago de Chile geboren, studierte ab 1948 Medizin an der Universidad de Chile und ab 1954 Biologie/Anatomie in London/England. Dort entstand erstmals eine Theorie zur Existenz lebendiger Systeme als autonome dynamische Einheiten. Ab 1956 absolvierte er ein Promotionsstudium an der Harvard University, wo er 1958 zum Ph.D. graduierte. Er arbeitete bis 1960 am MIT (Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, Massachusetts) in einer Postdoc-Stelle an Forschungen über das Auge (blinder Fleck) hin zu erkenntnistheoretischen Fragen. Er erhielt 1960 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Biologie an der Fakultät für Medizin der Universidad de Chile, Santiago de Chile. Seit 1961 arbeitet er an Fragen der visuellen Perzeption, insbesondere der Farbwahrnehmung und der Unterscheidung von lebenden und nicht-lebenden Systemen. Er reiste 1968 auf Einladung Heinz von Foersters nach Urbana und nahm von 1969-1970 eine Gastprofessor an der University of Illinois wahr. Von 1970-73 arbeitete er in enger Kooperation mit Francisco J. Varela in Santiago de Chile. Ab 1970 widmete er sich vor allem Weiterentwicklung der Biologie der Erkenntnis und beschäftigt sich als Neurophysiologe mit erkenntnistheoretischen Problemen über den Weg der "Biologie des Erkennens".

Francisco Varela wurde am 7.9.1946 in Chile geboren und lehrte an der Ecole Polytechnique Universität in Paris. Anfang der 70er Jahre erkannte Varela, dass die schrittweisen Sequenzen von Zellautomaten, die ideal für Computersimulationen geeignet sind, ein leistungsfähiges Werkzeug zur Simulation autopoietischer Netzwerke darstellt. 1974 gelang es ihm, zusammen mit Humberto Maturana und dem Informatiker Ricardo Uribe, die Konstruktion der entsprechenden Computersimulation. Der von Varela und seinen Kollegen studierte Zellautomat war eines der ersten Beispiele dafür, wie sich die selbstorganisierenden Netzwerke lebender Systeme simulieren lassen.  Neben der Entwicklung von Computersimulationen verschiedener selbstorganisierter, autopoietischer wie nicht-autopoietischer Netzwerke ist den Biologen und Chemikern vor kurzem auch die Synthese autopoietischer Systeme im Labor gelungen. 1989 wurde diese Möglichkeit von Varela und Pier Luigi Luisi theoretisch dargelegt und anschliessend in zwei Arten von Experimenten von Luisi realisiert. Diese neuen theoretischen und experimentellen Entwicklungen haben die Debatte darüber, was denn das Leben in seiner minimalen Form ausmache, entschieden verschärft. Neuerdings hält man in der Wissenschaft auch virtuelles Leben für möglich. Francisco Varela starb am 28. Mai 2001 in Paris im Alter von 54 Jahren (eine ausführliche, englische Würdigung lesen Sie hier).





Tom Levold, Köln:

