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Veranstaltungsbericht zur Berichtsübersicht
03.11.2008
Schlei-Symposium: „Multifamilientherapie – Möglichkeiten für Klinik und Schule"
Heinz Graumann, Schleswig: Ein systemisches Highlight ganz im hohen Norden

Eine Veranstaltung mit hochkarätigen ReferentInnen aus verschiedenen Ländern aus dem systemisch-therapeutischen Arbeitsfeld hier gleich um die Ecke in Schleswig besuchen zu können, erlebt man als Schleswig-HolsteinerIn oder gar NordfriesIn doch eher selten. Die Veranstaltung des Schlei-Klinikum am 26. und 27. September 2008 anlässlich des 10 jährigen Bestehens der Tagesklinik „Baumhaus“ der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig schaffte es, an zwei Tagen einen breiten Überblick über den für viele noch unbekannten Ansatz der Multifamilientherapie zu schaffen. Ulrike Brehme-Matthiesen, Leiterin der Tagesklinik Baumhaus, und Thomas Pletsch, Leiter der Abteilung kreative Therapien, hatten ReferentInnen aus verschiedenen Teilen Deutschlands, aus Dänemark und Großbritannien für dieses Symposium an die Schlei bringen und ein umfangreiches Programm zusammenstellen können, das die inspirierend vielen Möglichkeiten für die Arbeit mit Familiengruppen in Klinik, Schule und therapeutischem Kontext aufzeigen sollte.
Die VeranstalterInnen verstanden es, gleich zu Beginn am Freitagnachmittag die TeilnehmerInnen auf sehr kreative Weise auf das Thema einzustimmen. Mit einer unterhaltsamen Einstiegsmethode bildeten Ulrike Behme-Matthiesen und  Thomas Pletsch aus den zahlreichen TeilnehmerInnen ‚Familien’-Gruppen, die, aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten kommend, unter ihrer Anleitung unterschiedliche Rhythmen schlagen bzw. singen sollten. Nach kurzer Zeit entstand eine gut abgestimmte Rhythmusgruppe im Konferenzsaal.
Der Freitagnachmittag begann mit einem Vortrag zum Thema Erziehung von Wilhelm Rotthaus, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie. Er stellte auf eindrückliche Weise den Wandel in der Erziehung in den letzten Jahrhunderten dar. In dieser Rück-Schau schärfte er den Blick für die Aspekte, die heute in der Diskussion um Erziehung eine Rolle spielen. Unter den gegebenen sozialen und ökonomischen Entwicklungen haben wir es mit einer dramatischen Veränderung der Elternrolle und der Kinderrolle zu tun. Es sei – so brachte es Rotthaus auf den Punkt – nun nicht nur die Rede vom „Verschwinden der Kindheit“, sondern auch vom „Verschwinden des Erwachsenseins“. Er plädierte bei der Definition der erzieherischen Rolle als Vater oder Mutter für eine „gewaltfreie Beziehungskultur“, in der der Erwachsene nicht die Rolle des „Besser-Wissers“, sondern die des „Anders-Wissers“ oder bestenfalls des „Mehr-Wissers“ einnimmt.
Den Abschluss des ersten Kongresstages machte Jürgen Hargens. Der in Meyn bei Flensburg ansässige systemische Therapeut und Supervisor ist vielen durch seine zahlreichen Veröffentlichungen und Workshops bekannt. Er kam nicht allein, sondern brachte seinen Kollegen Hägar („den Schrecklichen“) mit, den er als einen der interessantesten systemischen Therapeuten verehrt und in wenigen prägnanten Comics den Teilnehmern vorstellte. Auf humorvolle und Augen zwinkernde Weise stellte Jürgen Hargens dar, was ihm (und dem Kollegen Hägar) nicht nur in Erziehung und in der Arbeit mit Familien wichtig ist: das Würdigen und Wertschätzen des anderen Menschen, ohne dabei sich selbst als TherapeutIn zu vergessen. Und natürlich das Ziel der KundIn im Blick zu behalten und seinen Teil dazu „beizusteuern“. (Und immer wieder wertschätzen und würdigen). Das hat auch viel mit Erziehung und mit Familien zu tun. Das hat mit dem Blick zu tun, mit dem wir Erwachsenen auf unsere Kinder, die LehrerIn auf ihre Kinder wie auf die SchülerInnen und die TherapeutInnen auf die jungen KlientInnen und die Familien schauen.
