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Luhmann, Niklas
Soziale Systeme
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Suhrkamp, Frankfurt am Main
2001 (1984)
ISBN: 3518282662
Preis: 18,00 € |
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Suhrkamp-Verlag

Michael B. Buchholz, Göttingen:
Zu früh vermisst: Ein großer Lichtbringer (Luzifer) der Systemtheorie
Niklas Luhmann gehörte und gehört zu den in der
familientherapeutischen Welt meistzitierten Autoren. Ob er hier auch zu
den meist gelesenen gehört, wage ich zu bezweifeln. Seine Theorie ist
anti-intuitiv gegen den Alltagsverstand gestrickt, sie hat auch nicht
in erster Linie Familien oder deren Umweltbeziehungen im Blick und sie
ist obendrein keineswegs leicht verständlich.
Als sein Buch 1984 erschien, galt er Insidern längst als Geheimtipp.
Seine vorangegangenen Bücher über Organisationen, über Vertrauen als
einem Mechanismus sozialer Komplexitätsreduktion oder über Macht boten
eine intellektuelle Schärfe bei gleichzeitig äußerster Transparenz der
eingesetzten Denkmittel, wie man es nur bei wenigen Autoren der
damaligen Zeit fand. Und sein Titel „Soziale Systeme“ versprach
Aufklärung über all das, was auch Familientherapeuten am Herzen lag:
Wenn man schon einzelne Individuen nur schwer ändern könne, dann lassen
sich vielleicht eher die Systeme ändern – und „System“, das war auch
ein Wort, dessen Nachhall von den 70er Jahren her als „Gegner“ erkannt
war. System – das war alles das, was einschränkte und unfrei machte. So
wurde Luhmanns Buch mit steigender Begeisterung aufgenommen und als
sein Hauptwerk gefeiert, auch wenn wir mittlerweile einsehen mussten,
daß es doch eher als Vorwort oder Einleitungskapitel zu den dann
folgenden Ausarbeitungen des Gesamtwerkes, etwa über die „Wirtschaft
der Gesellschaft“, das „Recht der Gesellschaft“, „die Kunst der
Gesellschaft“ und schließlich „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (in
zwei Bänden sogar), einzustufen war. Nachdem Luhmann (der
Verwaltungsjurist) im Jahre 1966 zugleich promoviert als auch
durch Dieter Claessens (Berlin) habilitiert und im schönen Jahr 1968 nach Bielefeld berufen
worden war, schien die strahlende Sonne am Theoriehimmel über Bielefeld
Tag und Nacht ununterbrochen zu leuchten. Verbunden mit einer
persönlichen Freundlichkeit und angenehm unprätentiösen Haltung, wie
alle, die ihn kannten, berichten, betrieb er soziologische Aufklärung
in Augenhöhe mit der Zeit – als Abklärung also.
Und niemand mehr würde ihm, der zu vorzeitig kurz nach seiner
Emeritierung starb, noch vorhalten wollen, ein Systemtechnologe zu
sein, gegen den ein Habermas 1971 angetreten war; es war Habermas, der
die Zugeständnisse an Luhmann im Laufe der Jahre machen mußte und
fairerweise auch machte. Habermas hatte in einer theoretischen
Grundunterscheidung System und Lebenswelt einander so
gegenübergestellt, daß die Lebenswelt von manchen als Ort der Zuflucht
vor den Zumutungen des „Systems“ interpretiert werden konnte. Solche
Fluchtmöglichkeiten wurden von Luhmann versperrt.
Die wesentliche Innovation von Luhmanns Denken ergab sich daraus, daß
er drei Systeme voneinander abtrennte, die in der „alteuropäischen“
Subjekt- oder Bewusstseinsphilosophie (die er mit Habermas
gleichermaßen verabschiedete) im Begriff des Subjekts beständig
miteinander verknüpft angesehen wurden: Das biologische System des
Organismus, das psychische System des Bewusstseins und das soziale
System der Kommunikation. Alle drei bilden nun „Umwelten“ füreinander.
Während die Lebenswelt bei Habermas etwa in der primären Sozialisation
noch unverzichtbar für die Vermeidung sozialer Pathologien ist und
insofern das System „fundiert“, können sich Luhmanns drei Systeme
gegenseitig nur „irritieren“, nicht aber determinieren. Das ist eine
kontraintuitive Theorieentscheidung, weil man sich ja üblicherweise
vorstellt, das Bewusstsein denke sich etwas, wandle die Gedanken dann
in Worte um und teile das Gedachte dann mit. Und wenn man dann weiter
erfahren muß, daß Gedanken zwar an Gedanken, nicht aber an
Kommunikation anschließen können, ist man zunächst selbst irritiert,
bis man sich auf den ungemeinen Reiz, so erst einmal zu denken,
versuchsweise einlässt. Dann kann man etwas interessantes beobachten:
Gedanken sind immer im Überfluß vorhanden, selbst im „Tran“ oder im
Traum des Schlafes und sie vollziehen sich, fängt man nur erst einmal
an sie zu beobachten, in rasender und flüchtiger Geschwindigkeit.
Kommunikation hingegen ist durch bloße Beobachtung noch nicht so leicht
zu verändern, sie ist auch ungemein langsam. Und was sich einer denkt
während der Kommunikation, hat tatsächlich keinen Einfluß auf das, was
weiter kommuniziert wird; erst wenn er sich äußert, also mittels
Kommunikation an Kommunikation anschließt, gehen die Dinge weiter.