Mit diesem Buch traten - erstmals für eine breitere Öffentlichkeit wahrnehmbar - Konzepte und Begriffe in den systemischen Diskurs ein, die heute in jedem Lehrbuch und Basiskurs systemischer Theorie und Praxis vermittelt werden, damals aber eine sowohl verstörende wie faszinierende Wirkung auf alle hatten, die auf der Suche nach einer neuen Möglichkeit waren, ihr Verständnis zunehmend komplexer werdender Wirklichkeiten auf eine
neue Weise zu konzeptualisieren, ohne in die epistemologischen Sackgassen der bekannten objektivistischen oder reduktionistischen Erkenntnistheorien zu geraten. Insbesondere trifft dies für den Begriff der Autopoise zu, der Selbsterzeugung von Systemen vermittels der Prozesse, die durch die Systeme selbst konstituiert werden - eine komplizierte, rückbezügliche Denkfigur, die besonders in Deutschland durch die Begriffsübernahme durch Niklas Luhmann einerseits aufgewertet und auch in den Sozialwissenschaften etabliert wurde, andererseits aber auch in einem ganz anderen Sinne verwandt wurde als eigentlich von Maturana konzipiert. Diese umstrittene Verwendung des Autopoiese-Konzeptes auch auf soziale Systeme ist seither Gegenstand zahlreicher Erörterungen, auf einer "Annettes Philosophenstübchen" genannten Website wird diese Debatte kurz skizziert. Ein Ausschnitt aus einem Interview von Bernhard Pörksen mit Humberto Maturana, das als Buch unter dem Titel "Vom Sein zum Tun" erschienen ist, befasst sich übrigens genau mit dieser Frage und der Kritik von Maturana an Luhmanns Verwendung des Autopoiese-Konzeptes.
Ein zweites Grundthema ist die Beobachter-Abhängigkeit aller Wirklichkeitserkenntnis: "Die Erfahrung von jedem Ding 'da draußen' wird auf eine spezifische Weise durch die menschliche Struktur konfiguriert, welche 'das Ding', das in der menschlichen Beschreibung entsteht, erst möglich macht" (S. 31) und 'Alles Gesagte ist von jemandem gesagt. Denn jede Reflexion bringt eine Welt hervor und ist als solche menschliches Tun eines einzelnen an einem besonderen Ort" (S. 32), damit aber auch als individuelle, organismische Leistung gefasst - im Unterschied zu etwa einer sozialkonstruktionistischen Perspektive. Das diesbezügliche
1. Kapitel wird in einer Internet-Rezension von Sophia Binder genauer besprochen. Das zweite Kapitel ("Organisation des Lebendigen") stellt das Phänomen der Autopoiese in einen evolutionsgeschichtlichen Horizont, indem gezeigt wird - vor allem an der Organisation der Zelle als lebendem System -, dass es im Unterschied zu allen anderen Systemen nur den lebenden Systemen eigentümlich ist, "dass das einzige Produkt ihrer Organisation sie selbst sind, das heißt, es gibt keine Trennung zwischen Erzeuger und Erzeugnis. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dies bildet ihre spezifische Art von Organisation" (S. 56).
Kapitel 3 befasst sich mit der Reproduktion autopoietischer Systeme über Fortpflanzung und Vererbung, die übrigens für die Autoren keine konstitutiven Bestandteile lebender Systeme sind, da lebende Systeme auch ohne Fortpflanzung existieren können (vgl. S. 65), sondern nur unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Lebewesen historisch miteinander verbundene Einheiten erzeugen, "welche gemeinsam ein historisches System bilden" (S. 72), innerhalb dessen sich die "Verteilung struktureller Varianz und Invarianz entlang einer geschichtlichen Abstammungslinie" ausbildet. In Kapitel 4 wird der Aspekt der Interaktion eingeführt, als "strukturelle Koppelung" von Systemeinheit und Milieu im Sinne einer wechselseitigen Strukturveränderung (S. 85). Auf der Ebene der Zellen führt dieses Interaktionskonzept (einer Vielzahl von funktional differenzierten Zellen) zum Modell der Autopoise zweiter Ordnung (Metazeller) , bei der die Frage, ob es sich um echte Autopoiese handelt, von den Autoren bewusst offen gelassen wird: "Wir können aber sagen, dass sie eine operationale Geschlossenheit ihrer Organisation aufweisen: Ihre Identität ist durch ein Netz von dynamischen Prozessen gekennzeichnet, deren Wirkungen das Netz nicht überschreiten" (S. 100). Auch hier wird die Benutzung des gleichen Vokabulars durch Luhmann bei völlig unterschiedlicher konzeptueller Grundlage erkennbar.
Die Konsequenzen für ein Verständnis von evolutiven Entwicklungsprozessen werden in Kapitel 5 "Das natürliche Driften der Lebewesen" dargelegt, die nun als Wechselwirkung von Strukturdeterminiertheit und und strukturellen Koppelungen erscheinen, welche grundsätzlich zwei Klassen von Zustandsveränderungen lebender Systeme  erlauben: erstens Zustandsveränderungen ohne Veränderung der Organisation, die durch "Pertubationen" ("Verstörungen" aus der Umwelt) sytemintern in Gang gebracht werden, und zweitens destruktive Zustandsveränderungen, "die zum Verlust der Organisation einer Einheit und daher zu ihrer Auflösung …" führen (S. 108), eben dem Tod des Systems. Evolution wird unter dieser Perspektive nicht mehr als Fortschreiten auf einer Skala immer besserer Umweltanpassung betrachtet, sondern als "natürliches Driften", bei der alle Lebewesen, solange sie leben, als gleich gut angepasst gelten: "Die Anpassung ist eine Frage notwendiger Bedingungen, die auf viele verschiedene Weisen erfüllt werden können, wobei es keine 'beste Weise' gibt, einem Kriterium zu genügen, welches außerhalb des Überlebens zu suchen wäre" (S. 125).