Das hat auch etwas mit „zu-trauen“, positivem „zu-muten“ und „zu-lassen“ im Umgang (nicht nur) mit Kindern zu tun.
Jürgen Hargens ließ die Teilnehmer mit seinen ungewöhnlichen Umdeutungen oft schmunzeln: ADHS das heißt: „Auch der hat Stärken“, Schwierigkeiten mit Kinder können eben auch als „Trainingssituation im Gelassenbleiben“ umdefiniert werden.
Der Samstag war der Darstellung verschiedener Multifamilientherapeutischer (MFT) Konzepte und Ansätze gewidmet.
Eia Asen ist wohl der bekannteste Vertreter des MFT-Ansatzes. Der gebürtige Berliner lebt seit 35 Jahren in London und leitet dort die im Herzen von London unweit des Hyde Park und Regent’s Park gelegene Malborough Clinic. Eia Asen unterstrich den multikulturellen Kontext seiner Arbeit in der Malborough Clinic in London.
Eindrücklich und sehr lebendig und mit verschiedenen Videosequenzen beschrieb er die Arbeit mit dem MFT-Ansatz in London. Eia Asen beruft sich auf Peter Laqueur, Gregory Bateson und Maria Luise Cohen. Allen TeilnehmerInnen konnten spüren und miterleben, dass und wie hier ein begeisterter Praktiker berichtete, der von seiner Arbeit nicht nur überzeugt, sondern auch begeistert ist. Und der Funke sprang über.
Die Möglichkeiten, die der MFT-Ansatz bietet, sind ungewöhnlich und vielfältig. Es werden in der Regel 6 bis 8 Familien mit ähnlichen Störungshintergründen zusammengebracht, die in regelmäßigen Abständen immer wieder zusammen kommen. Nicht „Multi-Problem-Familien“, sondern „Multi-Helfer-Familien“ bei denen sich verschiedenste Helfersystem die Klinke in die Hand geben. Diagnosen nach ICD-10 und DSM-IV spielen eine untergeordnete Rolle - die Familien „wählen“ ihre Diagnose gleichsam selber aus. Schizophrenie ist nicht sehr beliebt, merkte Asen an, eher schon Angst und Belastungsstörungen. Familien erleben sich nicht länger als passive TeilnehmerInnen einer Therapie, deren Defizite und Störungen ‚wegtherapiert’ werden sollen, sondern als aktive, kompetente Akteure, die sich nicht als hilflos begreifen, sondern als hilfreich und zwar für andere Familien, die in ähnlichen Situationen (fest-)stecken. Das Erfahrungswissen der Familien zählt. Sie sind ExpertInnen aus Erfahrung, sagt Eia Asen und ihre Erfahrungen werden von anderen Familien als nützlich und hilfreich erlebt. Das macht den anderen therapeutischen Kontext aus. Die TherapeutInnen-Rolle wird förmlich auf die Füße gestellt. Eia Asen spricht nicht von „Sitzungen“, sondern von „Stehungen“. Die TherapeutIn sitzt nicht, sondern geht, liegt, kreist um die Familien, ist wie eine „DirigentIn“ eines Orchesters der vielen Familien. In einigen Spiegelstrichen stellte Eia Asen die Vorzüge und Gründe für MFT zusammen: Förderung von Solidarität, Überwindung von Isolation und Stigmatisierung, Kennenlernen anderer Sichtweisen, positive Nutzung des Gruppendrucks, Wecken von Hoffnung, usw. Die Darstellung war überzeugend und inspirierend.
