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Klassiker zur Übersicht
Luhmann, Niklas
Soziale Systeme
Luhmann Soziale Systeme Suhrkamp, Frankfurt am Main

2001 (1984)

ISBN: 3518282662
Preis: 18,00 €
Suhrkamp-Verlag





Michael B. Buchholz, Göttingen:

Zu früh vermisst: Ein großer Lichtbringer (Luzifer) der Systemtheorie

Niklas Luhmann gehörte und gehört zu den in der familientherapeutischen Welt meistzitierten Autoren. Ob er hier auch zu den meist gelesenen gehört, wage ich zu bezweifeln. Seine Theorie ist anti-intuitiv gegen den Alltagsverstand gestrickt, sie hat auch nicht in erster Linie Familien oder deren Umweltbeziehungen im Blick und sie ist obendrein keineswegs leicht verständlich.
Als sein Buch 1984 erschien, galt er Insidern längst als Geheimtipp. Seine vorangegangenen Bücher über Organisationen, über Vertrauen als einem Mechanismus sozialer Komplexitätsreduktion oder über Macht boten eine intellektuelle Schärfe bei gleichzeitig äußerster Transparenz der eingesetzten Denkmittel, wie man es nur bei wenigen Autoren der damaligen Zeit fand. Und sein Titel „Soziale Systeme“ versprach Aufklärung über all das, was auch Familientherapeuten am Herzen lag: Wenn man schon einzelne Individuen nur schwer ändern könne, dann lassen sich vielleicht eher die Systeme ändern – und „System“, das war auch ein Wort, dessen Nachhall von den 70er Jahren her als „Gegner“ erkannt war. System – das war alles das, was einschränkte und unfrei machte. So wurde Luhmanns Buch mit steigender Begeisterung aufgenommen und als sein Hauptwerk gefeiert, auch wenn wir mittlerweile einsehen mussten, daß es doch eher als Vorwort oder Einleitungskapitel zu den dann folgenden Ausarbeitungen des Gesamtwerkes, etwa über die „Wirtschaft der Gesellschaft“, das „Recht der Gesellschaft“, „die Kunst der Gesellschaft“ und schließlich „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (in zwei Bänden sogar), einzustufen war. Nachdem Luhmann (der Verwaltungsjurist) im Jahre 1966 zugleich promoviert als auch durch Dieter Claessens (Berlin) habilitiert und im schönen Jahr 1968 nach Bielefeld berufen worden war, schien die strahlende Sonne am Theoriehimmel über Bielefeld Tag und Nacht ununterbrochen zu leuchten. Verbunden mit einer persönlichen Freundlichkeit und angenehm unprätentiösen Haltung, wie alle, die ihn kannten, berichten, betrieb er soziologische Aufklärung in Augenhöhe mit der Zeit – als Abklärung also.
Und niemand mehr würde ihm, der zu vorzeitig kurz nach seiner Emeritierung starb, noch vorhalten wollen, ein Systemtechnologe zu sein, gegen den ein Habermas 1971 angetreten war; es war Habermas, der die Zugeständnisse an Luhmann im Laufe der Jahre machen mußte und fairerweise auch machte. Habermas hatte in einer theoretischen Grundunterscheidung System und Lebenswelt einander so gegenübergestellt, daß die Lebenswelt von manchen als Ort der Zuflucht vor den Zumutungen des „Systems“ interpretiert werden konnte. Solche Fluchtmöglichkeiten wurden von Luhmann versperrt.
Die wesentliche Innovation von Luhmanns Denken ergab sich daraus, daß er drei Systeme voneinander abtrennte, die in der „alteuropäischen“ Subjekt- oder Bewusstseinsphilosophie (die er mit Habermas gleichermaßen verabschiedete) im Begriff des Subjekts beständig miteinander verknüpft angesehen wurden: Das biologische System des Organismus, das psychische System des Bewusstseins und das soziale System der Kommunikation. Alle drei bilden nun „Umwelten“ füreinander. Während die Lebenswelt bei Habermas etwa in der primären Sozialisation noch unverzichtbar für die Vermeidung sozialer Pathologien ist und insofern das System „fundiert“, können sich Luhmanns drei Systeme gegenseitig nur „irritieren“, nicht aber determinieren. Das ist eine kontraintuitive Theorieentscheidung, weil man sich ja üblicherweise vorstellt, das Bewusstsein denke sich etwas, wandle die Gedanken dann in Worte um und teile das Gedachte dann mit. Und wenn man dann weiter erfahren muß, daß Gedanken zwar an Gedanken, nicht aber an Kommunikation anschließen können, ist man zunächst selbst irritiert, bis man sich auf den ungemeinen Reiz, so erst einmal zu denken, versuchsweise einlässt. Dann kann man etwas interessantes beobachten: Gedanken sind immer im Überfluß vorhanden, selbst im „Tran“ oder im Traum des Schlafes und sie vollziehen sich, fängt man nur erst einmal an sie zu beobachten, in rasender und flüchtiger Geschwindigkeit. Kommunikation hingegen ist durch bloße Beobachtung noch nicht so leicht zu verändern, sie ist auch ungemein langsam. Und was sich einer denkt während der Kommunikation, hat tatsächlich keinen Einfluß auf das, was weiter kommuniziert wird; erst wenn er sich äußert, also mittels Kommunikation an Kommunikation anschließt, gehen die Dinge weiter. Zwischen den Systemen gibt es also eine gedachte Grenze; sie ist streng definiert als diejenige Stelle, an der sich Irritation in Information umwandelt. Kommuniziertes muß nach-gedacht werden, um in der gedanklichen Welt anzukommen und umgekehrt.