Kapitel 6 bezieht sich nun auf das Verhältnis von Beobachter und beobachtetem System und versucht zu verdeutlichen, dass das Nervensystem - als wiederum geschlossenes System - nicht mit einer Repräsentation der Außenwelt operiert, sondern ausschließlich auf die Veränderungen der eigenen inneren Zustände reagiert, was erhebliche Folgen für die Zuschreibung (und Voraussagemöglichkeit) von Verhalten hat: "Was wir beim Beobachten der Zustandsveränderungen eines Organismus in seinem Milieu als Verhalten bezeichnen, entspricht der Beschreibung, die wir von den Bewegungen eines Organismus in einem von uns benannten Milieu machen. Da in einem Lebewesen nur innere Zustandsveränderungen auftreten, ist Verhalten nicht etwas, das das Lebewesen an sich tut, sondern etwas, worauf wir hinweisen" (S. 151), also eine Beobachterkategorie. Vor diesem Hintergrund sind "Erfolg oder Misserfolg einer Verhaltensweise … immer durch die Erwartungen definiert, die der Beobachter bestimmt" (ebenda).
Da nun der Beobachter auch naturgeschichtlich eingeführt ist, liegt es nahe, dass sich Kapitel 7 mit dem Nervensystem und dem Problem der Erkenntnis befasst (Ein ausführlicheres Referat des 7. Kapitels von Joachim Krois findet sich hier). Die radikale Konsequenz, deren Herleitung hier nicht ausführlich nachgezeichnet werden soll, liegt darin, Kognition nicht als im Zuge der Evolution später erworbenes zusätzliches Vermögen zu verstehen, sondern als Basisoperation des Lebens selbst. "Aus diesem Blickwinkel kann jede Interaktion eines Organismus - sein gesamtes beobachtetes Verhalten - von einem Beobachter als eine kognitive Handlung bewertet werden. So ist die Tatsache des Lebens selbst - die ununterbrochene Aufrechterhaltung der Strukturkoppelung als Lebewesen - nichts anderes als Erkennen im Existenzbereich. Als Aphorismus formuliert: Leben ist Erkennen."
Nun stellt sich sogleich die Frage nach den sogenannten höheren Funktionen des Lebens, was in den letzten drei Kapiteln auch erörtert wird. In Kapitel 8 werden soziale Phänomene als Ergebnis einer strukturellen Koppelung dritter Ordnung von Organismen beschrieben, deren Interaktionen im Zuge ihrer Ko-Ontogenese einen rekursiven Charakter einnehmen. Es geht hier um die "Koordination des Verhaltens von ansonsten unabhängigen Individuen", und zwar durch chemische (z.B. bei Ameisenpopulationen), visuelle, auditive (z.B. bei Wirbeltieren) oder andere Interaktionen (S. 206). Hierdurch wird eine besondere soziale Phänomenologie erzeugt, die wesentlich darauf beruht, dass "die beteiligten Organismen … ihre individuellen Ontogenesen als Teil eines Netzwerkes von Ko-Ontogenesen verwirklichen, das die bei der Bildung von Einheiten dritter Ordnung vorbringen" (S. 209). Im menschlichen Bereich haben wir es hier mit Kultur zu tun, die "also nicht aus einem besonderen Mechanismus (entsteht, sondern) nur einen besonderen Fall von kommunikativem Verhalten" darstellt (S. 218).
Kapitel 9 über "Sprachliche Bereiche und menschliches Bewusstsein" zeichnet überwiegend noch einmal nach, inwieweit sprachliches Verhalten in das angesprochene soziale Koordinationsprogramm eingeordndet werden kann, die Komplexität, die mit der Evolution der Sprache - und der Unmöglichkeit für sprechende Menschen, wieder hinter Sprache zurückzugehen - auftaucht, wird jedoch in den viereinhalb Seiten über Geist und Bewusstsein nicht annähernd erfasst. Zwar wird festgehalten: "Da wir in der Sprache existieren, werden die Bereiche der sprachlichen Interaktion, die wir erzeugen, Teile des Bereichs unserer Existenz und stellen einen Teil des Milieus dar, in dem wir unsere Identität und Anpassung erhalten". Allerdings findet die Vertiefung dieser Frage nicht mehr im vorliegenden Buch statt.
Das Kapitel 10, eher ein Ausblick auf die ethischen Folgen für unser bewusstes Handeln, lässt sich mit folgenden Zitat zusammenfassen: "Alles menschliches Tun findet in der Sprache statt. Jede Handlung in der Sprache bringt eine Welt hervor, die mit anderen im Vollzug der Koexistenz geschaffen wird und das hervorbringt, was das Menschliche ist. So hat alles menschliche Tun eine ethische Bedeutung, denn es ist ein Tun, das dazu beiträgt, die menschliche Welt zu erzeugen. Diese Verknüpfung der Menschen miteinander ist letztlich die Grundlage aller Ethik als eine Reflexion über die Berechtigung der Anwesenheit des anderen" (S. 265).
Die Anstöße, die Maturana und Varela, der leider viel zu früh im Alter von 54 Jahren gestorben ist, für die Entwicklung des systemischen Feldes gegeben haben, sind unschätzbar. Viele ihrer wichtigen Arbeiten sind sicherlich nur von wenigen zur Kenntnis genommen und gelesen worden. Dieses Buch hat dazu beigetragen, ihr Ideengut auch einem breiteren Publikum nahezubringen. Die Debatte, inwiefern es nützlich ist (d.h. für welche Problemlagen es eine bereichernde Perspektive sein kann oder nicht), soziale Systeme als autopoietisch zu betrachten, ist meiner Meinung nach längst nicht abgeschlossen, aber auch nicht obsolet geworden - ein Hinweis auf eine fortdauernde theoretische Relevanz des Buches, die es schließlich, in meinen Augen zu Recht, zu einem Klassiker systemischer Literatur macht.