Michael Scholz, emeritierter Professor aus Dresden, stellte im Anschluss das Dresdner Modell der MFT bei jugendlichen KlientInnen mit Anorexie und mit sozialen und emotionalen Störungen vor. Auf der Grundlage von 10 Jahren Praxis und empirischer Studien des Universitätsklinikums in Dresden zeigte er eindrucksvoll, dass der MFT-Ansatz traditionellen Therapieansätzen überlegen ist. Positive und nachhaltige Veränderungen der intrafamiliären Beziehungen, der Befindlichkeiten der Mütter und der PatientInnen sind empirisch belegt. Das praktische Vorgehen erläuterte Scholz anhand ausgewählter Videosequenzen.
„Multifamilientherapie lässt das Kind im gewohnten sozialen Umfeld, stützt die Familie in ihren Beziehungen, verringert der Fremdunterbringung, spart Kosten, verringert die stationäre Verweildauer und hat bessere Langzeiterfolge.“ So lautete sein Fazit.
Den Vormittag beschloss die Präsentation des Teams des „Family Center Lovdal“ (Dänemark), Kirsten S. Hviid, Claus Bonde Andresen und Tryggvi Kaldan. Sie beschrieben den MFT-Ansatz im Rahmen ihrer „Family Classes“ im Kontext Schule. Ausgangspunkt der Arbeit sind Probleme wie Schulabstinenz, sowie Lern- und Verhaltensprobleme.
Die formulierten Ziele des Teams in der Schule sind, die Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus zu verbessern, den Schülern zu ermöglichen, in der Regelschule zu verbleiben (und nicht auf eine Sonderschule gehen zu müssen), die elterliche Autorität zu stützen, und die Inklusion für Schüler und die Eltern zu ermöglichen.
Ein ungewöhnlicher, aber viel versprechender Ansatz, bei dem Eltern an zwei Vormittagen in der Woche in den Klassen ihrer Kinder am Unterricht teilnehmen und mit den Lehrkräften und Kindern kooperieren. Das Dänische Modell funktioniert. Es hat dort viele FreundInnen und UnterstützerInnen gefunden und ist inzwischen in Dänemark sehr verbreitet. Manch einer fragte sich, ob dieses Vorgehen wohl auch an deutschen Schulen möglich wäre und ob unser Schulsystem für diese Art der Innovationen offen ist? Es wäre zu hoffen und an der Tagesklinik Baumhaus wird genau dies in Zusammenarbeit mit dem dänischen Team praktiziert.
Nach einer Mittagspause, in der die TeilnehmerInnen noch einige Strahlen der herbstlichen Sonne im Innenhof des Veranstaltungsgebäudes genießen konnten, gab es zur Vertiefung der verschieden Ansätze die Möglichkeit, zwischen fünf  Workshops auszuwählen:
Thomas Pletsch und Ingrid Ten Hoeve stellten das Konzept der „Themenorientierten Eltern-Kind-Gruppentherapie“ der Kinder- und Jugendpsychiatrie vor. Ulrike Brehme-Matthiesen, Kerstin Bock und Andre Nykamp gaben Einblicke in die Arbeit mit Familien in der Schule der Tagesklinik „Baumhaus“. Die ReferentInnen des Vormittags gaben den TeilnehmerInnen die Möglichkeit, in den jeweiligen Workshops ihre Ansätze genauer und vertiefend kennen zu lernen.
Allseits zufriedene Gesichter sah man am Ende der Veranstaltung. Mit Sicherheit war dies eine gelungene Veranstaltung, die einiges in Bewegung setzen wird und den Multifamilientherapie-Ansatz unter die Leute gebracht hat. Man kann auf die Folgen gespannt sein. Glückwunsch an die VeranstalterInnen.
Und wann gibt es die nächste Veranstaltung dieser Art hier im hohen Norden an der Schlei??

Heinz Graumann, Dipl.-Psychologe, Landesförderzentrum Sehen, Schleswig
mail: hegraumann@lfs-schleswig.de



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