Zwischen den Systemen gibt es also eine gedachte Grenze; sie ist streng
definiert als diejenige Stelle, an der sich Irritation in Information
umwandelt. Kommuniziertes muß nach-gedacht werden, um in der
gedanklichen Welt anzukommen und umgekehrt.
Mit dieser Auftrennung der Systeme war für Luhmann gleichzeitig eine
evolutionstheoretische Perspektive verbunden, nämlich eine Sicht auf
Gesellschaft, die sich ja verändert. Das hätte in anderen Traditionen
den Namen der Zeitdiagnose erhalten, war dort aber einer larmoyanten
Beliebigkeit anheim gegeben; man jammerte über die Gesellschaft, die
Beschleunigung der Erfahrung oder den Verlust des politischen
Einflusses, hatte aber im Grunde keine schlagkräftige Theorie zur Hand.
Hier wurde allmählich immer deutlicher gesehen, daß Luhmann mit seiner
Theorie aushelfen konnte: Wenn nämlich psychische Systeme nicht direkt
an der Kommunikation und damit nicht unmittelbar an Gesellschaft
beteiligt sind, dann befinden sich die Menschen an der Peripherie ihrer
Gesellschaft – und das beschreibt präzise die erlebbare Erfahrung:
Menschen sind nicht mehr zentral. Studenten in einem sozialen System
wie der Universität, Patienten in einer Klinik, Mitglieder des ADAC
oder Kunden einer Bank – sie alle zählen für das jeweilige System nicht
als Personen in ihrer individuellen Biographie, sondern als
Stellglieder einer Systemfunktion; aber wenn der Professor besonders
nett, der Arzt aufmerksam und die Kundenberater hilfreich sind, dann
wird das nicht dem jeweiligen „System“, sondern ihnen als Personen – an
der Peripherie des Systems eben - zugerechnet. Persönliche
Eigenschaften werden im kommunikativen Vollzug durchaus als etwas
wahrgenommen, was nicht Teil des Systems ist. Deshalb kommt Luhmann zum
Schluß, Gesellschaft bestehe nicht aus Individuen, man müsse sie
vielmehr als Kommunikation beschreiben. Außerhalb davon befindet sich
die Person, die nun ihrerseits im Stande ist, Gesellschaft zu
beobachten – aber wenn sie kommuniziert, was sie beobachtet, muß sie
sich der gesellschaftlichen Medien bedienen.
Die dabei eingenommene Perspektive ist selbst von einer reichlichen
Abstraktionshöhe eingenommen, die er als „Flug über den Wolken“
metaphorisierend beschreibt. Deshalb ist ihm auch mit Berechtigung
vorgehalten worden, er könne ja dann nur mit den Instrumenten des
(theoretischen) Blindflugs sich orientieren und in der Tat, hier setzt
sozusagen die Schwierigkeit an, wenn man meint, Luhmann’sches Denken
ohne Abstriche auf therapeutische Praxis übersetzen zu können. Das geht
nicht. Ob man als Psychotherapeut (gleichgültig welcher Schule) heute
noch zustimmen mag, wenn Luhmann feststellte, die Systemtheorie habe
keine Verwendung für den Subjektbegriff (S. 51, S. 111), ist fraglich;
die therapeutische Praxis könnte in seiner Theorie allenfalls als eine
besondere Form der Kommunikation, die Subjektivität als Ressource
nutzt, beschrieben werden. Mit dieser Abstraktion wären dann die
theoretischen Ansprüche befriedigt, aber die Beschreibung der Praxis
selbst wäre reichlich unterkomplex. Tatsächlich kamen die handfesten
praktischen Anregungen eher von den Leuten aus der Praxis, die
sozusagen durch Luhmanns Schulung gegangen sind, dann aber durch die
Wolken nach unten vorzustoßen wagten und sich vor dem Aufprall mit den
gewöhnlichen irdischen Dingen durch die Entwicklung praktischer
Fallschirme schützten.
Luhmann selbst scheint hier durchaus ambivalent gewesen zu sein. Im
Jahr 1988 publizierte er in der Zeitschrift „System Familie“ einen
Aufsatz, der auch die Familie als nicht aus Personen, sondern als aus
Kommunikation zusammengesetzt ansehen wollte, worauf der Bielefelder
Familiensoziologie Hartmann Tyrell antwortete, gerade das
Nicht-Systemische an der Familie mache deren eigentümlichen Charakter
aus. Das war überraschenderweise ein argumentativer Habermas’scher
Brückenkopf, der da in Bielefeld sich zeigte. Zwar wisse man, so
Tyrell, die Familie sei eine Institution und insofern auch ein System,
aber doch etwas anderes als eine Schule oder eine Klinik, wo die
Personen ausgewechselt werden können, ohne daß die Institution ihren
Charakter ändert. Gerade die Auswechselbarkeit von Personen könne man
einer Familie aber weder praktisch noch theoretisch zumuten. Hier war
also ein Dilemma, auf das die familientherapeutische Praxis dann mit
der Entwicklung von personbezogenen Systemtheorien antwortete.
Gleichzeitig hatte Luhmann in der Zeitschrift „Merkur“ einen Aufsatz
veröffentlicht, in welchem er die Psychoanalyse als diejenige Theorie
lobte, die sich am allermeisten zu erkenntnistheoretischer Innovation
vorgewagt hatte, zu jenen Innovationen, die „eigentlich verboten“
gewesen seien. Die Psychoanalyse konnte nämlich, in Luhmanns
Terminologie, dasjenige beobachten, was die beobachteten Systeme (=
Menschen) an sich selbst nicht beobachten konnten. Sie hatte dafür den
Namen des Unbewußten aus philosophischen Traditionen übernommen, die
Luhmann an der Vordertür als „alteuropäisch“ ablehnte, die er aber
durch die Hintertür doch vorsichtig ins theoretische Haus lassen mußte.