Jürgen Kriz, Osnabrück: Tief reichende biologische Wurzeln – aber eine zu lichte kulturelle Krone

Zugegeben: Es hat ein wenig Überredungskunst bedurft, damit ich mich nach 18 Jahren nochmals in dieses Buch vertiefe. Aber ich war auch neugierig, wie es mir nach dieser Zeit damit gehen würde. Immerhin hat sich systemisches Denken in den letzten zwei Jahrzehnten stark verbreitet – selbst in Deutschland, wo ja Wissenschaftsbürokraten und Verfahrenslobbyisten seit dem Psychotherapeutengesetz von 1999 diese unliebsame Konkurrenz bisher hinreichend erfolgreich aus den therapeutischen Ambulanzen verbannt haben und entsprechende Forschung damit massiv behindern. Trotzdem – oder gerade deshalb – geriet der Europäische Kongress zur Systemischen und Familientherapie 2004 in Berlin mit fast 4000 Teilnehmer/-innen zu einer überwältigenden Demonstration, dass systemisches Denken und Handeln in Kliniken, für Selbstzahler und jenseits der deutschen Hoheitsgrenzen eine hohe Bedeutung hat. Viele systemische Therapeuten, Coaches und Berater berufen sich konzeptionell auf die „Autopoiese“ von Maturana und Varela (neben der soziologischen Variante von Luhmann, dem Denken von Bateson und den vielen eher praktisch ausgerichteten Gründermüttern und -vätern von Palo Alto über Mailand bis Heidelberg oder Gießen). Und dieses Buch zählt sicherlich zu den zentralen Werken beider Autoren.
Die ungebrochene Beliebtheit zeigt sich schon daran, dass dieses Buch weiterhin im Handel ist – sogar als auflagenstarkes Taschenbuch: halb so groß (die Seiten entsprechend verkleinert) und deutlich billiger als meine Hardcover-Ausgabe von 1987. Ohne die Auflagenentwicklung zu kennen, könnte ich mir sogar vorstellen, dass dieses Buch derzeit eine Renaissance erlebt. Passt es doch genau zu den Heilsversprechungen der Cognitive Science, Neuropsychologie und Hirnphysiologie sowie zur werbewirksamen „Willensfreiheits-Debatte“. Wer von der Komplexität personaler und sozialer Prozesse frustriert ist, lässt sich offenbar leicht ins reduktionistische Spiegelkabinett locken. Die Hoffnung, in den „exakten Naturwissenschaften“ – wie diese Disziplinen aus der Perspektive von Therapeuten und Beratern eingeordnet werden – wieder festen ontologischen Boden unter die Füße zu bekommen, mag manchem verlockend erscheinen. Doch es gibt genau so eine entgegengesetzte Motivation, die dieses Werk attraktiv macht: Denn die „Autopoiese“ eignet sich scheinbar auch für jene, welche dem behavioralen Alleinvertretungsanspruch für die Erklärung sämtlicher psychologisch relevanter Phänomene und ihrer wissenschaftlichen Erforschung misstrauen. Zu offensichtlich passen die Prinzipien dieser bioneuronalen (Natur)-Wissenschaft nicht zu dem, was behaviorale Methodologie gern allen als „die“ Wissenschaft vorschreiben möchte: Klare Trennung von „unabhängigen“ und „abhängigen“ Variablen, Identifizierung von Wirkfaktoren, lineare (statt sprunghafter) Verläufe, lokale Planbarkeit von Interventionen (statt Selbstorganisationsprozesse unterstützende Umgebungsbedingungen) und so weiter.
Es wäre unfair, hier zu fragen, ob nicht der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden soll. Immerhin sind die von Maturana und Varela mit der „Autopoiese“ entwickelten Konzepte den Prozessen des Lebens – und denen des Erlebens – auch aus meiner heutigen Sicht deutlich angemessener, als mechanistische und lineare Ursache-Wirkungs- Prinzipien und ihrer Metaphern. Dies war übrigens ein zentraler Grund, weshalb auch ich selbst vor zwei Jahrzehnten einige Jahre lang der Autopoiese-Konzeption sehr positiv gegenüberstand. Als personzentrierter Therapeut mit systemischen Interessen fand ich darin zunächst eine (weitere) konzeptionelle Untermauerung des zentralen personzentrierten Konzeptes von Carl Rogers, nämlich der Aktualisierungstendenz. Autopoiese als Selbstorganisationstheorie schien mir günstig, da ich ziemlich frustriert darüber war, dass der deutsche Nestor der „Gesprächspsychotherapie“ mir schrieb, mit einem so „unwissenschaftlichen“ Konzept wie dieser Aktualisierungstendenz von Rogers könne er nichts anfangen – obwohl gerade in Physik und Chemie Nobelpreise für ziemlich ähnliche „unwissenschaftliche“ Konzepte verliehen worden waren (Laser und „Dissipative Strukturen“).
Allerdings wurden mir die Grenzen und Probleme der „Autopoiese“-Konzeption für die Beantwortung der Fragen, die mich als Therapeut und Coach beschäftigen, bald sichtbar – und sie sind in diesem Buch vielleicht sogar besonders prägnant erkennbar. Dies mag ein Zitat gegen Ende des Textes erhellen: „Wir haben den Leser eingeladen, von der Frucht dieses Baums zu essen, indem wir ihm eine wissenschaftliche Untersuchung der Erkenntnis als biologisches Phänomen vorgelegt haben“ (S. 263, Hervorhebung J.K.). Genau dies ist in der Tat die Stärke – aber auch die Schwäche – dieses Buches und des ganzen Ansatzes: Soweit und solange es sich um biologische Aspekte handelt, sind die Beispiele relevant, die Argumente zutreffend und die entwickelten Perspektiven interessant. Da geht es zunächst um Autonomie und Selbsterzeugung auf zellulärer Ebene, um Reproduktion und Vererbung, um Fragen der Ontogenese und der Selektion, um den Stammbaum der Spezies und „natürliches Driften“ (im Gegensatz etwa zur „natürlichen Auslese“ des Darwinismus). Es folgen Abstammungslinien und Strukturwandel des Nervensystems. Dann, die erste Hälfte des Buches liegt schon hinter dem Leser, lautet die Überschrift „Nervensystem und Erkenntnis“ (Kap. 7) – doch die Unterthemen hierzu sind: Naturgeschichte der Bewegung, das Verhalten von Pflanzen und Amöben, sensomotorische Koordination bei Einzellern, primitives Nervensystem. Letztlich geht es zwar auch um Aspekte des menschlichen Nervensystems, doch (eigentlich konsequent für Biologen) werden Fragen von angeborenem und erlerntem Verhalten oder Erkenntnis als effektivem Verhalten diskutiert – mit dem Aphorismus „Leben ist Erkennen“. Dies erinnert an den „Kern-Aphorismus“ bereits zu Beginn des Buches: „Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.