Dörte Foertsch, Berlin:
Irgendwann im Herbst 2008 las ich in der DGSF-Mailingliste einen Hinweis über den bevorstehenden Internationalen Kongress der IFTA im März 2009 in Ljubljana, Slowenien. Seitdem unsere Kinder ausgezogen sind, bin ich reisefreudig geworden, mein erster Gedanke beim Lesen war neugieriger Art, denn ich war noch niemals in Slowenien und auch nicht in einem anderen Land des früheren Jugoslawien. Hier begann eine denkwürdige Reise durchs Internet, die dann in Zügen umgesetzt werden sollte. Der Titel des Kongresses erschien mir etwas kitschig: »Reconciling Differences: Can Family Therapy Help Heal the World?« Im damals noch vorläufigen Programm erschienen allerdings mehrere Themen und Workshops über Folgen von Traumata und Kriegserfahrungen und therapeutische Möglichkeiten. Ich dachte, dass die Wahl von Ort und Thema stimmig sein könnten. Also ließ ich meiner reiselustigen und durchaus kitschigen Neigung freien Lauf und meldete mich an. Dann bemerkte ich eine erste Irritation, kein Kollege um mich herum kannte die IFTA oder hatte von diesem Kongress gehört, Kollegen winkten ab, wenn ich fragte, ob sie Lust hätten, mitzukommen. Hatte ich mich für etwas angemeldet, was »politisch« oder »systemisch« nicht korrekt ist? Aber mein Mann freute sich, als ich ihn einlud, eine schöne Reise zu machen. Die Tagung selber interessierte ihn nicht, er ist Architekt und ziemlich skeptisch gegenüber Weltverbesserungstheorien, dafür aber interessiert an Städten. Er hatte schnell ein kleines altes Hotel in Ljubljana gebucht, mit einem gewissen Stolz, denn es gibt nicht sehr viele Übernachtungsmöglichkeiten in der historischen Altstadt. Meine zweite Irritation wurde ausgelöst durch eine sehr freundliche E-Mail-Bestätigung meiner Anmeldung, die mit sehr komplizierten Beschreibungen und Angeboten verbunden waren, die mir helfen sollten, an den Kongressort zu kommen: Ich solle unbedingt für einen Transfer von einem der Flughäfen Tickets bestellen, um nach Portorož zu kommen. Wo liegt Portorož? Was sind wir doch geografische Laien, globalisierte Ignoranten, Großraum- denker und undifferenzierte Europareisende. Ich las noch einmal die DGSF-Mail: Dort war Ljubljana als Ort angegeben, Portorož aber ist ein Ort an der kurzen Adriaküste Sloweniens, ein schwer gegen die Italiener im Zweiten Weltkrieg erkämpftes Stück Zugangsland zum Meer, zwei Stunden Zugfahrt und zwanzig Minuten Busfahrt entfernt von Ljubljana. Erste Schamgefühle. Daraufhin mussten wir umbuchen, Flug nach Wien, Besuch bei der großen Tochter, Zugreise über die Alpen bis Ljubljana, die Stadt anschauen und wei- terreisen ans Meer. In den Zügen konnte ich wie früher aus dem Fenster schauen, wie die Landschaften, Berge und Bahnhöfe vorbeiziehen, wunderschön, im letzten Waggon in den Kurven den ganzen Zug bis zur Lokomotive zu sehen, wie er sich durch die Höhen und Kurven und Täler ächzt, eine bezaubernde Landschaft, durch die der Zug sich pfeifend bis ans Meer herabschlängelte. Der Tagungsort ist eine Sünde, drei nebeneinander liegende, in der Jahreszeit leer stehende Hotels ohne Atmosphäre, Betonklötze. Kann Familientherapie der Welt helfen? Architekten können grausame Welten erschaffen. Zwölf Stockwerke vom Strand bis auf den Klippenrand, entlang einer plattgemachten Felsnase steht das Tagungshotel, klimatisierte Räume mit verschiebbaren Wänden gleicher grauer Farbe, ein Ort am Meer, der nicht mehr ist als ein beliebiger Ort. Wir bezogen ein Hotelzimmer in einem Gebäudekomplex, der an Marzahn oder Gropiusstadt erinnert, aber so sind sie, die Tagungsorte. Während der Eröffnungsveranstaltung mit Judith Landau, der IFTA-Präsiden- tin, und Bill Northey als Kongressverantwortlichen habe ich versucht, mich feierlich zu fühlen. Zdenka Čebašek-Travnik als Beauftragte für Menschenrechte in Slowenien sprach über die Situation von Familien zwischen Gewalt- und Kriegserfahrungen und verlorenen Menschenrechten in Slowenien, Branko Gacic wurde für seine Verdienste