Plötzlich saß „das Subjekt“ doch wieder mit am Wohnzimmertisch.
Sieht man genau hin, dann kann man sogar sagen, daß Luhmann sich mit
derjenigen Frage herumschlägt, die das delphische Orakel jedem aufgab:
„Erkenne Dich selbst!“, eine Aufgabe, die in die bekannten Paradoxien
der Selbstrückbezüglichkeit einmündet. Solange das erkennende Subjekt
sich selbst zum Objekt nimmt, verfehlt es gerade sich selbst als
Subjekt. Diese Problemstellung hatte die Psychoanalyse aus der
Philosophie geerbt und deshalb ist es treffender, die Psychoanalyse als
angewandte Form der Philosophie beschreiben; freilich weiß sie das
gelegentlich selbst nicht mehr und soweit sie von der Medizin
verschluckt ist, fehlt ihr gelegentlich völlig die Selbstreflexion.
Luhmann überträgt die delphische Frage, wie man über sich selbst
nachdenken kann, dann auch auf die Gesellschaft: Wie kann eine
Gesellschaft sich erkennen, wie also ist überhaupt eine Lehre von der
Gesellschaft (sprich: Soziologie) möglich, die sich nicht in die
gleichen Paradoxien verrennt? Die Antwort ist: gar nicht, weil ein
Standpunkt außerhalb, weil „god’s eyes view“ (Hilary Putnam) mit dem
Erscheinen des wissenschaftlichen Weltbildes nicht mehr zu haben ist.
Alle Philosophie und alle Theorie wird von Luhmann deshalb als
Entparadoxierungsstrategie aufgefaßt, als Versuch, mit den
vermaledeiten Problemen der Selbsterkenntnis zurecht zu kommen. Seine
Lösung heißt, daß Teile der Gesellschaft (die Funktionssysteme der
Wirtschaft, des Rechts, der Kunst, der Politik) sich beobachten und
einander beim Beobachten beobachten und dabei das konstruieren, was
ihnen jeweils als Gesellschaft gilt. Gesellschaft als Ganzes ist „nicht
zu haben“, aber es gibt eine „Gesellschaft der Gesellschaft“, die sich
vor allem an ihren Bildschirmen im Wohnzimmer selbst beobachtet.
Luhmann ist also einer, dessen sozialer Konstruktivismus erklärt, wie
die Menschen sich mit ihren Beschreibungen selbst das schaffen, was sie
nur zu beschreiben meinen und er fügt sich, so verstanden, in die
großen Traditionen der philosophischen Entlarvungen ein, ernüchtert
freilich, abgeklärt und ohne große Erwartungen. Das kommt gelegentlich
einer Zen-Haltung recht nahe.
Von heute aus gesehen lese ich Luhmanns Buch erneut – mit einer
gewissen Melancholie, weil ich die Höhe seiner intellektuellen
Durchdringung in der familientherapeutischen Welt vermisse und mich
erinnere, wie elaboriert und erregend manche Auseinandersetzungen mit
ihm waren; ich lese ihn als einen, der auch heute noch die spirituellen
und philosophisch-intellektuellen Impulse, die sich einst mit einer
avancierten Psychoanalyse verbanden, durchaus vielleicht nicht zu
befriedigen, ihnen aber doch anregend standzuhalten wüsste. Und ich
frage mich, ob seine Theorie nicht einen Namen hat, die
Verdinglichungen nahe legen könnte, die er abgelehnt hätte, ob er nicht
statt als Systemtheoretiker besser als Selbstreflexionstheoretiker
aufzufassen wäre? Freilich eines Selbst, das nicht die individuelle
Person meint, sondern vielleicht etwas Umfassenderes. Er meinte ja in
Hegelscher Formulierung „die Gesellschaft als Subjekt“ – den
Preis, der mit Hegels Namen verbunden ist, hat Luhmann ja durchaus zu
Recht erhalten. Heute könnten wir von ihm lernen, daß das
„Epistobabbel“, das lange Zeit unsere Gazetten durchzog, durchaus nicht
nur auf die Frage, ob etwas „wirklich“ oder „konstruiert“ ist,
beschränkt bleiben muß; vieles, was eine erneute Lektüre dieses
Klassikers hergibt, könnte erneut angestoßen und mit Gewinn diskutiert
werden.
(mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus Kontext, Heft 2/2002)
Renate Zwicker-Pelzer, Erftstadt:
Ein systemischer Blick auf den Hintergrund der Theorie Sozialer Systeme von Niklas Luhmann
Auf die Theoriekrise der Soziologie hin formulierte Niklas Luhmann 1984
seinen Theoriebeitrag. „Klassiker sind Klassiker, weil sie Klassiker
sind; sie weisen sich im heutigen Gebrauch durch Selbstreferenz aus“,
doch nicht nur das, Neuheitsgewinne geschehen durch die Kombinationen
der Theoriesyndrome. Und angesichts dieser „Amalgamierungen wird dann
wieder möglich und nötig, sich um ein Wiedergewinnen der eigentlichen
Gestalt der Klassiker zu bemühen“ (S. 7f.).
Niklas Luhmann war bei der Erstveröffentlichung dieses Werks 56 Jahre
alt und fünfzehn Jahre schon Professor für Soziologie in Bielefeld.