“ Dem ist zwar zuzustimmen (und die Aussage ist tiefer und fruchtbarer, als sie auf den ersten Blick zu sein scheint). Dennoch fehlt beispielsweise die wichtige Unterscheidung zwischen reflexivem und nicht reflexivem Erkennen – jedenfalls für die Lebenswelt des Menschen. Entsprechend bleiben dann auch „die sozialen Phänomene“ (Kap. 8) im Bereich der Rollenverteilung bei Tieren, und Themen wie Nachahmung, Altruismus und Egoismus etc. stecken. Die Bedeutsamkeit von Sinnhaftigkeit, Narration, Geschichtlichkeit und beispielsweise auch nur allererste Ansätze einer medientheoretischen Annäherung an das Phänomen „Kultur“ bleiben (wieder könnte man hinzufügen: konsequenterweise) völlig ausgespart. Selbst im Kapitel „Sprachliche Bereiche und menschliches Bewusstsein“ werden eher abstrakte Aspekte von Sprache, Fragen der Hirnlokalisation und evolutionäre bzw. soziogenetische Entwicklungsstränge aufgezeigt und diskutiert, als dass die Emergenz von Sinn und Sinnhaftigkeit in den Fokus gerät. Obwohl es sogar einen Abschnitt über „Geist und Bewusstsein“ gibt, bleiben auch diese vier Buchseiten argumentativ und konzeptionell blass: die „Autopoiese“ vermag hier nichts Differenzierendes beizutragen.
Was für Psychotherapeuten wichtig ist, lässt sich in seinen wesentlichen Aspekten eben nicht durch biologische, physiologische oder andere naturwissenschaftliche Methoden fassen. Ein Beispiel: Ein Forscher erblickt in einem ihm unbekannten Tal eine Ansammlung von verwitterten, eingekerbten Steinen. Er untersucht diese zunächst mit geologischen und anderen naturwissenschaftlichen Fragestellungen und Methoden, bis er plötzlich entdeckt, dass es sich um eine Formation aus Grabsteinen handelt und die Kerbungen offenbar Zeichen darstellen. Damit geraten nun die Intentionen der menschlichen Handlungen in den Fokus: Nicht die Ursachen für die Kerbungen und die Steinformation sind nun wichtig, sondern die Gründe. Was sollen die Zeichen bedeuten und für wen soll(t)en sie etwas bedeuten? Um dies zu erforschen muss versucht werden, Wissen über die Lebensumstände, die Geschichte, die Glaubenssysteme – kurz: die Kultur – dieser Menschen zu gewinnen. Die naturwissenschaftlichen Fragen und Befunde werden damit nicht irrrelevant: auch für die kulturellen Aspekte der Grabsteine ist die Frage des Materials und der Meißel-Physik durchaus interessant. Aber Fragen nach dem Sinn, nach dem Ausdruck des reflexiven Bewusstseins und nach anderen wesentlichen psychischen Phänomenen sowie ihre mediale Vernetzungen zu dem, was wir „Kultur“ nennen, lassen sich mit diesen Methoden nicht untersuchen. Daher sind „die biologischen Wurzeln menschlicher Erkenntnis“ – so der Untertitel dieses Buches – zwar interessant, „der Baum der Erkenntnis“ besteht aber für den Menschen wesentlich aus anderen Blättern. Von diesen kann ein Buch zweier Neurobiologen, wenn sie seriös in ihrer Wissenschaft bleiben, nicht handeln. Aber sie wären für ein Verständnis von Psychotherapie wichtig.
Bleibt die Frage, wie weit die Prinzipien (z.B. „Autopoiese“) und Metaphern (z.B. Vorstellungen von struktureller Koppelung) hilfreich zum Verständnis therapeutischer Prozesse sein können. Hierzu wurde oben schon hervorgehoben, dass ich sie auf jeden Fall den Prozessen des Lebens und Erlebens für angemessener erachte, als die mechanistischen Prinzipien und Metaphern, die nach 400 Jahren abendländischer Wissenschaft nicht nur unser Alltagsverständnis von „der Welt“ beherrschen, sondern auch das Verständnis für die Lebens-, Erlebens- und Veränderungsprozessen von Menschen untereinander und zu sich selbst. Gleichwohl meine ich – was manchem Leser nicht neu sei dürfte – dass es noch weit angemessenere Modelle und Konzepte gibt: Allen voran die Synergetik bzw. ihre therapeutisch und klinisch-psychologische Ausarbeitung im Rahmen der Personzentrierten Systemtheorie. Die autopoietische Fokussierung auf „operationale Geschlossenheit“ mit einer fast onologisierenden Abgrenzung von biologischen, psychischen und kommunikativen Prozessen, sowie auf Stabilität ist dort überwunden. Stattdessen wird neben Stabilität auch Veränderung konzeptionell gut und sauber fassbar – und neben der Abgeschlossenheit auch die top-down- und bottom-up-Verbindungen zwischen somatischen, psychischen und kommunikativen Prozessen. Ich bin mehr denn je überzeugt davon, dass diese Aspekte für die meisten Therapeuten, Berater und Coaches relevant sind. Daher habe ich die Begrenzungen der Konzepte dieses Klassikers und die Vorteile konkurrierender Theorien noch stärker empfunden als beim ersten Lesen vor 18 Jahren.

