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Goffman, Erving
Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität
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Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007 (1975, 13. Auflage)
192 S.
Preis: 9,50 €
ISBN-10: 3518277405
ISBN-13: 978-3518277409 |
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Suhrkamp-Verlag
Tom Levold, Köln: Die Konstruktion des Normalen. Klassiker wiedergelesen: Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität
Als Angehörige psychotherapeutischer und beraterischer Berufe hantieren wir in der Regel mit einem Konzept von Identität, das sich auf unser eigenes Selbstverstehen und das unserer Klienten als eine Art psychische Größe bezieht, der wir uns durch Introspektion und Empathie annähern können. Als sozialwissenschaftlich inspirierte systemische Praktiker ist uns dabei klar, dass auch scheinbar hochindividuelle Identitätsentwürfe sich letztlich als soziale Konstruktionen erweisen, die das psychologisch Einzigartige mit dem sozial Typischen amalgamieren. Für diese Einsicht hat neben Anderen Erving Goffman, der am 11. Juli dieses Jahres 85 werden würde, Wesentliches geleistet, ein Soziologe, der - übrigens im Unterschied zu vielen seiner Kollegen – weit über die Fachgrenzen hinaus populär geworden ist.
Identität und ihre Handhabung im sozialen Kontext durchziehen als zentrales Thema sein Werk. Dabei taucht das oben angedeutete Identitätskonzept bei ihm als Idee der „Ich-Identität“ auf, die es erlaubt, „zu betrachten, was das Individuum über das Stigma und sein Management empfinden mag“ (133), für Goffman aber von nachgeordnetem Interesse ist. Dagegen sind „soziale und persönliche Identität … zuallererst Teil der Interessen und Definitionen anderer Personen hinsichtlich des Individuums, dessen Identät in Frage steht“ (132). Persönliche Identität manifestiert sich für Goffman hier eben nicht im psychologischen Innenleben des Individuums, sondern in seinem Namen, seinem Ausweis, in seiner Biografie und in den dafür notwendigen Techniken der öffentlichen Selbstdarstellung (weshalb wir auf Täuschung und Hochstapelei so empfindlich reagieren). Psychotherapeuten tun meines Erachtens gut daran, diese unterschiedlichen Perspektiven auf Identität in ihre eigenen Wirklichkeitskonstruktionen einzubeziehen, wenngleich es sich hier - wie wir sehen werden - keinesfalls um ein Psychotherapie-Buch handelt.
Goffman hat sich nie bemüht, seine Konzepte innerhalb eines theoretischen Gesamtzusammenhanges zu entwickeln und darzulegen, was ihm manche Kritik seiner Disziplin eingebracht hat. Seine Gedanken entfalten sich immer anhand konkreter Beobachtungen und Situationsbeschreibungen, eine Systematik ist nicht ohne weiteres erkennbar. Gleichzeitig lässt sich diese Vorgehensweise auch nicht umstandslos als Empirie verstehen, denn die benutzten Quellen machen einen eher verstreuten Eindruck, wie zufällig oder beiläufig eingesammelt, wenngleich sie immer genau den Punkt der Argumentation treffen. Goffman selbst formuliert in einem anderen Buch entsprechend: „Um die Details und Fragmente des gegenwärtigen sozialen Lebens in einer umfassenden Analyse miteinander zu verknüpfen, muß man eine große Anzahl von Behauptungen aufstellen, die sich nicht auf solides quantitatives Beweismaterial stützen können.“ (Goffman 1982, 15). Wenn man aber seine Bücher liest, stellt man fest, dass es einer solchen systematischen Beweisführung gar nicht bedarf, um die Evidenz der präsentierten Überlegungen zu vermitteln.
„Stigma“ ist 1963 erschienen und 1967 von der Soziologin Frigga Haug, die mit ihrer kritischen Arbeit zur Rollentheorie bekannt geworden ist, in ein manchmal etwas sperriges Deutsch übersetzt worden. Diese Übersetzung nimmt dem Original zweifellos etwas von der literarischen Eleganz, mit der Goffman sich auszudrücken pflegte. Als ich das Buch in den frühen 70er Jahren zu Anfang meines Studiums zum ersten Mal las, störte ich mich jedoch vor allem daran, dass Begriffe wie „Krüppel“, „Neger“, „geistig Defekte“, „Berufsverbrecher“ usw. ohne jede Relativierung oder Anführungszeichen benutzt wurden, was meine Aufmerksamkeit für das eigentliche Argument des Buches leider schmälerte: dass wir nämlich die Stigmatisierung als sozialen Mechanismus benutzen, um uns darüber im Klaren zu werden, wie wir denn selbst in sozialen Verhältnissen sein und erscheinen wollen. Stigma ist keine also Eigenschaft, auch wenn es auf den ersten Blick wegen der damit verbundenen individuellen Diskreditierung den Anschein hat, sondern ein relationaler Begriff (S. 11), der genauso gut Auskunft darüber gibt, wie das das Normale beschaffen ist.