Seine Veröffentlichung meinte als „Klassiker“ nicht ihn selbst sondern
Weber, Parson und viele andere. Im Blick auf die „Theorie sozialer
Systeme“ aber ist er heute für uns ein ausgezeichneter Klassiker.
Munter weist er schon im Vorwort deutlich darauf hin, wofür er antritt.
Ein neues Denken möge die Soziologie beflügeln, die die Spannung
zwischen Komplexität und Transparenz in ein neues Verhältnis zueinander
bringt, indem die Erkenntnis als Vorgang des mehr oder weniger
begrenzten Verstehens gesehen wird und von der Ausschließlichkeit im
Wahrheitsanspruch zu anderen Theorien Abstand genommen wird.
Er fordert und fördert die „Universalität der Gegenstandserfassung“, d.
h. die soziologische Theorie möge „alles Soziale“ behandeln und nicht
nur „soziale Ausschnitte“ (wie z. B. Schichtung). Dabei sieht er sehr
wohl selbstkritisch wie diese „Theorieanlage“ eher einem Labyrinth
gleicht als einer Schnellstrasse mit übersichtlichem Ende, und in der
Tat ist, wie er sagt, zum Lesen und Verstehen seines Werkes Geduld,
Phantasie, Geschick und Neugier unbedingt angesagt, um 680 Seiten harte
Theoriekost verdaulich zu halten.
Im ersten Teil legt er die Notwendigkeit des Paradigmenwechsels in der
Systemtheorie dar. Es folgen dann jeweils 40–60 Seiten lange Kapitel:
– System und Funktion
– Sinn
– Doppelte Kontingenz
– Kommunikation und Handlung
– System und Umwelt
– Interpenetration
– Die Individualität psychischer Systeme
– Struktur und Zeit
– Widerspruch und Konflikt
– Gesellschaft und Interaktion
– Selbstreferenz und Rationalität
– Konsequenzen für Erkenntnistheorie
Was sich unschwer aber aus der Gliederung des großen Werkes erkennen
läßt, sind die für die 1980er Jahre neuen Begrifflichkeiten des
„Soziologietreibens“. Abhandlungen über Sinn, Kommunikation, die
Relevanz Psychischer Systeme etc. weisen auf neue Denkaufgaben hin,
provozieren ein neues und interdisziplinäreres
Wissenschaftsverständnis. Der Mensch ist dauernd in seinen Querbezügen
zu sehen und ist nicht in partiellen Systemelementen verstehbar.
Um ihn herum und in anderen Wissenschaftsgebieten hatte diese neue
Bewegtheit bereits Platz ergriffen. Mein eigener querdenkerischer Blick
fiel zuerst auf Urie Bronfenbrenner, der mit seinem Postulat der
„Ökologie der menschlichen Entwicklung“ ähnlich vorgeht. Das „Haus des
menschlichen Lebens“ ist mehr als die Person und Teile der Person an
sich. Der Mensch steht in der aktiven Auseinandersetzung mit der
alltäglichen Umwelt. Ökologie ist zu verstehen als die vom Menschen
selbst gestaltete und gestaltbare Umwelt (1979 erschien die englische,
1981 die ins Deutsche übersetzte Ausgabe seines Werkes).
Ein anderer Umdenk-Genosse dieser Zeit war Paul Watzlawick. Die erste
deutschsprachige Ausgabe seiner „Menschlichen Kommunikation“ erschien
1969. Und ähnlich wie Luhmanns Verständnis der Kommunikation geht es
beiden um die Interaktivität, Gestaltbarkeit, Veränderbarkeit von
menschlichen Lebensprozessen (aktiv – interaktiv).
In dem großen Werk von Luhmann selbst nimmt er auf die Beflügelung
seines neuen Denkens in querwissenschaftlichen Bezügen nicht Stellung.
Dem Leser/der Leserin bleibt offen, wie und durch wen er (über die
Väter der Soziologie hinaus) inspiriert war. Fest steht aber, daß
Psychologie, Biologie, Kommunikation und Psychotherapie weltweit bis
dahin bewegter schien als die wissenschaftlichen Denker in Deutschland
sich so allgemein anschickten.
Luhmanns Systemverständnis hat einen wahrhafteren Zugang. Menschen sind
nicht nur „nichttriviale“ Systeme, sondern sie sind als psychische und
soziale Systeme in einem Bewußtseins- und Kommunikationszusammenhang,
sie erzeugen „Sinn“, der die Möglichkeiten des Erlebens und Handelns
erweitert.
Änderung vom und im sozialen System geschieht immer selbstreferentiell,
d. h. das System wirkt bei der Änderung der eigenen Zustände immer
selbst mit. Im wesentlichen geschieht dies durch Kommunikation, die
nach Luhmann unter anderem als koordinierte Selektivität zu verstehen
ist und unterscheiden hilft zwischen Information und Mitteilung,
zwischen Ablehnung und Zustimmung zwischen Differenz und thematischer
Ordnung (u. v. a. m.). Kommunikation kann nicht „direkt beobachtet,
sondern nur erschlossen werden“ (S. 226ff.).