(mit freundlicher Genehmigung aus kontext 36 (3), 2005, S. 280-283)


Ludger Kühling, Merseburg: Der Baum der Erkenntnis, oder: Auch naturwissenschaftlich begründete Erkenntnistheorien sind Konstrukte

„Die Klassiker sind Klassiker, weil sie Klassiker sind; … . Die Orientierung an großen Namen und die Spezialisierung auf solche Namen kann sich dann als theoretische Forschung ausgeben. Auf abstrakterer Ebene entstehen auf diese Weise Theoriesyndrome wie Handlungstheorie, Systemtheorie, Interaktionismus, Kommunikationstheorie, Strukturalismus, dialektischer Materialismus – Kurzformeln für Komplexe von Namen und Gedanken“ (Luhmann, Soziale Systeme, S. 7 f.) Lohnt es sich, den Klassiker „Der Baum der Erkenntnis“ von Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela zu lesen oder wieder zu lesen? Welchen Gewinn könnte die Erstleserin, welchen Nutzen ein Wiederleser haben? Diese Frage ist insbesondere an Klassiker zu stellen, die von vielen Wissenschaftlern und Praktiker/innen rezipiert, von unterschiedlichen Disziplinen aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. Vor meiner erneuten Lektüre drängte sich mir die Frage auf, ob es nicht vielleicht sinnvoller sei, die Bücher und Artikel zu lesen, die mögliche Schlussfolgerungen und Weiterentwicklungen aus den Konzepten und Denkmodellen von Maturana und Varela für den eigenen Arbeitskontext (Beratung, Therapie, Soziale Arbeit, Supervision etc.) gezogen haben? Wer als Systemiker/in in diesen Kontexten arbeitet und diese darüber hinaus theoretisch reflektiert, ist bekannt mit den Vokabeln, Ideen und Konzepten der Autopoiese und Autonomie, der Perturbation, strukturellen Kopplung, Strukturdeterminiertheit und operationalen Geschlossenheit des Nervensystems und der daraus abgeleiteten Unmöglichkeit instruktiver Interaktion. All diese Ideen sind vielen Systemiker/innen bekannt. Sie haben sie im Rahmen ihrer Ausbildungen kennen gelernt, sie haben Artikel über die Autopoiese von sozialen Systemen gelesen, die Bedeutung der Sprache für Beratung und Therapie reflektiert, ohne je Originaltexte der Vokabelerfinder gelesen zu haben. Plausibel wäre also, sich diese Mühe nicht zu machen. Dennoch: Für mich war es spannend, ein Original wieder zu lesen, welches große Bedeutung für meinen Arbeitsbereich der Sozialarbeit, für mein persönliches Beratungskonzept hatte. 1991 habe ich das Buch zum ersten Mal gelesen, damals nahm ich an einer über das Arbeitsamt finanzierten Sozialtherapieausbildung teil. Einer der systemischen Ausbilder meinte, für einen studierten Philosophen, der in den Arbeitskontext der Sozialarbeit wechseln möchte, sei dies die passende Einführungs- und Übergangsliteratur. Meine damaligen Leseerfahrungen waren geprägt von Skepsis und Ambivalenz. Schon der im Vorwort selbstbewusst formulierte Anspruch eine Erkenntnistheorie vorzutragen, „die das Erkennen nicht als eine Repräsentation der ‚Welt da draußen’ versteht, sondern als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozeß des Lebens selbst.