Mit dieser Auftrennung der Systeme war für Luhmann gleichzeitig eine evolutionstheoretische Perspektive verbunden, nämlich eine Sicht auf Gesellschaft, die sich ja verändert. Das hätte in anderen Traditionen den Namen der Zeitdiagnose erhalten, war dort aber einer larmoyanten Beliebigkeit anheim gegeben; man jammerte über die Gesellschaft, die Beschleunigung der Erfahrung oder den Verlust des politischen Einflusses, hatte aber im Grunde keine schlagkräftige Theorie zur Hand. Hier wurde allmählich immer deutlicher gesehen, daß Luhmann mit seiner Theorie aushelfen konnte: Wenn nämlich psychische Systeme nicht direkt an der Kommunikation und damit nicht unmittelbar an Gesellschaft beteiligt sind, dann befinden sich die Menschen an der Peripherie ihrer Gesellschaft – und das beschreibt präzise die erlebbare Erfahrung: Menschen sind nicht mehr zentral. Studenten in einem sozialen System wie der Universität, Patienten in einer Klinik, Mitglieder des ADAC oder Kunden einer Bank – sie alle zählen für das jeweilige System nicht als Personen in ihrer individuellen Biographie, sondern als Stellglieder einer Systemfunktion; aber wenn der Professor besonders nett, der Arzt aufmerksam und die Kundenberater hilfreich sind, dann wird das nicht dem jeweiligen „System“, sondern ihnen als Personen – an der Peripherie des Systems eben - zugerechnet. Persönliche Eigenschaften werden im kommunikativen Vollzug durchaus als etwas wahrgenommen, was nicht Teil des Systems ist. Deshalb kommt Luhmann zum Schluß, Gesellschaft bestehe nicht aus Individuen, man müsse sie vielmehr als Kommunikation beschreiben. Außerhalb davon befindet sich die Person, die nun ihrerseits im Stande ist, Gesellschaft zu beobachten – aber wenn sie kommuniziert, was sie beobachtet, muß sie sich der gesellschaftlichen Medien bedienen.
Die dabei eingenommene Perspektive ist selbst von einer reichlichen Abstraktionshöhe eingenommen, die er als „Flug über den Wolken“ metaphorisierend beschreibt. Deshalb ist ihm auch mit Berechtigung vorgehalten worden, er könne ja dann nur mit den Instrumenten des (theoretischen) Blindflugs sich orientieren und in der Tat, hier setzt sozusagen die Schwierigkeit an, wenn man meint, Luhmann’sches Denken ohne Abstriche auf therapeutische Praxis übersetzen zu können. Das geht nicht. Ob man als Psychotherapeut (gleichgültig welcher Schule) heute noch zustimmen mag, wenn Luhmann feststellte, die Systemtheorie habe keine Verwendung für den Subjektbegriff (S. 51, S. 111), ist fraglich; die therapeutische Praxis könnte in seiner Theorie allenfalls als eine besondere Form der Kommunikation, die Subjektivität als Ressource nutzt, beschrieben werden. Mit dieser Abstraktion wären dann die theoretischen Ansprüche befriedigt, aber die Beschreibung der Praxis selbst wäre reichlich unterkomplex. Tatsächlich kamen die handfesten praktischen Anregungen eher von den Leuten aus der Praxis, die sozusagen durch Luhmanns Schulung gegangen sind, dann aber durch die Wolken nach unten vorzustoßen wagten und sich vor dem Aufprall mit den gewöhnlichen irdischen Dingen durch die Entwicklung praktischer Fallschirme schützten.
Luhmann selbst scheint hier durchaus ambivalent gewesen zu sein. Im Jahr 1988 publizierte er in der Zeitschrift „System Familie“ einen Aufsatz, der auch die Familie als nicht aus Personen, sondern als aus Kommunikation zusammengesetzt ansehen wollte, worauf der Bielefelder Familiensoziologie Hartmann Tyrell antwortete, gerade das Nicht-Systemische an der Familie mache deren eigentümlichen Charakter aus. Das war überraschenderweise ein argumentativer Habermas’scher Brückenkopf, der da in Bielefeld sich zeigte. Zwar wisse man, so Tyrell, die Familie sei eine Institution und insofern auch ein System, aber doch etwas anderes als eine Schule oder eine Klinik, wo die Personen ausgewechselt werden können, ohne daß die Institution ihren Charakter ändert. Gerade die