Wie diese Kommunikation das System in seiner Umwelt immer wieder neu
plaziert und die Umwelt das psychische und soziale System lebendig
halten kann, wird im Kapitel 4 und 5 hochdifferenziert präsentiert. Der
Vorgang des „Handelns“ darin ist sicherlich die für die professionelle
Soziale Arbeit reizvolle Disposition. Die Entwicklung des psychischen
und sozialen Systems geschieht durch Handlung aber nicht jede
Kommunikation ist gleichsam Handlung. Eine Verlockung liegt nahe: Viel
gäbe es jetzt hier übersetzend noch in Details einzugehen, das wäre
dann eine umfangreichere Abhandlung und würde den Rahmen der Rezension
sprengen. Für wen und wann aber ist diese Lektüre anregend? Ich denke insbesondere an die professionelle Sozialarbeit/Sozialpädagogik: –
Der klientenbezogene und intrapsychische Blick erfährt eine neue
Weitung, die in den Wurzeln der Professionsgeschichte auch schon immer
vorhanden war und hier verstärkt wird.
– Die System- und Feldkompetenz erfährt eine bereichernde Dimension, in
der die Bedeutung von Kommunikation, Sinn und Handlung neu erschlossen
werden könnte. Ich denke an die Kolleg(inn)en in systemischer Therapie und Beratung:
– Die Beschäftigung mit Grundlagen und Theorien der familientherapeutischen Praxis bietet neue Reflexionszugänge.
– Micro-meso- und macro-Systemzusammenhänge von Fallgeschichten können an Transparenz gewinnen. –
Systemische Fallgeschichten füllen viele systemische Fachbücher mit dem
Ziel des Theorieverstehens: hier wird der Leser/die Leserin davon
freigelassen und eher angeregt, zum tieferen Verstehen eigene
Fallgeschichten selbst zu mobilisieren.
(mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus Kontext, Heft 2/2002)
Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach (1989):
Wieso eigentlich sollte sich jemand mit “dem Luhmann” beschäftigen, ihn
auch noch besprechen, zumal (um gleich in die Vollen zu gehen) “nur
Komplexität Komplexität reduzieren (kann)” (S. 49)?
Eine Art Luhmannismus scheint sich zu entwickeln, der
interessanterweise sich sowohl in ablehnender, wie in zustimmender Form
äußert. Die einen spotten über so etwas wie eine “Luhmannisierung von
Banalitäten”, andere legen ihn auf den Schreibtisch und lassen ihn
ungelesen dort liegen, weil er zwar als unverzichtbar aber unverdaulich
gilt, und die meisten der neueren innovativen Arbeiten zum Thema
Systemische Therapie enthalten ihn zumindest in der Literaturliste.
Darüber hinaus wird er als Experte immer häufiger zu
systemtherapeutischen Fragestellungen selbst gehört (vgl. anhängende
Literaturliste). Kurzum: Luhmann wird zur Zeit "gehandelt", ohne ihn
tut man sich schwer "am Ball zu bleiben". Was hat es damit auf sich?
Zunächst bietet Luhmann eine gründliche Auseinandersetzung mit dem
Begriff "System". Die Selbstverständlichkeit, mit der Begriffe wie
"System", systemisch", und das auch noch in Verbindung mit dem Begriff
"Therapie" seit einiger Zeit benutzt werden, wird wohl mit Dämpfern
leben müssen in der Zeit "nach Luhmann". Ich vermute, diese Dämpfe
werden dem Bemühen um transparente, ökologische und angemessene
therapeutische Arbeiten gut tun.
Luhmann ersetzt die bisher dominierende Differenz zwischen Ganzem und
Teil durch die Leitdifferenz System/Umwelt und macht sie zum
Ausgangspunkt systemtheoretischer Analysen. System und Umwelt bedingen
einander. "Die Umwelt erhält ihre Einheit erst durch das System und nur
relativ zum System. Sie ist ihrerseits durch offene Horizonte, nicht
jedoch durch überschreitbare Grenzen umgrenzt, sie ist also selbst kein
System." (S. 36).
Desweiteren gilt als entscheidend die Differenz von Element und
Relation. Während die Differenz System/Umwelt hinzielt auf
Systemdifferenzierung, verweist die Differenz Element/Relation
auf Systemkomplexität. Ein Satz wie "Elemente sind Elemente für die
Systeme, die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese
Systeme" (S. 43) klingt zunächst entweder banal oder zumindest nicht
sonderlich verdächtig. Unter Einbeziehung der Konzepte
"Selbstreferenz", "Autopoiese”, "Temporalisierung von Komplexität u.a.
ergibt sich allerdings nach einiger Zeit die "menschlich"
problematische Fragestellung, wie damit umzugehen ist, dass Systemische
Therapie es offensichtlich nicht mit Menschen zu tun hat , sondern mit
- Systemen. "Der Mensch mag für sich selbst oder für Beobachter als
Einheit erscheinen, aber er ist kein System. Erst recht kann aus einer
Mehrheit von Menschen kein System gebildet werden." (S. 670).
Luhmann unterscheidet lebendige (biologische), psychische und soziale
Systeme. Lebendige Systeme operieren im Modus biologischer Prozesse,
psychische im Modus der Bewusstheit, soziale im Modus der
Kommunikation. Jedes dieser Systeme ist für das andere Umwelt.
Jedes dieser Systeme operiert autopoietisch in Form der Relationierung
der zugehörigen Elemente. Die jeweiligen Systemprozesse stellen für¸
das jeweils andere System "Rauschen" dar, im Grunde genommen eine
Störung, eine Störung allerdings, die unter Berücksichtigung der
Einheit von System und Umwelt notwendig ist als "Betriebsbedingung von
außen".
Interpenetration ist der Begriff, den Luhmann wählt, um
Intersystembeziehungen zu beschreiben. Penetration bedeutet, dass ein
System "die eigene Komplexität (und damit Unbestimmtheit, Kontingenz
und Selektionszwang) zum Aufbau eines anderen zur Verfügung stellt."