“ (S. 7) schien mir vermessen. In meinen Händen sollte sich „…ein vollständiger Entwurf für einen alternativen Ansatz zum Verständnis der biologischen Wurzeln des Verstehens“ befinden. Dass dies Buch von Goldmann verlegt wurde, bestätigte mich in meiner Skepsis. Dass es dem Menschen nicht möglich ist, die „Dinge an sich“ zu erkennen, hatte ich schon in Kants Kritik der reinen Vernunft gelesen, dass Sprache „unsere spezifische Form des menschlichen Seins und Tuns“ sein soll, erschien mir – im Wissen um einige Aussagen von Wittgenstein – nicht originell. Die Ausführungen zu den Kernaphorismen „Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun“ und „Alles Gesagte ist von jemandem gesagt“ haben mich in ihrer Originalität damals nicht überzeugt. Sie erschienen mir zwar plausibel, der biologischen Begründung einer abschließenden Erkenntnistheorie stand ich aber skeptisch gegenüber. Und dennoch hat mich damals die Idee der Autopoiese des Nervensystems und die aus ihr abgeleitete Schlussfolgerung, dass sich Beratung und Therapie darauf beschränkt, das Nervensystem des jeweils Begleiteten zu verstören und anzuregen, fasziniert, das Konzept der Strukturdeterminiertheit des Nervensystems, seiner operationalen Geschlossenheit und die Idee, keinen direkten Zugriff auf das Denken des anderen zu haben, mich gefesselt. Ich erinnere mich an meine Versuche, Kolleg/inn/en von der Stichhaltigkeit der wissenschaftlichen Erklärungen und der Plausibilität der im Kontext der Biologie durchgeführten Experimente zu überzeugen, bildeten sie doch eine vermeintlich objektive Grundlage für meine ersten Versuche, Menschen zu beraten und in ihrer Entwicklung zu begleiten. Seit vielen Jahren halte ich die naturwissenschaftlichen Begründungsstrategien für überflüssig, sie führen nicht notwendig zu einer respektvollen Haltung der Achtung gegenüber der Autonomie von Personen. Noch heute erlebe ich, dass systemisch-konstruktivistische Praktiker/innen aus unterschiedlichsten Feldern der Sozialen Arbeit sich bei der theoretischen Begründung ihrer Arbeitsweisen unter anderem auf die Konzepte der Autopoiese von Maturana berufen und die Handlungsmöglichkeiten von Beratung, Therapie und Begleitung zu relativieren, sich in der Praxis aber gegenüber ihren Gesprächspartnern so verhalten, als ob sie über alle Möglichkeiten instruktiver Interaktion verfügen. Dennoch: Es ist spannend, ein Buch zu lesen, das unter anderen Büchern viele Ideen lieferte, die heute zu den Grundlagen systemischer Handlungskonzepte in der Beratung, Therapie etc. gehören. Maturana insistierte schon zu Beginn der Rezeption und Übertragung seiner Konzepte auf soziale Systeme durch Niklas Luhmann, dass seine Konzepte sich ausschließlich auf die Biologie beziehen und die Ideen nicht auf soziale Systeme übertragbar sind. Niklas Luhmann hat sich darum nicht geschert, dies war sicherlich ein Gewinn für seine Theorie Sozialer Systeme. Ich finde es faszinierend, wenn in Druckerschwärze vorhandene Ideen zur freien Verfügung und Weiterverwendung stehen. Wer Ideen im Sinne des Ideenproduzenten oder in seinem Sinne weiterentwickeln will, kommt nicht umhin, diese Ideen zu lesen, insofern kann man auch „Der Baum der Erkenntnis“ lesen und wieder lesen. Und schön ist auch, dass es zwischen der von mir gelesenen 1. Auflage und der 11. Auflage Wiedererkennungserlebnisse und Verstörendes ganz eigener Art gibt. In der 1. Taschenbuchauflage von 1990 gibt der Verlag als Übersetzer Kurt Ludewig in Zusammenarbeit mit dem "Institut für systematische Studien e. V.", Hamburg an. In der 11. Auflage hat Herr Ludewig zwar immer noch mit dem Institut für systematische Studien gearbeitet, aber jetzt heißt er Karl. Und schon hier wird eine Hauptaussage der Autoren vorweggenommen. Wie jemand durch die Weitergabe von Informationen angeregt wird, entscheidet immer noch der Empfänger einer Botschaft; systematisch bleibt systematisch und wird nicht notwendig systemisch.