therapeutischer Arbeit mit traumatisierten Menschen geehrt. Zwischen den zuhörenden Teilnehmern und den Vortragenden auf der Bühne lag leider eine Distanz von mindestens zwanzig Metern, das Rednerpodium erschien einsam und verlassen gegenüber entfernten Zuhörerreihen. Anschließend gab es einen aufgelockerten Empfang mit herrlichen mediterranen Snacks, einige gelöste Gespräche mit mir unbekannten Menschen, Neugierde, wer wohl noch dabei sein wird. Zwei weitere deutsche Teilnehmer/-innen laut Liste, acht Teilnehmer aus Österreich, wie viele aus der Schweiz es waren, weiß ich nicht mehr, viele US-Amerikaner, Kanadier – Englisch als Hauptsprache ohne Übersetzung, ich fühlte mich fremd. Dann gab es ein zeitlich eng strukturiertes Programm von 8.30 Uhr morgens bis 18.50 Uhr. Teilweise wurden bis zu 16 Workshops parallel angeboten. Die Referent/-innen kamen aus allen Kontinenten und es fiel mir sehr schwer, mich bei dieser Vielfalt zu entscheiden. Am Donnerstag früh hörte ich mit etwa 18 anderen Menschen einer Amerikanerin zu, Lorie Lopez Charles, die über ihre Arbeit als Familientherapeutin in Uganda erzählte. Mich beschäftigte dabei die Frage, inwiefern kulturelle Unterschiede zu berücksichtigen sind oder ob man sie womöglich auch in respektvoller Art und Weise ignorieren können darf? Der zweite Beitrag des Workshops hatte mich eigentlich hierher gelockt: »A Cybernetic Analysis of the US/Iraq War«. Der Referent heißt Matt Morris und kommt aus New Orleans. Ein Sportstyp in legerem Anzug, voller Wissensdurst über Studien und Statistiken und vielleicht zu ehrgeizig und jung, um über ein solch komplexes Thema einen guten Überblick zu geben. Vor allem wurde meine Erwartung vollkommen enttäuscht, dass auch die US-Anteile reflektiert würden, handelt es sich doch um Kreisläufe und sich gegenseitig bedingende Einflüsse. Er verkörperte die mir vertraute US-amerikanische Arroganz mit Weltmachtüberlegenheitswissen. Der dritte Beitrag in diesem Workshop kam von zwei US-Amerikanerinnen, eine mexikanischer und die andere indischer Herkunft, über ein Thema, zu dem ich mir bislang wenig Gedanken gemacht hatte. Sie sprachen auf sehr persönliche Art über die Schwierigkeiten, als Migrantinnen für ihre im Heimatland verbliebenen alternden Eltern nicht so sorgen zu können, wie es in ihrer Kultur erwartet wird. Das hat mich nachhaltiger beschäftigt. Eine gemeinsame Überschrift gab es für diesen Workshop allerdings nicht, was für den ganzen Kongress in gewisser Weise typisch war. Am späteren Vormittag hielt Carlos Sluzki einen interessanten Vortrag über die unterschiedlichen Bedeutungsgebungen von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen im Zusammenhang mit Gewalt und Folter und aus Südafrika berichtete Madhubala Kasiram über ihre Arbeit mit HIV/Aids-infizierten Menschen. Das war mehr ein Bericht als eine Anklage oder auch Analyse, es wurde nur annähernd deutlich, welche Dimension dieses Problem in Südafrika mittlerweile bekommen hat. Am Nachmittag hatte ich das Glück, in einem der für mich besten Workshops zu landen. Maurizio Andolfi moderierte und interviewte Familientherapeuten aus Belgrad, Neuseeland (aber ehemals Kroatien), New York (aber ehemals Sarajewo), Skopje und Ljubljana, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Ei- gentlich war es ein sehr persönlicher und kritischer Austausch über die Zeit nach 1991, die alle sehr unterschiedlich erlebt hatten. Besonders berührt war ich von den sehr persönlichen Erzählungen über die therapeutische Arbeit mit kriegs- traumatisierten Menschen, während der die Therapeuten selbst jeden Tag mit der Angst vor Bombenangriffen zur Arbeit gehen mussten und die Belagerung und Einkesselung, zum Beispiel in Sarajewo, selbst miterlebten und bewältigen mussten und in diesem Spannungsfeld therapeutische Arbeit leisteten. Im Workshop ergab sich unter den Therapeuten eine spannende Diskussion über einsetzende Vorurteile und Diskriminierungen, wenn man zu einer nun ausge- machten