(S. 290).
Interpenetration bedeutet, dass dies wechselseitig geschieht. Ein etwas
längeres Zitat dazu soll beispielhaft verdeutlichen, wie Luhmann diese
Gedanken durchhält, in Bezug auf andere Theoreme berücksichtigt und
verknüpft: "Die interpenetrierenden Systeme bleiben füreinander Umwelt.
Das bedeutet: die Komplexität, die sie einander zur Verfügung stellen,
ist für das jeweilige aufnehmende System unfassbare Komplexität, also
Unordnung.
Man kann deshalb auch formulieren, dass die psychischen Systeme die
sozialen Systeme mit hinreichender Unordnung versorgen, und ebenso
umgekehrt. Die Eigenselektion und Autonomie der Systeme wird durch
Interpenetration also nicht in Frage gestellt. Selbst wenn man sich
Systeme als volldeterminiert vorstellen müsste, würden sie durch
Interpretation mit Unordnung infiziert und der Unberechenbarkeit des
Zustandekommens ihrer Elementarereignisse ausgesetzt.
Alle Reproduktion und alle Strukturbildung setzt damit eine Kombination
von Ordnung und Unordnung voraus: strukturierte eigene und unfassbar
fremde, geregelte und freie Komplexität. Der Aufbau sozialer Systeme
(und ebenso Aufbau psychischer Systeme) folgt dem order from noise
principle (von Foerster). Soziale Systeme entstehen auf Grund der
Geräusche, die psychische Systeme erzeugen bei ihren Versuchen zu
kommunizieren" (S. 291f).
Wenn man sich entschließt, sich durch die Fülle des Materials und den
nervenden ("Theoriebautechnik" gerecht werdenden) Sprachgebrauch nicht
erschlagen zu lassen, ergeben sich atemberaubende Phasen, in denen man
staunend erleben kann, wie Luhmann zentrale Begriffe erarbeitet (als
weitere Beispiele: "Komplexität", "Reduktion von Komplexität" "Sinn”,
"Kommunikation" (in Abgrenzung zu "Handlung"), "Struktur", "Prozess"),
sie differenziert, zueinander in Beziehung setzt, dabei die "Einheit
der Differenz" durchhält und der Komplexität des Lebens eine Plattform
abringt, auf der man sich wenigstens über Nicht-Verstehen verständigen
kann. Ich kann das nur andeuten.
Aber was bringt dieses (wahrscheinlich ambivalente) Vergnügen für
praktisch arbeitende Therapeuten, die doch genug mit den
Schwierigkeiten eines komplexen Alltags zu tun haben?
Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage mag die Aussage sein “Die
Theorie der sich selbst herstellenden, autopoietischen Systeme kann in
den Bereich der Handlungssysteme nur überführt werden, wenn man davon
ausgeht, dass die Elemente, aus denen das System besteht, keine Dauer
haben können, also unaufhörlich durch das System dieser Elemente selbst
reproduziert werden müssen.” (S. 28). D.h.: Soziale Systeme (ob sie
sich nun als Sinnzusammenhang "Familie", "Freundschaft", "Team" o.ä.
bezeichnen) benötigen Hilfsmittel, die ihnen ermöglichen, Kommunikation
fortzusetzen (die sie sich als zusammengehörig definieren läßt),
Anschlussmöglichkeiten zu schaffen und zu erkennen. Struktur, bzw.
Ordnung gilt als der notwendige Identifikator. Lernen (wissen/nicht
wissen) und Normen (abweichend/konform) erscheinen als die beiden
gängigen Varianten des "Struktursicherungsmittels" Generalisierung.
Generalisierung ermöglicht einen Umgang mit der grundsätzlichen
Unbestimmtheit dessen, was geschieht (Zeit ist begrenzt, Auswahl ist
notwendig, Enttäuschung von Erwartungen ist möglich usw.).
Als weiteres Struktursicherungsmittel nennt Luhmann Latenz. Für
psychische Systeme gilt dann Latenz in Form von
Unbewusstheit/Unkenntnis. Für soziale Systeme gilt Latenz als "Fehlen
bestimmter Themen zur Ermöglichung und Steuerung von Kommunikation" (S.
458).
'Wenn Strukturen Latenzschutz benötigen heißt dies dann nicht, dass
Bewusstheit bzw. Kommunikation unmöglich wäre; sondern es heißt nur,
dass Bewusstheit bzw. Kommunikation Strukturen zerstören bzw.
erhebliche Umstrukturierungen auslösen würde, und dass diese Aussicht
Latenz enthält, also Bewusstheit bzw. Kommunikation blockiert." (S.
459).
Akzeptiert man solche Gedanken, schließen sich leicht Überlegungen zu
"Problem-Systemen" an, wie sie z.B. Ludewig (1987) formuliert.
Problem-Systeme werden als soziale Systeme erkennbar, für die ein
exponentielles Anwachsen der Anschlussmöglichkeiten an "problematische
Ereignisse" charakteristisch zu sein scheint. Alternative
Kommunikationsereignisse (Themen, Formen) werden entweder durch
"Nicht-Wissen", normative Einschätzung als "abweichend" oder im Sinne
von "Latenzschutz" blockiert. Das "Problem" erscheint dann geradezu als
notwendige Quelle des Systemzusammenhalts. Die damit korrespondierende
"Verkrüppelung von Komplexität (im Sinne von Foersters) tritt als
Maximierung eines "problemgenährten” Erhaltungsdrucks in Erscheinung
(der jenseits eines kritischen Grenzwertes natürlich auch zur
Beendigung führen kann: Der Bogen bricht, ein Paar trennt sich, einer
erschlägt den anderen, jemand stirbt an "gebrochenem Herzen"). Die
Frage: "Und was wäre anders, was würde geschehen, wenn X das Symptom
nicht mehr zeigt?" macht in der Regel deutlich, dass dann sozusagen die
Notwendigkeit bestünde, neue Substanz zu (er-)finden, die wiederum
ständig "mit Hilfe der Strukturmuster reproduziert werden" muss (S.