Auswechselbarkeit von Personen könne man einer Familie aber weder praktisch noch theoretisch zumuten. Hier war also ein Dilemma, auf das die familientherapeutische Praxis dann mit der Entwicklung von personbezogenen Systemtheorien antwortete. Gleichzeitig hatte Luhmann in der Zeitschrift „Merkur“ einen Aufsatz veröffentlicht, in welchem er die Psychoanalyse als diejenige Theorie lobte, die sich am allermeisten zu erkenntnistheoretischer Innovation vorgewagt hatte, zu jenen Innovationen, die „eigentlich verboten“ gewesen seien. Die Psychoanalyse konnte nämlich, in Luhmanns Terminologie, dasjenige beobachten, was die beobachteten Systeme (= Menschen) an sich selbst nicht beobachten konnten. Sie hatte dafür den Namen des Unbewußten aus philosophischen Traditionen übernommen, die Luhmann an der Vordertür als „alteuropäisch“ ablehnte, die er aber durch die Hintertür doch vorsichtig ins theoretische Haus lassen mußte. Plötzlich saß „das Subjekt“ doch wieder mit am Wohnzimmertisch.
Sieht man genau hin, dann kann man sogar sagen, daß Luhmann sich mit derjenigen Frage herumschlägt, die das delphische Orakel jedem aufgab: „Erkenne Dich selbst!“, eine Aufgabe, die in die bekannten Paradoxien der Selbstrückbezüglichkeit einmündet. Solange das erkennende Subjekt sich selbst zum Objekt nimmt, verfehlt es gerade sich selbst als Subjekt. Diese Problemstellung hatte die Psychoanalyse aus der Philosophie geerbt und deshalb ist es treffender, die Psychoanalyse als angewandte Form der Philosophie beschreiben; freilich weiß sie das gelegentlich selbst nicht mehr und soweit sie von der Medizin verschluckt ist, fehlt ihr gelegentlich völlig die Selbstreflexion. Luhmann überträgt die delphische Frage, wie man über sich selbst nachdenken kann, dann auch auf die Gesellschaft: Wie kann eine Gesellschaft sich erkennen, wie also ist überhaupt eine Lehre von der Gesellschaft (sprich: Soziologie) möglich, die sich nicht in die gleichen Paradoxien verrennt? Die Antwort ist: gar nicht, weil ein Standpunkt außerhalb, weil „god’s eyes view“ (Hilary Putnam) mit dem Erscheinen des wissenschaftlichen Weltbildes nicht mehr zu haben ist. Alle Philosophie und alle Theorie wird von Luhmann deshalb als Entparadoxierungsstrategie aufgefaßt, als Versuch, mit den vermaledeiten Problemen der Selbsterkenntnis zurecht zu kommen. Seine Lösung heißt, daß Teile der Gesellschaft (die Funktionssysteme der Wirtschaft, des Rechts, der Kunst, der Politik) sich beobachten und einander beim Beobachten beobachten und dabei das konstruieren, was ihnen jeweils als Gesellschaft gilt. Gesellschaft als Ganzes ist „nicht zu haben“, aber es gibt eine „Gesellschaft der Gesellschaft“, die sich vor allem an ihren Bildschirmen im Wohnzimmer selbst beobachtet. Luhmann ist also einer, dessen sozialer Konstruktivismus erklärt, wie die Menschen sich mit ihren Beschreibungen selbst das schaffen, was sie nur zu beschreiben meinen und er fügt sich, so verstanden, in die großen Traditionen der philosophischen Entlarvungen ein, ernüchtert freilich, abgeklärt und ohne große Erwartungen. Das kommt gelegentlich einer Zen-Haltung recht nahe.
Von heute aus gesehen lese ich Luhmanns Buch erneut – mit einer gewissen Melancholie, weil ich die Höhe seiner intellektuellen Durchdringung in der familientherapeutischen Welt vermisse und mich erinnere, wie elaboriert und erregend manche Auseinandersetzungen mit ihm waren; ich lese ihn als einen, der auch heute noch die spirituellen und philosophisch-intellektuellen Impulse, die sich einst mit einer avancierten Psychoanalyse verbanden, durchaus vielleicht nicht zu befriedigen, ihnen aber doch anregend standzuhalten wüsste. Und ich frage mich, ob seine Theorie nicht einen Namen hat, die Verdinglichungen nahe legen könnte, die er abgelehnt hätte, ob er nicht statt als Systemtheoretiker besser als Selbstreflexionstheoretiker aufzufassen wäre? Freilich eines Selbst, das nicht die individuelle Person meint, sondern vielleicht etwas Umfassenderes. Er meinte ja in Hegelscher Formulierung „die Gesellschaft  als Subjekt“ – den Preis, der mit Hegels Namen verbunden ist, hat Luhmann ja durchaus zu Recht erhalten. Heute könnten wir von ihm lernen, daß das „Epistobabbel“, das lange Zeit unsere Gazetten durchzog, durchaus nicht nur auf die Frage, ob etwas „wirklich“ oder „konstruiert“ ist, beschränkt bleiben muß; vieles, was eine erneute Lektüre dieses Klassikers hergibt, könnte erneut angestoßen und mit Gewinn diskutiert werden.

(mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus Kontext, Heft 2/2002)


Renate Zwicker-Pelzer, Erftstadt:

Ein systemischer Blick auf den Hintergrund der Theorie Sozialer Systeme von Niklas Luhmann

Auf die Theoriekrise der Soziologie hin formulierte Niklas Luhmann 1984 seinen Theoriebeitrag. „Klassiker sind Klassiker, weil sie Klassiker sind; sie weisen sich im heutigen Gebrauch durch Selbstreferenz aus“, doch nicht nur das, Neuheitsgewinne geschehen durch die Kombinationen der Theoriesyndrome. Und angesichts dieser „Amalgamierungen wird dann wieder möglich und nötig, sich um ein Wiedergewinnen der eigentlichen Gestalt der Klassiker zu bemühen“ (S. 7f.).
Niklas Luhmann war bei der Erstveröffentlichung dieses Werks 56 Jahre alt und fünfzehn Jahre schon Professor für Soziologie in Bielefeld. Seine Veröffentlichung meinte als „Klassiker“ nicht ihn selbst sondern Weber, Parson und viele andere. Im Blick auf die „Theorie sozialer Systeme“ aber ist er heute für uns ein ausgezeichneter Klassiker. Munter weist er schon im Vorwort deutlich darauf hin, wofür er antritt. Ein neues Denken möge die Soziologie beflügeln, die die Spannung zwischen Komplexität und Transparenz in ein neues Verhältnis zueinander bringt, indem die Erkenntnis als Vorgang des mehr oder weniger begrenzten Verstehens gesehen wird und von der Ausschließlichkeit im Wahrheitsanspruch zu anderen Theorien Abstand genommen wird.
Er fordert und fördert die „Universalität der Gegenstandserfassung“, d. h. die soziologische Theorie möge „alles Soziale“ behandeln und nicht nur „soziale Ausschnitte“ (wie z. B. Schichtung). Dabei sieht er sehr wohl selbstkritisch wie diese „Theorieanlage“ eher einem Labyrinth gleicht als einer Schnellstrasse mit übersichtlichem Ende, und in der Tat ist, wie er sagt, zum Lesen und Verstehen seines Werkes Geduld, Phantasie, Geschick und Neugier unbedingt angesagt, um 680 Seiten harte Theoriekost verdaulich zu halten.
Im ersten Teil legt er die Notwendigkeit des Paradigmenwechsels in der Systemtheorie dar. Es folgen dann jeweils 40–60 Seiten lange Kapitel:

– System und Funktion
– Sinn
– Doppelte Kontingenz
– Kommunikation und Handlung
– System und Umwelt
– Interpenetration
– Die Individualität psychischer Systeme
– Struktur und Zeit
– Widerspruch und Konflikt
– Gesellschaft und Interaktion
– Selbstreferenz und Rationalität
– Konsequenzen für Erkenntnistheorie

Was sich unschwer aber aus der Gliederung des großen Werkes erkennen läßt, sind die für die 1980er Jahre neuen Begrifflichkeiten des „Soziologietreibens“. Abhandlungen über Sinn, Kommunikation, die Relevanz Psychischer Systeme etc. weisen auf neue Denkaufgaben hin, provozieren ein neues und interdisziplinäreres Wissenschaftsverständnis. Der Mensch ist dauernd in seinen Querbezügen zu sehen und ist nicht in partiellen Systemelementen verstehbar.
Um ihn herum und in anderen Wissenschaftsgebieten hatte diese neue Bewegtheit bereits Platz ergriffen. Mein eigener querdenkerischer Blick fiel zuerst auf Urie Bronfenbrenner, der mit seinem Postulat der „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ ähnlich vorgeht. Das „Haus des menschlichen Lebens“ ist mehr als die Person und Teile der Person an sich. Der Mensch steht in der aktiven Auseinandersetzung mit der alltäglichen Umwelt. Ökologie ist zu verstehen als die vom Menschen selbst gestaltete und gestaltbare Umwelt (1979 erschien die englische, 1981 die ins Deutsche übersetzte Ausgabe seines Werkes).
Ein anderer Umdenk-Genosse dieser Zeit war Paul Watzlawick. Die erste deutschsprachige Ausgabe seiner „Menschlichen Kommunikation“ erschien 1969. Und ähnlich wie Luhmanns Verständnis der Kommunikation geht es beiden um die Interaktivität, Gestaltbarkeit, Veränderbarkeit von menschlichen Lebensprozessen (aktiv – interaktiv).
In dem großen Werk von Luhmann selbst nimmt er auf die Beflügelung seines neuen Denkens in querwissenschaftlichen Bezügen nicht Stellung. Dem Leser/der Leserin bleibt offen, wie und durch wen er (über die Väter der Soziologie hinaus) inspiriert war. Fest steht aber, daß Psychologie, Biologie, Kommunikation und Psychotherapie weltweit bis dahin bewegter schien als die wissenschaftlichen Denker in Deutschland sich so allgemein anschickten.
Luhmanns Systemverständnis hat einen wahrhafteren Zugang. Menschen sind nicht nur „nichttriviale“ Systeme, sondern sie sind als psychische und soziale Systeme in einem Bewußtseins- und Kommunikationszusammenhang, sie erzeugen „Sinn“, der die Möglichkeiten des Erlebens und Handelns erweitert.
Änderung vom und im sozialen System geschieht immer selbstreferentiell, d. h. das System wirkt bei der Änderung der eigenen Zustände immer selbst mit. Im wesentlichen geschieht dies durch Kommunikation, die nach Luhmann unter anderem als koordinierte Selektivität zu verstehen ist und unterscheiden hilft zwischen Information und Mitteilung, zwischen Ablehnung und Zustimmung zwischen Differenz und thematischer Ordnung (u. v. a. m.). Kommunikation kann nicht „direkt beobachtet, sondern nur erschlossen werden“ (S. 226ff.).
Wie diese Kommunikation das System in seiner Umwelt immer wieder neu plaziert und die Umwelt das psychische und soziale System lebendig halten kann, wird im Kapitel 4 und 5 hochdifferenziert präsentiert. Der Vorgang des „Handelns“ darin ist sicherlich die für die professionelle Soziale Arbeit reizvolle Disposition. Die Entwicklung des psychischen und sozialen Systems geschieht durch Handlung aber nicht jede Kommunikation ist gleichsam Handlung. Eine Verlockung liegt nahe: Viel gäbe es jetzt hier übersetzend noch in Details einzugehen, das wäre dann eine umfangreichere Abhandlung und würde den Rahmen der Rezension sprengen.
Für wen und wann aber ist diese Lektüre anregend? Ich denke insbesondere an die professionelle Sozialarbeit/Sozialpädagogik:
– Der klientenbezogene und intrapsychische Blick erfährt eine neue Weitung, die in den Wurzeln der Professionsgeschichte auch schon immer vorhanden war und hier verstärkt wird.
– Die System- und Feldkompetenz erfährt eine bereichernde Dimension, in der die Bedeutung von Kommunikation, Sinn und Handlung neu erschlossen werden könnte.
Ich denke an die Kolleg(inn)en in systemischer Therapie und Beratung:
– Die Beschäftigung mit Grundlagen und Theorien der familientherapeutischen Praxis bietet neue Reflexionszugänge.
– Micro-meso- und macro-Systemzusammenhänge von Fallgeschichten können an Transparenz gewinnen.
– Systemische Fallgeschichten füllen viele systemische Fachbücher mit dem Ziel des Theorieverstehens: hier wird der Leser/die Leserin davon freigelassen und eher angeregt, zum tieferen Verstehen eigene Fallgeschichten selbst zu mobilisieren.

(mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus Kontext, Heft 2/2002)


Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach (1989):

Wieso eigentlich sollte sich jemand mit “dem Luhmann” beschäftigen, ihn auch noch besprechen, zumal (um gleich in die Vollen zu gehen) “nur Komplexität Komplexität reduzieren (kann)” (S. 49)?
Eine Art Luhmannismus scheint sich zu entwickeln, der interessanterweise sich sowohl in ablehnender, wie in zustimmender Form äußert. Die einen spotten über so etwas wie eine “Luhmannisierung von Banalitäten”, andere legen ihn auf den Schreibtisch und lassen ihn ungelesen dort liegen, weil er zwar als unverzichtbar aber unverdaulich gilt, und die meisten der neueren innovativen Arbeiten zum Thema Systemische Therapie enthalten ihn zumindest in der Literaturliste. Darüber hinaus wird er als Experte immer häufiger zu systemtherapeutischen Fragestellungen selbst gehört (vgl. anhängende Literaturliste). Kurzum: Luhmann wird zur Zeit "gehandelt", ohne ihn tut man sich schwer "am Ball zu bleiben". Was hat es damit auf sich?
Zunächst bietet Luhmann eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Begriff "System". Die Selbstverständlichkeit, mit der Begriffe wie "System", systemisch", und das auch noch in Verbindung mit dem Begriff "Therapie" seit einiger Zeit benutzt werden, wird wohl mit Dämpfern leben müssen in der Zeit "nach Luhmann". Ich vermute, diese Dämpfe werden dem Bemühen um transparente, ökologische und angemessene therapeutische Arbeiten gut tun.
Luhmann ersetzt die bisher dominierende Differenz zwischen Ganzem und Teil durch die Leitdifferenz System/Umwelt und macht sie zum Ausgangspunkt systemtheoretischer Analysen. System und Umwelt bedingen einander. "Die Umwelt erhält ihre Einheit erst durch das System und nur relativ zum System. Sie ist ihrerseits durch offene Horizonte, nicht jedoch durch überschreitbare Grenzen umgrenzt, sie ist also selbst kein System." (S. 36).
Desweiteren gilt als entscheidend die Differenz von Element und Relation. Während die Differenz System/Umwelt hinzielt auf Systemdifferenzierung, verweist die Differenz  Element/Relation auf Systemkomplexität. Ein Satz wie "Elemente sind Elemente für die Systeme, die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme" (S. 43) klingt zunächst entweder banal oder zumindest nicht sonderlich verdächtig. Unter Einbeziehung der Konzepte "Selbstreferenz", "Autopoiese”, "Temporalisierung von Komplexität u.a. ergibt sich allerdings nach einiger Zeit die "menschlich" problematische Fragestellung, wie damit umzugehen ist, dass Systemische Therapie es offensichtlich nicht mit Menschen zu tun hat , sondern mit - Systemen. "Der Mensch mag für sich selbst oder für Beobachter als Einheit erscheinen, aber er ist kein System. Erst recht kann aus einer Mehrheit von Menschen kein System gebildet werden." (S. 670).
Luhmann unterscheidet lebendige (biologische), psychische und soziale Systeme. Lebendige Systeme operieren im Modus biologischer Prozesse, psychische im Modus der Bewusstheit, soziale im Modus der Kommunikation. Jedes dieser Systeme ist für das andere Umwelt.
Jedes dieser Systeme operiert autopoietisch in Form der Relationierung der zugehörigen Elemente. Die jeweiligen Systemprozesse stellen für¸ das jeweils andere System "Rauschen" dar, im Grunde genommen eine Störung, eine Störung allerdings, die unter Berücksichtigung der Einheit von System und Umwelt notwendig ist als "Betriebsbedingung von außen".
Interpenetration ist der Begriff, den Luhmann wählt, um Intersystembeziehungen zu beschreiben. Penetration bedeutet, dass ein System "die eigene Komplexität (und damit Unbestimmtheit, Kontingenz und Selektionszwang) zum Aufbau eines anderen zur Verfügung stellt." (S. 290).
Interpenetration bedeutet, dass dies wechselseitig geschieht. Ein etwas längeres Zitat dazu soll beispielhaft verdeutlichen, wie Luhmann diese Gedanken durchhält, in Bezug auf andere Theoreme berücksichtigt und verknüpft: "Die interpenetrierenden Systeme bleiben füreinander Umwelt. Das bedeutet: die Komplexität, die sie einander zur Verfügung stellen, ist für das jeweilige aufnehmende System unfassbare Komplexität, also Unordnung.
Man kann deshalb auch formulieren, dass die psychischen Systeme die sozialen Systeme mit hinreichender Unordnung versorgen, und ebenso umgekehrt. Die Eigenselektion und Autonomie der Systeme wird durch Interpenetration also nicht in Frage gestellt. Selbst wenn man sich Systeme als volldeterminiert vorstellen müsste, würden sie durch Interpretation mit Unordnung infiziert und der Unberechenbarkeit des Zustandekommens ihrer Elementarereignisse ausgesetzt.
Alle Reproduktion und alle Strukturbildung setzt damit eine Kombination von Ordnung und Unordnung voraus: strukturierte eigene und unfassbar fremde, geregelte und freie Komplexität. Der Aufbau sozialer Systeme (und ebenso Aufbau psychischer Systeme) folgt dem order from noise principle (von Foerster). Soziale Systeme entstehen auf Grund der Geräusche, die psychische Systeme erzeugen bei ihren Versuchen zu kommunizieren" (S. 291f).