(mit freundlicher Genehmigung aus kontext 36 (3), 2005, S. 283-285)





Hier können Sie eine weitere ausführliche und kritische Besprechung von Lona Rothe-Jokisch unter dem Titel "'Der Baum der Erkenntnis' oder Lässt sich ein GFK-Baum ohne Wurzeln atmen?' lesen (PDF-Datei)

Auch in der Heilpädagogik ist das Buch positiv rezipiert worden, wie diese  Rezension von Tim Bendokat zeigt.


Es gibt eine "inoffizielle" "web page of Humberto Maturana" mit einigen Originaltexten

Der vollständige englische Text von Humberto Maturanas Text "Biology of Cognition" aus dem Jahre 1970 ist online hier zu lesen.

Die persönliche Website von Franciso Varela, auf der einige seiner Arbeiten im Volltext heruntergeladen werden können  (Englisch/Französisch)

Eine weitere Seite mit einem Lebenslauf von Francisco Varela und einer vollständigen Bibliografie.


Peter Hejl, ein deutscher Soziologe, der sich in seiner Konzeption sozialer Systeme unter Berufung u.a. auf die Arbeiten Maturanas und Varelas (insbesondere auf ihre Definition von Autopoiese) gegen das Luhmannsche Konzept autopoietischer Kommunikationssysteme gestellt hat, aber bedauerlicherweise viel zu wenig rezipiert worden ist, hat eine eigene Website mit Verweisen auf Projekte und Veröffentlichungen.


Ein englischer Text "Autopoiesis, Culture, And Society" von Humberto Mariotti

"Life, the Multiverse and Everything: An Introduction to the Ideas of Humberto Maturana" von Vincent Kenny

Auch von Ernst von Glasersfeld ist ein Artikel online über Maturana zu finden: "Distinguishing the Observer: An Attempt at Interpreting Maturana"

Ein interessanter sozialwissenschaftlicher Online-Artikel von Horst Siebert im sowi-onlinejournal über "Sozialkonstruktivismus: Gesellschaft als Konstruktion"

Eine Seite mit verschiedenen Links zu Maturanas Ansatz

Und schließlich ist eine etwas wirre Seite mit unterschiedlichen Textbausteinen zu Buch und Thema hier vorhanden.




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