474), es sei denn, man wäre froh über das Ende eines sozialen Systems
(z.B. Trennung). In einem m.E. sehr wichtigen Kapitel "Widerspruch und
Konflikt" erarbeitet Luhmann dann einen weiteren Aspekt, der, wieder
auf "Problem-System" angewendet, mir deutlich macht, wie die
Wahrscheinlichkeit für Problem-Systeme im Grunde deutlich höher liegt
als die Wahrscheinlichkeit für "Nicht-Problem-Systeme" . Luhmann
arbeitet heraus, wie Konflikte "gerade der Fortsetzung der
Kommunikation (dienen) durch Benutzung einer der Möglichkeiten, die sie
offen hält: durch Benutzung des Nein." (S. 530). In diesem Zusammenhang
sind dann Abschnitte übe Erwartung, Erwartungsannahmen, Ansprüche
wichtig (S. 362 ff).), deren Rekapitulation hier zu weit führt. .Was
geschieht, wenn ich das, was Luhrnann unter dem Stichwort "Konflikt"
anführt, auf "Problem" übertrage und ebenfalls als "parasitär”
existierendes soziales System verstehe? Zitate zu "Konflikt": "Ein
Konflikt kann deshalb objektiv fast anlasslos entstehen. Es genügt,
wenn auf eine wie immer vage Erwartungsannahmezumutung mit einem wie
immer vorsichtigen nein reagiert wird… Hat man sich einmal auf einen
Konflikt eingelassen, gibt es kaum noch Schranken für den
Integrationssog dieses Systems …
Das System erreicht zu hohe Interdependenz: ein Wort gibt das
andere, jede Aktivität muss und kann mit irgendwelchen anderen
beantwortet werden. Die destruktive Kraft des Konflikts liegt nicht in
ihm selbst und erst recht nicht in den Schäden an Reputation,
Handlungspotential, Wohlstand oder Leben, die er den Beteiligten zufügt
sie liegt in dem Verhältnis zum System, in dem der Konflikt Anlass und
Ausgang gefunden hatte - etwa Verhältnis zum Nachbarn, in der Ehe oder
Familie … (D)as Parasitentum … tendiert zur Absorption des gastgebenden
Systems durch den Konflikt in dem Maße, als alle Aufmerksamkeit und
alle Ressourcen für den Konflikt beansprucht werden." (S. 532 f).
Wenn ich das Wort "Konflikt" jeweils durch "Problem" ersetze, erscheint
mir recht frappant genau des ausgedrückt zu sein, was ich in der Regel
erlebe, wenn ich es in der Praxis mit gut eingespielten
Problem-Systemen zu tun habe. Ich bin mir im Klaren, dass ein solches
Wort-Tausch-Experiment möglicherweise riskant ist, wage es aber, da ich
mir daraus Inspiration für die Praxis erhoffe. Die Inspiration erhält
zusätzliche Nahrung, wenn ich den weiteren Überlegungen Luhmann's
folge, in denen er sich über mögliche Umgang mit Konflikten äußert.
"Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten fragen wir nicht nur nach
der ‘Lösung’ und schon gar nicht nach einem ‘guten Ende’ von
Konflikten, sondern vor allem nach ihrer Konditionierbarkeit” (S. 536).
D. h., welche Konsequenz hat es, wenn ich als Ziel von Therapie nicht
zentral nach "Problem-Freiheit" suche, sondern nach Rahmenbedingungen
für einen weniger parasitären, weniger sogkräftigen aber dafür
flexibleren und "schöneren” Generator von Anschlussmöglichkeiten für
Kommunikation?
Solche therapierelevanten Fragen stehen für Luhmann als Soziologen, der
eine allgemeine Theorie sozialer Systeme erarbeitet, natürlich nicht im
Vordergrund.
Anmerkungen zur therapeutischen Situation erscheinen dann auch
gelegentlich als Fußnoten-Beitrag, oder sie ergeben sich aus
Analogisierungen ( Eine interessante Erfahrung war für mich, Luhmanns
Gedanken über "Aufklärung auf "Therapie" zu übertragen).
Ebenfalls stehen für Luhmann psychische Systeme nicht im Vordergrund.
Ein darauf bezogenes Kapitel "Die Individualität psychischer Systeme"
scheint er eher einzufügen, um kritischen Bemerkungen im Vorfeld zu
begegnen, und er bezeichnet dieses Kapitel für die vorliegende Theorie
als marginal. Für therapeutisch Arbeitende ist es natürlich nicht
marginal, da es sich mit der für Therapeuten wichtigen Frage
beschäftigt, "wie psychische Systeme ihre Selbstreproduktion von Moment
zu Moment, den Strom ihres 'Bewusstseinslebens’ , so einrichten können,
dass ihre Geschlossenheit mit einer Umwelt sozialer Systeme kompatibel
ist." (S. 348).