Wenn man sich entschließt, sich durch die Fülle des Materials und den nervenden ("Theoriebautechnik" gerecht werdenden) Sprachgebrauch nicht erschlagen zu lassen, ergeben sich atemberaubende Phasen, in denen man staunend erleben kann, wie Luhmann zentrale Begriffe erarbeitet (als weitere Beispiele: "Komplexität", "Reduktion von Komplexität" "Sinn”, "Kommunikation" (in Abgrenzung zu "Handlung"), "Struktur", "Prozess"), sie differenziert, zueinander in Beziehung setzt, dabei die "Einheit der Differenz" durchhält und der Komplexität des Lebens eine Plattform abringt, auf der man sich wenigstens über Nicht-Verstehen verständigen kann. Ich kann das nur andeuten.
Aber was bringt dieses (wahrscheinlich ambivalente) Vergnügen für praktisch arbeitende Therapeuten, die doch genug mit den Schwierigkeiten eines komplexen Alltags zu tun haben?
Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage mag die Aussage sein “Die Theorie der sich selbst herstellenden, autopoietischen Systeme kann in den Bereich der Handlungssysteme nur überführt werden, wenn man davon ausgeht, dass die Elemente, aus denen das System besteht, keine Dauer haben können, also unaufhörlich durch das System dieser Elemente selbst reproduziert werden müssen.” (S. 28). D.h.: Soziale Systeme (ob sie sich nun als Sinnzusammenhang "Familie", "Freundschaft", "Team" o.ä. bezeichnen) benötigen Hilfsmittel, die ihnen ermöglichen, Kommunikation fortzusetzen (die sie sich als zusammengehörig definieren läßt), Anschlussmöglichkeiten zu schaffen und zu erkennen. Struktur, bzw. Ordnung gilt als der notwendige Identifikator. Lernen (wissen/nicht wissen) und Normen (abweichend/konform) erscheinen als die beiden gängigen Varianten des "Struktursicherungsmittels" Generalisierung. Generalisierung ermöglicht einen Umgang mit der grundsätzlichen Unbestimmtheit dessen, was geschieht (Zeit ist begrenzt, Auswahl ist notwendig, Enttäuschung von Erwartungen ist möglich usw.).
Als weiteres Struktursicherungsmittel nennt Luhmann Latenz. Für psychische Systeme gilt dann Latenz in Form von Unbewusstheit/Unkenntnis. Für soziale Systeme gilt Latenz als "Fehlen bestimmter Themen zur Ermöglichung und Steuerung von Kommunikation" (S. 458).
'Wenn Strukturen Latenzschutz benötigen heißt dies dann nicht, dass Bewusstheit bzw. Kommunikation unmöglich wäre; sondern es heißt nur, dass Bewusstheit bzw. Kommunikation Strukturen zerstören bzw. erhebliche Umstrukturierungen auslösen würde, und dass diese Aussicht Latenz enthält, also Bewusstheit bzw. Kommunikation blockiert." (S. 459).
Akzeptiert man solche Gedanken, schließen sich leicht Überlegungen zu "Problem-Systemen" an, wie sie z.B. Ludewig (1987) formuliert. Problem-Systeme werden als soziale Systeme erkennbar, für die ein exponentielles Anwachsen der Anschlussmöglichkeiten an "problematische Ereignisse" charakteristisch zu sein scheint. Alternative Kommunikationsereignisse (Themen, Formen) werden entweder durch "Nicht-Wissen", normative Einschätzung als "abweichend" oder im Sinne von "Latenzschutz" blockiert. Das "Problem" erscheint dann geradezu als notwendige Quelle des Systemzusammenhalts. Die damit korrespondierende "Verkrüppelung von Komplexität (im Sinne von Foersters) tritt als Maximierung eines "problemgenährten” Erhaltungsdrucks in Erscheinung (der jenseits eines kritischen Grenzwertes natürlich auch zur Beendigung führen kann: Der Bogen bricht, ein Paar trennt sich, einer erschlägt den anderen, jemand stirbt an "gebrochenem Herzen"). Die Frage: "Und was wäre anders, was würde geschehen, wenn X das Symptom nicht mehr zeigt?" macht in der Regel deutlich, dass dann sozusagen die Notwendigkeit bestünde, neue Substanz zu (er-)finden, die wiederum ständig "mit Hilfe der Strukturmuster reproduziert werden" muss (S. 474), es sei denn, man wäre froh über das Ende eines sozialen Systems (z.B. Trennung). In einem m.E. sehr wichtigen Kapitel "Widerspruch und Konflikt" erarbeitet Luhmann dann einen weiteren Aspekt, der, wieder auf "Problem-System" angewendet, mir deutlich macht, wie die Wahrscheinlichkeit für Problem-Systeme im Grunde deutlich höher liegt als die Wahrscheinlichkeit für "Nicht-Problem-Systeme" . Luhmann arbeitet heraus, wie Konflikte "gerade der Fortsetzung der Kommunikation (dienen) durch Benutzung einer der Möglichkeiten, die sie offen hält: durch Benutzung des Nein." (S. 530). In diesem Zusammenhang sind dann Abschnitte übe Erwartung, Erwartungsannahmen, Ansprüche wichtig (S. 362 ff).), deren Rekapitulation hier zu weit führt. .Was geschieht, wenn ich das, was Luhrnann unter dem Stichwort "Konflikt" anführt, auf "Problem" übertrage und ebenfalls als "parasitär” existierendes soziales System verstehe? Zitate zu "Konflikt": "Ein Konflikt kann deshalb objektiv fast anlasslos entstehen. Es genügt, wenn auf eine wie immer vage Erwartungsannahmezumutung mit einem wie immer vorsichtigen nein reagiert wird… Hat man sich einmal auf einen Konflikt eingelassen, gibt es kaum noch Schranken für den Integrationssog dieses Systems …