Das Normale wie das Stigmatisierte ist einerseits einem Wandel unterworfen (insofern reden wir heute nicht mehr von Negern und Krüppeln), andererseits vermag alle political correctness nicht, den grundlegenden Mechanismus der Stigmatisierung außer Kraft zu setzen, weil in der Tat für die Konstruktion dessen, was sein darf und Geltung haben soll, der entsprechende Gegenbegriff konstitutiv ist. So kann heute normal sein, was früher stigmatisiert wurde, dennoch hat nichts weiter stattgefunden als eine Verschiebung der Trennlinien zwischen Stigma und Normalität (Hierzulande sind in den letzten Jahren die Hartz IV-Empfänger in die Stigmatisierten-Spitzengruppe aufgerückt). Um den Stigmatisierungsmechanismus studieren zu können, müssen wir uns bloß in eine beliebige Schule begeben und die Schülerkommunikation beobachten. Wir sind mittlerweile daran gewöhnt, diese Tatsache als moralisches Problem aufzufassen und zu behandeln. Im Wissen um die zerstörerischen Folgen der offenen oder subtilen Ausgrenzung von Menschen aus der Gemeinschaft haben wir dafür gute Gründe. Vor diesem Hintergrund mag die ungerührte Analyse von Goffman eher verstörend wirken. Auch wenn Goffman die pathologischen Konsequenzen der (Selbst-)Herabsetzung nicht leugnet, liegt sein Fokus nämlich nicht auf der Brandmarkung von Stigmatisierung, sondern auf der Analyse des „Stigma-Managements“ in der alltäglichen Interaktion, „ein Prozess, der auftritt, wo immer es Identitätsnormen gibt“ (160f), und an dem immer beide Seiten beteiligt sind.
Indem die „ Rolle ,normal' und die Rolle ,stigmatisiert' Teile des gleichen Komplexes sind, Zuschnitte des gleichen Standardstoffs" (161), werden die Individuen zunehmend fähig, „in dem Drama normal-abweichend beide Rollen zu spielen" (164). Es dürfte also für jeden Menschen ein Leichtes sein, sich einen Kontext vorzustellen, in der er sich selbst in der Rolle des Stigmatisierten wiederfindet. Die Identitätsnormen, die im übrigen die „Kondition“, d.h. die körperliche Verfassung und den sozialen Status des Individuums, nicht aber seinen „Willen“ bzw. sein Innenleben betreffen, erzeugen auf gesellschaftlicher Ebene sowohl Abweichung wie Konformität. All dies ist in der Regel ein impliziter Vorgang.
„Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet. Die sozialen Einrichtungen etablieren die Personenkategorien, die man dort vermutlich antreffen wird …Wir stützen uns auf diese Antizipationen, die wir haben, indem wir sie in normative Erwartungen umwandeln, in rechtmäßig gestellte Anforderungen. Es ist typisch, dass wir uns nicht bewusst werden, diese Forderungen gestellt zu haben, auch nicht bewusst werden, was sie sind, bis eine akute Frage auftaucht, ob sie erfüllt werden oder nicht“ (9f). Der Bezug auf dieselben Identitätsnormen bei Stigmatisierten und Normalen erfordert daher ein sorgfältiges Situationsmanagement auf beiden Seiten.