Insgesamt erscheint mir Luhmanns Beitrag von kaum zu unterschätzende
Bedeutung für Formulierung und Reflexion system(therapeut)ischer
Arbeit. Er bietet einen unglaublich (!) immensen Fundus (als Überblick,
als Verknüpfung, als interessantes Detail (in dem bekanntlich der
Teufel steckt), als Information übe die historische Entwicklung von
Ideen), der immer wieder Anschlussmöglichkeiten schafft. "Aus dem
Vollen schöpfen” hat für mich eine neue Bedeutung erhalten.
Der wesentliche Verdienst scheint mir darin zu liegen, dass die
vorliegende Theorie sozialer Systeme nun ermöglicht, das Konzept der
Autopoiese auch auf soziale Zusammenhänge anzuwenden. Die dazu
geleistete Definitionsarbeit erscheint stupend. Es wird wohl Jahre
dauern, bis die Ernte eingefahren ist. Der innovative Schub, den diese
Arbeit auslöste, ist jedoch bereits erkennbar, und ich hoffe, die darin
enthaltene Zumutung erweist sich als Zu-Mut-ung.
Kritische Auseinandersetzung mit Luhmann, wie sie z.B. Kriz (1988) zur
"Pragmatik systemischer Therapie-Theorie" formuliert, könnte zur
weiteren Präzisierung des Nutzens der Theorie sozialer Systeme für die
Therapie-Praxis führen. Auch Ludewig (1988b) lässt erkennen, wie sich
durchaus auch in differenzierender Distanz von Luhmann profitieren
lässt.
Der Wert der Luhmann’schen Theorie für eine therapeutische Praxis lässt
sich m.E. in der Auseinandersetzung mit Fragen wie den folgenden noch
näher bestimmen:
-
Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Konzept der Interpenetration? (z.B. Luhmann, 1986; Baecker, 1988).
-
Wie lassen sich die Überlegungen zu psychischen Systemen weiter ausbauen und nutzen? (z.B. Luhmann, 1985).
-
Welche Konsequenzen ergeben sich unter Einbeziehung lebendiger Systeme
(biologischer Prozesse) z.B. für den bisher einschränkend
"psychosomatisch" genannten Bereich? (z.B. unter Einbeziehung der
Überlegungen von Rossi (1988)?).
-
Welche Konsequenzen hat dies für Setting, Interventionsverständnis und Evaluation? (z.B. Ludewig, 1988a,b).
-
Unter welchen Bedingungen könnte die Theorie sozialer Systeme die
Kommunikation von therapeutisch Arbeitenden untereinander fördern?
(vgl. Steiner & Reiter, 1988).
Ein Tip zum Schluss Das erste Kapitel "System und Funktion" enthält
komprimiert die meisten der in den weiteren Kapiteln ausführlich
dargestellten Gedanken. Wer sich nicht zu einer "Weltreise"
entschließen mag, erhält auch auf diesem Stück bereits einen guten
Überblick. Ein ausführliches Register ermöglicht dann das Aufsuchen
speziell interessierender Themen.
Literatur
BAECKER, D. 1988: Die Ökologie der Angst. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis 20(3), 301-313.
KRIZ, J. 1988: Pragmatik systemischer Therapie-Theorie. Teil I:
Probleme des Verstehens und der Verständigung In: System Familie 1(2),
92- 102.
KRÜLL, M., LUHMANN, N. & MATURANA, H. 1987: Grundkonzepte der
Theorie autopoietischer Systeme. Neun Fragen an Niklas Luhmann und
Humberto Maturana und ihre Antworten. Z. f. System. Therapie 5(1), 4-25.
LUDEWIG, K. 1987: 10+ 1 Leitsätze bzw. Leitfragen. Grundzüge einer
systemisch begründeten klinischen Theorie im psychosozialen Bereich. Z.
f. System. Therapie 5(3), 178-191.
LUDEWIG, K. 1988a: Nutzen, Schönheit, Respekt - Drei Grundkategorien
für die Evaluation von Therapien. System Familie 1(2), 103-114.
LUDEWIG, K. 1988b: Problem - "Bindeglied" klinischer Systeme. Grundzüge
eines systemischen Verständnisse psychosozialer und klinischer
Probleme. In: Reiter, L., Brunner. E. J. & Reiter-Theil, S. (Hrsg).
Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive. Berlin: Springer. S. 231-249.
LUHMANN, N. 1985: Die Autopoiesis des Bewußtseins Soziale Welt 36, 402-446.
LUHMANN, N. 1986: Systeme verstehen Systeme. In: Luhmann, N. & Schon-, K. (Hrsg.) Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik Frankfurt: Suhrkamp stw 572. S 72-117.
LUHMANN, N. 1988: Sozialsystem Familie. System Familie 1(2), 75-91.
ROSSI, E. R. 1988: Neue Aspekte der molekularen Grundlagen des
psychosomatischen Heilungsprozesses in der therapeutischen Hypnose.
Hypnose & Kognition 5(1), 11-24.
SIMON, F.B. (Ed.) 1988: Lebende Systeme.
Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Berlin:
Springer (mit 2 Originalbeiträgen Luhmanns und weiteren 3 Protokollen
von Diskussionen, an denen Luhmann beteiligt war).
STEINER, E. & REITER, L. 1988: Der Beitrag der Theorie
selbstreferentieller Systeme zur Präzisierung von Forschungsfragen in
der systemischen Therapie. System Familie 1,(2), 1 15-123.
(mit freundlicher Genehmigung aus systhema")

Ein weiterer Kommentar von Lutz Ohlendieck
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