Das  System erreicht zu hohe Interdependenz: ein Wort gibt das andere, jede Aktivität muss und kann mit irgendwelchen anderen beantwortet werden. Die destruktive Kraft des Konflikts liegt nicht in ihm selbst und erst recht nicht in den Schäden an Reputation, Handlungspotential, Wohlstand oder Leben, die er den Beteiligten zufügt sie liegt in dem Verhältnis zum System, in dem der Konflikt Anlass und Ausgang gefunden hatte - etwa Verhältnis zum Nachbarn, in der Ehe oder Familie … (D)as Parasitentum … tendiert zur Absorption des gastgebenden Systems durch den Konflikt in dem Maße, als alle Aufmerksamkeit und alle Ressourcen für den Konflikt beansprucht werden." (S. 532 f).
Wenn ich das Wort "Konflikt" jeweils durch "Problem" ersetze, erscheint mir recht frappant genau des ausgedrückt zu sein, was ich in der Regel erlebe, wenn ich es in der Praxis mit gut eingespielten Problem-Systemen zu tun habe. Ich bin mir im Klaren, dass ein solches Wort-Tausch-Experiment möglicherweise riskant ist, wage es aber, da ich mir daraus Inspiration für die Praxis erhoffe. Die Inspiration erhält zusätzliche Nahrung, wenn ich den weiteren Überlegungen Luhmann's folge, in denen er sich über mögliche Umgang mit Konflikten äußert.
"Unter systemtheoretischen Gesichtspunkten fragen wir nicht nur nach der ‘Lösung’ und schon gar nicht nach einem ‘guten Ende’ von Konflikten, sondern vor allem nach ihrer Konditionierbarkeit” (S. 536). D. h., welche Konsequenz hat es, wenn ich als Ziel von Therapie nicht zentral nach "Problem-Freiheit" suche, sondern nach Rahmenbedingungen für einen weniger parasitären, weniger sogkräftigen aber dafür flexibleren und "schöneren” Generator von Anschlussmöglichkeiten für Kommunikation?
Solche therapierelevanten Fragen stehen für Luhmann als Soziologen, der eine allgemeine Theorie sozialer Systeme erarbeitet, natürlich nicht im Vordergrund.
Anmerkungen zur therapeutischen Situation erscheinen dann auch gelegentlich als Fußnoten-Beitrag, oder sie ergeben sich aus Analogisierungen ( Eine interessante Erfahrung war für mich, Luhmanns Gedanken über "Aufklärung auf "Therapie" zu übertragen).
Ebenfalls stehen für Luhmann psychische Systeme nicht im Vordergrund. Ein darauf bezogenes Kapitel "Die Individualität psychischer Systeme" scheint er eher einzufügen, um kritischen Bemerkungen im Vorfeld zu begegnen, und er bezeichnet dieses Kapitel für die vorliegende Theorie als marginal. Für therapeutisch Arbeitende ist es natürlich nicht marginal, da es sich mit der für Therapeuten wichtigen Frage beschäftigt, "wie psychische Systeme ihre Selbstreproduktion von Moment zu Moment, den Strom ihres 'Bewusstseinslebens’ , so einrichten können, dass ihre Geschlossenheit mit einer Umwelt sozialer Systeme kompatibel ist." (S. 348).
Insgesamt erscheint mir Luhmanns Beitrag von kaum zu unterschätzende Bedeutung für Formulierung und Reflexion system(therapeut)ischer Arbeit. Er bietet einen unglaublich (!) immensen Fundus (als Überblick, als Verknüpfung, als interessantes Detail (in dem bekanntlich der Teufel steckt), als Information übe die historische Entwicklung von Ideen), der immer wieder Anschlussmöglichkeiten schafft. "Aus dem Vollen schöpfen” hat für mich eine neue Bedeutung erhalten.
Der wesentliche Verdienst scheint mir darin zu liegen, dass die vorliegende Theorie sozialer Systeme nun ermöglicht, das Konzept der Autopoiese auch auf soziale Zusammenhänge anzuwenden. Die dazu geleistete Definitionsarbeit erscheint stupend. Es wird wohl Jahre dauern, bis die Ernte eingefahren ist. Der innovative Schub, den diese Arbeit auslöste, ist jedoch bereits erkennbar, und ich hoffe, die darin enthaltene Zumutung erweist sich als Zu-Mut-ung.
Kritische Auseinandersetzung mit Luhmann, wie sie z.B. Kriz (1988) zur "Pragmatik systemischer Therapie-Theorie" formuliert, könnte zur weiteren Präzisierung des Nutzens der Theorie sozialer Systeme für die Therapie-Praxis führen. Auch Ludewig (1988b) lässt erkennen, wie sich durchaus auch in differenzierender Distanz von Luhmann profitieren lässt.
Der Wert der Luhmann’schen Theorie für eine therapeutische Praxis lässt sich m.E. in der Auseinandersetzung mit Fragen wie den folgenden noch näher bestimmen:
  • Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem Konzept der Interpenetration? (z.B. Luhmann, 1986; Baecker, 1988).
  • Wie lassen sich die Überlegungen zu psychischen Systemen weiter ausbauen und nutzen? (z.B. Luhmann, 1985).
  • Welche Konsequenzen ergeben sich unter Einbeziehung lebendiger Systeme (biologischer Prozesse) z.B. für den bisher einschränkend "psychosomatisch" genannten Bereich? (z.B. unter Einbeziehung der Überlegungen von Rossi (1988)?).
  • Welche Konsequenzen hat dies für Setting, Interventionsverständnis und Evaluation? (z.B. Ludewig, 1988a,b).
  • Unter welchen Bedingungen könnte die Theorie sozialer Systeme die Kommunikation von therapeutisch Arbeitenden untereinander fördern? (vgl. Steiner & Reiter, 1988).
Ein Tip zum Schluss Das erste Kapitel "System und Funktion" enthält komprimiert die meisten der in den weiteren Kapiteln ausführlich dargestellten Gedanken. Wer sich nicht zu einer "Weltreise" entschließen mag, erhält auch auf diesem Stück bereits einen guten Überblick. Ein ausführliches Register ermöglicht dann das Aufsuchen speziell interessierender Themen.