Nation zuzuordnen ist, der in solch einer Situation Schuld zugewiesen und Vorwürfe gemacht werden. Unwiderruflich ist man dieser Identifizierung ausgesetzt, was automatisch zur Fortführung von Krieg und Diskriminierung führt. Dieses Gespräch ging mir unter die Haut. Durch diesen Workshop kam ich in eine sehr eigene nachdenkliche Stimmung über die Zeit der deutschen Angriffe während des Zweiten Weltkriegs, an denen mein Großvater als Wehrmachtsgeneral beteiligt war. William Northey und Arlene Vetere luden als EFTA-Vertreter zu einer Diskussion über Weiterbildungsstandards in Familientherapie und internationale Trends in Therapie und Supervision ein. Das war nicht so viel Neues, vor allem weil es nur Insider interessierte. Die Veranstaltung »Integrating Body-Mind-Spirit« von Zana Marovic aus Johannesburg fiel aus, keiner wusste, wo der gute Mensch war, ob er überhaupt angekommen war oder gar nicht eingeladen … einer von 16 parallel angebotenen Workshops, der nicht stattfand. Ich bin mit meinem Mann abends nach Triest in ein wunderbares kleines, verstecktes Restaurant am Hafen gefahren und habe den Fisch und Wein und seine Erzählung vom Tag in Kroatien genossen. Am Freitag konnte ich Jaakko Seikkula aus Finnland ein erstes Mal erleben. Sein Thema war »Dialogue as the Skill of Answering in the Present Moment of Family Session«. Ich hatte hohe Erwartungen und war überrascht, dass er über mir selbstverständliche Basics sprach. Ich schaute mich im Publikum staunend um, es kamen überraschend viele Fragen, die mir in einem systemischen Kontext längst beantwortet schienen. Systemische Grundhaltungen wirken doch nicht so verbreitet. Nach der Mittagspause hörte ich einem unverschämten Vortrag von David Schnarch zu, Paartherapeut und Leiter eines Instituts in Evergreen, USA. Welch traditionalistische und revisionistische Thesen über Sexualität, Paare, Gewalt, innerfamiliäre Gewalt! Ich habe den Vortrag kaum ausgehalten, er war voller Anschuldigungen an Menschen, die scheinbar unabhängig von ihren gesellschaftlichen Kontexten einfach pervers und unfähig sind – als Hauptvortrag einfach daneben, ich wäre am liebsten hinausgegangen. Aus Hamburg war Isolde de Vries, eine Psychoanalytikerin, eingeladen, eine Therapie vorzustellen, die sie schon über einen längeren Zeitraum mit Kollegen aus Japan, Israel, Argentinien und den USA besprochen hat. Ich fand es eine interessante Idee, einen interkulturellen kollegialen Austausch kontinuierlich, zum Beispiel im Internet, aufzubauen, die Gruppe trifft sich einmal jährlich an verschiedenen Orten, um ihre therapeutische Arbeit zu besprechen. Wir Teilnehmer waren also als weitere Diskutierenden eingeladen, eine interessante Therapie zu beleuchten. Es ging um eine Therapie mit einer Enkelin eines Täters aus dem Nationalsozialismus, und mir wurde klar, wie eine psychoanalytische Therapie die Schuldgefühle in die Generationen erst recht hineinbringt, anstatt diesen Enkeln ein heutiges gegenwärtiges und verantwortliches Tun nahe zu bringen. Ich war wieder mit meinem Großvater beschäftigt, und ich habe spontan, aufgeregt mit Herzklopfen und anfänglichen Tränen erzählt, dass es ein Glück ist, an diesem Ort in Sicherheit zu sein, die Sicherheit zu empfinden, dass ich erzählen kann, Enkelin eines Wehrmachtgenerals zu sein und an diesem Ort seiner Gräueltaten anderen ohne Hass zu begegnen. So kamen in diesen Tagen in mir unerwartet sehr persönliche Gefühle zum Vorschein, auch wenn der gesamte Kongress seltsam »amerikanisch« oberflächlich blieb. Die Zugfahrt von dort nach Venedig ist zauberhaft, zuerst an der Küste entlang geht es später durchs Hinterland des Veneto, kleine Dörfer, in denen die Hühner an den Bahnsteigen auf- und ablaufen. Zwei sonnige Tage in Venedig waren nahe liegend, und der Rückflug nach Berlin reibungslos. Es war eine sinnvolle, sinnliche Reise.
(Mit freundlicher Erlaubnis aus KONTEXT 2009 - Jg. 40, Heft 3, S. 294 – 298)
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