Das betrifft sowohl den Umgang mit dem (für alle sichtbaren) Diskreditierten als auch mit dem Diskreditierbaren (Goffman nennt als Beispiele Frigidität, Impotenz und Sterilität), also einem Makel, der noch nicht offenkundig ist und daher eine entsprechend aufmerksame und vorsichtige Informationskontrolle auf Seiten derjenigen erfordert, die etwas zu verbergen haben. Stigmatisierte entwickeln ein breites Repertoire, um ihr Stigma zu verbergen, zu verkleinern oder gar parodistisch zu übertreiben, etwa um die Befangenheit in Komik aufzulösen. Täuschungsmanöver dienen dem Zweck, Zugehörigkeit zum Bereich des Normalen vorzugeben, häufiger ist aber das, was Goffman Kuvrieren nennt: „Es ist eine Tatsache, dass Personen, die bereitwillig den Besitz eines Stigmas zugeben …, sich nichtsdestoweniger sehr bemühen können zu verhindern, dass das Stigma sich zu mächtig aufdrängt. Es ist das Ziel des Individuums, Spannung zu vermindern, das heißt, es sich und den anderen zu erleichtern, das Stigma verstohlener Aufmerksamkeit zu entziehen und spontane Einbeziehung in den offiziellen Inhalt der Interaktion zu fördern. … Dieser Prozess wir als Kuvrieren bezeichnet werden. Viele von denen, die selten zu täuschen versuchen, versuchen im Regelfall zu kuvrieren“ (129). Diese Spannungsregulation hat ihr Pendant auf Seiten der Normalen, die in der Regel dem Stigma „sorgsame Nichtbeachtung“ entgegenbringen, eine Haltung, deren Verletzung (z.B. durch Kinder) mit Peinlichkeit verbunden ist. Entscheidend dabei ist, dass die Begegnung von Norm und Stigma im Normalfall nicht unbefangen abläuft, da sie ständiger Beobachtung ausgesetzt ist, die potentiell in einen permanenten Regress mündet: "Jede mögliche Quelle von Peinlichkeit für den Stigmatisierten in unserer Gegenwart wird zu etwas, wovon wir instinktiv spüren, dass er sich dessen bewusst ist, auch bewusst, dass wir uns dessen bewusst sind, ja sogar bewusst unserer Situation von Bewusstheit hinsichtlich seiner Bewusstheit; dann ist die Bühne bereitet für den unendlichen Regress wechselseitiger Rücksichtnahme, von dem uns die Meadsche Sozialpsychologie zwar das Wie des Beginnens, aber nicht das Wie des Aufhörens verrät" (29).
Aber auch auf der gesellschaftlichen Ebene findet Stigma-Management statt. Goffman beschreibt ausführlich die Gruppenbildungen von Stigmatisierten und ihre politische Vertretung durch Repräsentanten, Agenturen und Verbänden, die in den vergangenen Jahrzehnten z.T. starken Einfluss auf die Verschiebung von Identitätsnormen und Entstigmatisierung von Betroffenen gehabt haben (man denke nur an die Schwulenbewegung). Freilich ergeben sich daraus auch wieder typische Entfremdungsphänomene zwischen den Vertretern und den von ihnen repräsentierten („Erstens sind gruppenangehörige Führer, indem sie einen Beruf aus ihrem Stigma machen, verpflichtet, mit Repräsentanten anderer Kategorien umzugehen, wobei sie die Erfahrung machen, dass sie aus dem geschlossenen Zirkel ihrer eigenen Art ausbrechen. Statt sich auf ihre Krücken zu stützen, bringen sie es dahin, Golf mit ihnen zu spielen, und hören so vermittels sozialer Partizipation auf, repräsentativ zu sein für die Menschen, die sie repräsentieren“ (39).
Identitätsbildung entwickelt sich anhand gesellschaftlich vorfindbarer Bilder, Narrative und Interpretationsfolien, sie verläuft also sozial typisch und nicht im Wesentlichen individuell (das Ergebnis lässt sich mit Pierre Bourdieu auch als verkörperlichter Habitus verstehen). Die gesellschaftlichen Narrative folgen quasi der Stigmatisierung und gehen ihr voraus, sie bieten einen Fundus von Erfolgs-, Greuel- und Moralgeschichten, innerhalb dessen sich Stigma-Identität entwickeln kann: "So kann man sagen, dass stigmatisierte Amerikaner dazu neigen, in einer literarisch definierten Welt zu leben, wie ungebildet sie auch immer sein mögen. Wenn sie keine Bücher über die Situation von Personen ihrer Art lesen, lesen sie wenigstens Zeitschriften und sehen Filme; und wo sie dies nicht tun, lauschen sie den Reden örtlicher Schicksalsgenossen. Eine intellektuell aufgearbeitete Version ihres Standpunkts steht so für die meisten stigmatisierten Personen zur Verfügung" (37).
Auch wenn Goffman nicht direkt auf Psychotherapie zu sprechen kommt, ist ihr Platz dennoch benannt. Psychotherapeuten können den so genannten „Weisen“ zugerechnet werden, „Personen, die normal sind, aber deren besondere Situation sie intim vertraut und mitfühlend mit dem geheimen Leben der Stigmatisierten gemacht hat“ (40): genannt werden u.a. professionelles Heilpersonal, Polizei (!), aber auch Verwandte und persönlich Nahestehende.