Literatur

BAECKER, D. 1988: Die Ökologie der Angst. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis 20(3), 301-313.
KRIZ, J. 1988: Pragmatik systemischer Therapie-Theorie. Teil I: Probleme des Verstehens und der Verständigung In: System Familie 1(2), 92- 102.
KRÜLL, M., LUHMANN, N. & MATURANA, H. 1987: Grundkonzepte der Theorie autopoietischer Systeme. Neun Fragen an Niklas Luhmann und Humberto Maturana und ihre Antworten. Z. f. System. Therapie 5(1), 4-25.
LUDEWIG, K. 1987: 10+ 1 Leitsätze bzw. Leitfragen. Grundzüge einer systemisch begründeten klinischen Theorie im psychosozialen Bereich. Z. f. System. Therapie 5(3), 178-191.
LUDEWIG, K. 1988a: Nutzen, Schönheit, Respekt - Drei Grundkategorien für die Evaluation von Therapien. System Familie 1(2), 103-114.
LUDEWIG, K. 1988b: Problem - "Bindeglied" klinischer Systeme. Grundzüge eines systemischen Verständnisse psychosozialer und klinischer Probleme. In: Reiter, L., Brunner. E. J. & Reiter-Theil, S. (Hrsg). Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive. Berlin: Springer. S. 231-249.
LUHMANN, N. 1985: Die Autopoiesis des Bewußtseins Soziale Welt 36, 402-446.
LUHMANN, N. 1986: Systeme verstehen Systeme. In: Luhmann, N. & Schon-, K. (Hrsg.) Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik Frankfurt: Suhrkamp stw 572. S 72-117.
LUHMANN, N. 1988: Sozialsystem Familie. System Familie 1(2), 75-91.
ROSSI, E. R. 1988: Neue Aspekte der molekularen Grundlagen des psychosomatischen Heilungsprozesses in der therapeutischen Hypnose. Hypnose & Kognition 5(1), 11-24.
SIMON, F.B. (Ed.) 1988: Lebende Systeme. Wirklichkeitskonstruktionen in der systemischen Therapie. Berlin: Springer (mit 2 Originalbeiträgen Luhmanns und weiteren 3 Protokollen von Diskussionen, an denen Luhmann beteiligt war).
STEINER, E. & REITER, L. 1988: Der Beitrag der Theorie selbstreferentieller Systeme zur Präzisierung von Forschungsfragen in der systemischen Therapie. System Familie 1,(2), 1 15-123.

(mit freundlicher Genehmigung aus systhema")





Ein weiterer Kommentar von Lutz Ohlendieck





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