Psychotherapie hat aus diesem Blickwinkel - so könnte man formulieren - nicht nur zur Voraussetzung, dass die Klienten sich selbst als irgendwie stigmatisiert erleben, sondern stellt selbst eine soziale Einrichtung dar, die ihre eigenen Anforderungen an das Identitätsmanagement der Beteiligten stellt, gerade auch, was die Unterscheidung von normal und stigmatisiert betrifft. Von Therapeuten wird daher auch in der Regel erwartet, sich (zumindest in Bezug auf das präsentierte Problem) als mehr oder weniger normal zu präsentieren. Vor diesem Hintergrund wäre interessant zu untersuchen, wie im Kontext von Institution (Praxis, Klinik etc.), Diagnostik, Auftragsklärung und konkreter Prozessgestaltung Stigma-Management innerhalb von Psychotherapieverläufen gehandhabt wird und an welchen Stellen diesbezügliche Schwierigkeiten auftauchen. Insbesondere in komplexeren Mehrpersonen-Settings (Paar- und Familientherapie, Hilfesysteme, klinische Arrangements) dürfte die Bedeutung solcher Fragen auf der Hand liegen.
Die Lektüre von „Stigma“ hilft, den sozialen Konstruktionsprozess von Normalität und Stigma besser zu verstehen, ohne unbedingt Hoffnungen zu stärken, dass ein tieferes Verständnis dieser Konstruktivität zur Aufhebung dieser Unterscheidung führen könnte. Wir können sicherlich etwas gegen konkrete Stigmatisierungen (und die damit verbundenen Diskriminierungen und Benachteiligungen) unternehmen, Goffman zeigt aber unsentimental und eindrucksvoll, dass die für die Identitätsbildung konstitutive Unterscheidung von Norm und Stigma damit nicht verschwinden wird. Und damit auch nicht die Daseinsberechtigung von Psychotherapie als Stigma-Management: „Zum Beispiel gibt es in einem gewichtigen Sinn nur ein vollständig ungeniertes und akzeptables männliches Wesen in Amerika: ein junger, heterosexueller protestantischer Vater mit Collegebildung, voll beschäftigt, von gutem Aussehen, normal in Gewicht und Größe und mit Erfolgen im Sport. … Jeder Mann, der in irgendeinem dieser Punkte versagt, neigt dazu, sich – wenigstens augenblicksweise – für unwert, unvollkommen und inferior zu halten.“ (158) Diesem Satz haben die 44 Jahre, die seit der Niederschrift vergangen sind, aller political corrextness zum Trotz nicht viel anhaben können, auch wenn man heute selbstverständlich das weibliche Pendant einschließen würde. Aus den dargelegten Gründen erscheint mir „Stigma“ immer noch eine Pflichtlektüre zu sein: auch für Psychotherapeuten.
(mit freundlicher Erlaubnis aus Kontext 1/2007)
Ein paar Informationen über Leben und Werk von Erving Goffman in Wikipedia
Ein kurzer Text zu Biografie und Wirkung von Goffman von Klaus M. Schmals (2006, PDF)
Und eine Präsentation (zur Antrittsvorlesung am Münsteraner Institut für Soziologie 2003)von Dirk Richter: Stigma der Krankheit - Zur Karriere eines soziologischen Begriffs (2006, PDF)
Verlagsinformation:
Körper-, Geistes- und Charakter-»Defekte« sowie Zugehörigkeit zu einer »falschen« Rasse, Nation oder Religion können als Stigmata gelten. Wir Normalen verhalten uns so, als ob stigmatisierte Personen nicht ganz menschlich seien und üben, wenn auch oft unbewußt, eine Vielzahl von Diskriminierungen aus, durch die wir ihre Lebenschancen stark beeinträchtigen. Wir konstruieren Theorien, welche die Inferiorität und Gefährlichkeit Stigmatisierter nachweisen sollen manchmal nur, um auf ganz anderen Differenzen - z.B. sozialen Klassendifferenzen - beruhende Animositäten zu rationalisieren.
Inhalt:
Vorwort
1. Stigma und soziale Identität
Begriffliche Vorklärungen
Seinesgleichen und Weise
Moralischer Werdegang
2. Informationskontrolle und persönliche Identität
Die Diskreditierten und die Diskreditierbaren
Soziale Information
Visibilität
Persönliche Identität
Biographie
Biographische Andere
Täuschen
Techniken der Informationskontrolle
Kuvrieren
3. Gruppenausrichtung und Ich-Identität
Ambivalenz
Professionelle Darstellungen
In-group-Ausrichtungen
Out-group-Ausrichtungen
Identitätspolitik
4. Das Ich und sein Gegenüber
Abweichungen und Normen
Der normale Abweichende
Stigma und Realität
5. Deviationen und Devianz
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